Читать книгу Amalien Jahrhundert (Иосиф Антоновч Циммерманн) онлайн бесплатно на Bookz (9-ая страница книги)
bannerbanner
Amalien Jahrhundert
Amalien Jahrhundert
Оценить:
Amalien Jahrhundert

3

Полная версия:

Amalien Jahrhundert

Amalia und David lebten unter Bedingungen, in denen das Leben keine Worte, sondern Taten verlangte. Sie hatte einen Schweinestall, der weder Wochenenden noch Feiertage kannte – ständige Geburten, Fütterung, Pflege. David hatte eine endlose Reihe von Arbeiten: mal Traktoren reparieren, mal säen, mal mähen, mal Getreide ernten. Und dennoch, trotz diesem nie endenden Kreislauf von Aufgaben, schlich sich zwischen ihnen etwas Besonderes ein.

Davids Liebe zeigte sich nicht in Gedichten oder Blumen, sondern in seinen Taten. Er teilte mit Amalia Nahrungsmittel und Geld, besorgte seltene Medikamente für ihren kleinen Bruder. Er half ihr oft bei der schweren Arbeit, selbst wenn er selbst erschöpft war.

Amalia bemerkte diese Fürsorge, aber sie erkannte ihren wahren Wert nicht sofort. Als die Arbeit auf den Feldern mit dem Sonnenuntergang endete, wartete David stets bei den Toren des Schweinestalls auf sie. Er begleitete sie bis zum Wohnheim und achtete darauf, dass ihr auf dem einsamen, dunklen Weg nichts passierte.

– Umwerbst du mich etwa? – fragte sie eines Tages lächelnd.

David, wie ein Junge, wurde sofort verlegen. In der Dunkelheit blieb seine glühende Röte unbemerkt.

– Wie kommst du auf so etwas? – murmelte er, bemüht, gleichgültig zu wirken. – Ich schreibe dir doch keine Briefe und lade dich nicht ins Kino ein. Ich will nicht, dass dich auf dem Weg Hunde beißen. Siehst du, wie viele Streuner hier herumstreunen?

Dieser Satz, der mit einer aufgesetzten Gleichgültigkeit ausgesprochen wurde, blieb in Amalias Erinnerung. Sie spürte darin mehr als nur Fürsorge um ihre Sicherheit. Es war Liebe – leise, unaufdringlich, ohne viele Worte. Sie fand ihren Ausdruck in jeder Handlung, in jedem Blick. Und eines Tages verstand Amalia das.

David war nicht der perfekte Prinz, von dem Amalia in den seltenen Momenten des Träumens träumte. Er war weit entfernt von ihrem Ideal – nicht besonders groß, neun Jahre jünger als sie, noch ganz jung in den Augen einer reifen Frau. Und doch blieb seine Fürsorge und seine stetige Präsenz nicht unbemerkt.

Amalia lastete der Gedanke, David mit einer direkten Ablehnung zu verletzen. Er war ihr Landsmann, jemand, der ihr durch die schwersten Zeiten geholfen hatte. Sein gutes Herz und seine Bereitschaft, immer zu helfen, weckten ihren Respekt, selbst wenn ihr Herz nicht die gleiche Zuneigung erwiderte. Und auch die Träume von einem starken Prinzen, der sie in eine märchenhafte Zukunft entführen würde, wurden immer flimmernder.

David hingegen gab nicht auf, um ihr Herz zu erobern. Er drängte sie nicht, stellte keine Forderungen, aber er zog sich auch nicht zurück. Seine ruhige, unaufdringliche Präsenz wurde für Amalia zu etwas Gewohntem, wie ein Sonnenstrahl, der durch den Morgennebel bricht.

Eines Tages, in einem seltenen Moment der Ruhe in ihrem endlosen Arbeitsstrom, sprach er das Wichtigste an:

– Ich werde warten, bis du bereit bist, meine Frau zu werden, – sagte er fast flüsternd, als ob er Angst hätte, sie mit seinen Worten zu erschrecken.

Amalia war von dieser Aussage überrascht. Ihr Lächeln zuckte kurz, aber sie fasste sich sofort wieder.

– Du musst erst in der Armee dienen, – antwortete sie mit leichter Diplomatie, als ob sie ihm einen weiten Horizont öffnete, – und dann wird man sehen.

Ihre Worte klangen wie eine sanfte Ablehnung, aber in ihnen lag ein Funken Hoffnung. Für David war das alles, was er brauchte. Er verstand, dass sein Weg zu ihrem Herzen noch nicht zu Ende war, aber auch nicht verschlossen. Jetzt wusste er: Er hatte Zeit, zu beweisen, dass er ihrer Liebe würdig war.

Geologische Untersuchungsarbeiten auf dem Gebiet der Kolchose brachten Maria und Emilia Leis die Ehe, aber auch Unglück. Die ersten Bohrungen zeigten, dass in der Steppe nicht tief liegende, große Grundwasservorkommen vorhanden waren. Das Wolgagebiet galt als die zweite Kornkammer der UdSSR nach der Ukraine. Die Leitung der deutschen Republik hatte sich ein sehr hohes Ziel gesetzt: den Weizenanbau zu erreichen oder sogar zu übertreffen. Die Lösung dieses Problems sah man in der Erweiterung und Erschließung neuer Ackerflächen durch Bewässerung. Die Leitung der Kolchose „Schmied des Sozialismus“ erhielt ebenfalls eine Anweisung von oben: So schnell wie möglich alle ungenutzten Flächen zu erschließen.

– Können die da nicht lesen? – empörte sich Nina Petrowna offen. – Die Geologen haben doch gewarnt, dass dieses Wasser salzig ist und nicht für den Ackerbau geeignet.

Niemand in der Leitung der Kolchose widersprach ihr damals…

Die nächtliche Stille im Männerwohnheim wurde plötzlich durch das unerwartete und unpassende Erscheinen von Amalia zerrissen. David konnte ihre Silhouette im schwachen Licht der Petroleumlampe gerade noch erkennen, als sie, zitternd, zu ihm lief. Die Wärme ihrer Umarmung und die Feuchtigkeit der Tränen, die in sein Hemd eindrangen, überraschten ihn.

– Nina Petrowna wurde verhaftet, – wiederholte sie, keuchend vor Tränen.

Diese Worte klangen wie ein Donnerschlag am klaren Himmel. David drückte sie wortlos fester an sich, fühlte, wie ihre Verzweiflung ihn ergriff. In seinem Kopf mischten sich Fragen und Wut: Warum? Wieso?

Amalia zitterte. Es schien, als ob sie das Geschehene noch nicht ganz begriffen hatte.

– Wer… hat das getan? – fragte David rau, als er sich leicht von ihr abwandte, um ihr Gesicht zu sehen.

– Aus dem Kanton, – hauchte Amalia, atemlos. – Es heißt Sabotage… Sie hat den Befehl zur Erschließung des Landes nicht ausgeführt.

David spürte, wie Zorn in ihm hochkochte. Sabotage? Nina Petrowna? Diese Frau, die ihr Leben der Arbeit gewidmet hatte und die Kolchose über alles stellte? Er wusste, wie sie diskutiert hatte, die Argumente der Geologen verteidigte, aber ihre Worte stießen auf eine Mauer von oben.

– Das ist ein Fehler, – sagte er fest, obwohl er wusste, dass Worte die Realität nicht verändern würden.

Amalia hob ihren Blick, ihre tränengefüllten Augen schienen eine stumme Bitte zu senden.

– David, was wird jetzt aus uns? Aus der Kolchose?

Er wusste keine Antwort. Aber als er sie ansah, fühlte er, dass er etwas unternehmen musste.

– Wir lassen sie nicht allein, – sagte er, seine Stimme war nun fest wie Stahl. – Wir finden heraus, wo sie ist. Wir werden herausfinden, was zu tun ist.

Die Worte klangen bestimmt, obwohl er im Inneren wusste, dass ihre Möglichkeiten gegen das System minimal waren. Aber der Blick von Amalia, ihr Vertrauen in ihn, gab ihm das Gefühl, dass er jetzt mehr als nur ein Nachbar oder Freund sein musste. Er sollte ihre Stütze sein, derjenige, auf den sie sich verlassen konnte.

Draußen begann es zu dämmern. Ein neuer Tag über der Steppe brachte Stille mit sich, aber in jedem Bewohner der Kolchose „Schmied des Sozialismus“ regte sich Unruhe.

Früh am Morgen, von seinen nächtlichen Gedanken aufgewühlt, eilte David in die Werkstatt, wo er normalerweise den Leiter der MTS, Onkel Anton, finden konnte. Er war einer der wenigen Erwachsenen, denen David vertraute. Der junge Mann stürmte in den Raum, in dem die Mechaniker an einem Traktor arbeiteten, und ohne auf eine Antwort zu warten, platzte es aus ihm heraus:

– Onkel Anton, warum?!

Der Werkstattleiter hob den Kopf von den Teilen, warf David einen strengen Blick zu und legte wortlos einen Finger auf die Lippen. Seine ernste Geste war ausdrücklicher als jedes Wort. David erstarrte sofort und spürte, wie kalter Angstschweiß ihn durchzog.

Anton richtete sich schweigend auf, legte seine Werkzeuge in die Kiste und ging, ohne sich umzudrehen, zum Ausgang, wobei er David mitten in der Werkstatt zurückließ. Alle um ihn herum taten so, als sei nichts passiert, und der Klang von Metallklirren und Hämmern erfüllte erneut den Raum.

Niemand wollte über Nina Petrowna sprechen. Ihr Name schien verboten worden zu sein. Die Leute vermieden sogar Flüstergespräche, aus Angst, dass jedes unvorsichtige Wort bis zu denen gelangen könnte, die unnötige Fragen stellen könnten.

Im Dorf herrschte bedrückende Stille. Jeder wusste, dass etwas Ernsteres passiert war, aber niemand wagte es, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. David verließ die Werkstatt, ballte die Fäuste. Ihn ergriff ein Gefühl von Hilflosigkeit und Wut. Er wusste, dass diese Angst, die die Leute zum Schweigen brachte, schlimmer war als jeder Befehl.

Die Versammlung der Sowchosenbewohner war für den Morgen angesetzt. Die Menschen versammelten sich mit Besorgnis vor dem Verwaltungshaus, viele ahnten, dass die Nachrichten ernst sein würden. Der erste Sekretär des Rayon-Komitees der WKP(b), ein strenger Mann mit finsterem Blick, stieg auf die improvisierte Tribüne. Nach der formellen Begrüßung verkündete er:

– Wegen der personellen Umstellungen wird die Leitung der Sowchose künftig ein neuer Direktor übernehmen.

Diese Worte fielen wie ein Donnerschlag. „Direktor“ – ein neues Wort für sie, fast wie ein Fremdwort, das plötzlich in ihre gewohnte Welt eindrang. Die Menschen tauschten Blicke aus, und einige flüsterten einander zu: „Was bedeutet das? Wie wird es jetzt weitergehen?“

Auf die Tribüne trat der neue Direktor – ein großer Mann mit durchdringendem Blick, in einem strengen Anzug. Er stellte sich knapp und mit sicherer Stimme vor und ging sofort zur Sache, indem er die „Anweisungen von oben“ verlas. Es war klar, dass dieser Mann nicht gekommen war, um Kompromisse zu suchen.

Nach der Versammlung begann die Ausgabe der offiziellen Dokumente. David, der in der Schlange mit anderen jungen Männern stand, erhielt einen weißen Umschlag aus den Händen des neuen Chefs. Auf der Vorderseite stand deutlich: „Vorladung“.

– Bereiten Sie sich auf den Dienst vor, junger Mann, – sagte der Direktor trocken und hielt Davids Blick, als wollte er ihn genau mustern.

David nickte langsam, obwohl ihm sofort viele Gedanken durch den Kopf schossen. Dienst? Jetzt? Wo doch alles im Leben wieder aus den Fugen geraten war?

Er ging zu Amalia, die abseitsstand, und reichte ihr wortlos die Vorladung. Sie las sie schnell, aber ohne Regung, nur ihre Lippen pressten sich fester zusammen.

– Du hast jetzt deine eigene Front, – sagte sie, bemüht, ihre Stimme zu kontrollieren.

David nickte. Er wusste, dass nun der Moment gekommen war, in dem ihre Wege vorübergehend auseinander gingen, und es würde von seiner Stärke und seinem Willen abhängen, wie er zurückkehren würde. Und innerlich brannte nur ein Wunsch – so schnell wie möglich zurückzukommen, um wieder bei ihr zu sein.

David war tatsächlich achtzehn Jahre alt geworden, und diese Tatsache war schon lange kein Geheimnis mehr. Er hatte sich gezwungen, sein wahres Alter ehrlich und ohne Ausflüchte zuzugeben. Das Geheimnis hatte Nina Petrowna aufgedeckt, die immer auf Ordnung bedacht war und für alles, was ihre Schützlinge betraf, eine offizielle Bestätigung verlangte.

Nach dem Treffen im Jahr 1932 mit Davids Mutter und Stiefvater auf der Messe stellte sie eine offizielle Anfrage in sein Heimatdorf Müller. Bald kam eine Kopie aus dem Kirchenbuch, in dem alles schwarz auf weiß vermerkt war. Noch am selben Tag rief sie David in die Verwaltung.

– Weißt du, was mir für die Nutzung von Kinderarbeit droht? – fragte Nina Petrowna streng und schob ihre Brille an die Nasenspitze.

David stand da, schuldig von einem Bein aufs andere tretend, obwohl er sich kaum ein Lächeln verkneifen konnte.

– Aber in den ersten Jahren habe ich doch gar nicht gearbeitet, – scherzte er, die Augen senkend, – ich habe hauptsächlich gelernt…

Ihr Gesicht zuckte. Es schien, als würde sie gleich lachen, doch dann beherrschte sie sich sofort wieder.

– „Gelernt hat er!“ Aber durch den Flur bist du trotzdem immer mit der Schaufel gerannt. Weißt du, wie viele graue Haare du mir wegen dir beschert hast?

Statt zu antworten, zuckte er nur mit den Schultern, und Nina Petrowna, die die Papiere beiseiteschob, legte plötzlich, wie eine Mutter, fürsorglich ihre Hand auf seine Schulter.

– Na gut, David. Aber jetzt bist du erwachsen. Du wirst für dich selbst verantwortlich sein müssen.

Diese Worte hatte er sich gemerkt. Sie klangen wie ein Rat, der nun aktuell wurde, da er in seinen Händen die Vorladung zum Militärdienst hielt. „Selbst verantwortlich sein“ – dieser Satz hallte in seinem Kopf, wie der Klang einer Glocke, die daran erinnerte, dass die Kindheit endgültig vorbei war.

***

Es ist schwer, sich David Schmidt als Soldaten vorzustellen. Und nicht etwa, weil ihm die Uniform nicht stand – im Gegenteil, in der Uniform sah er beeindruckend aus. Die breite Brust und die muskulösen Arme machten seinen Körper fast zu einer Statue, als wäre er aus starkem Stein gemeißelt. Die geringe Körpergröße mit kurzem Oberkörper und kräftigem Nacken ging harmonisch über in die mächtigen Schultern und den breiten Brustkorb. Die schmale Hüfte und die festen Oberschenkel, die wie aus Stein gemeißelt wirkten, betonten seine natürliche Kraft. Die stämmige Figur von David erweckte Respekt, und die kurzen, quadratischen Hände mit hervorstehenden Venen und beeindruckenden Fäusten verrieten, dass er wohl in der Lage wäre, jeden mit einer Hand zu besiegen.

Auch sein Gesicht war nicht ohne markante Schönheit: die dunkle Haut, die runden Wangen, die leuchtend grünen Augen, die große gerade Nase und die fleischigen Lippen gaben ihm das Aussehen eines Menschen, bei dem Einfachheit mit Zuverlässigkeit verschmolz.

Doch trotz all dessen war es schwer, sich David Schmidt als Militär vorzustellen. Warum? Weil hinter dieser mächtigen Statur die Seele eines Friedensapostels steckte. Gutmütig, sanft und ruhig, konnte er nicht streiten. Die Nachbarn aus der Kolchose erinnerten sich nur Gutes an ihn – niemand hatte David jemals in einen Streit gesehen, kein Krach konnte ihn in seinen Strudel ziehen. Man respektierte ihn nicht wegen seiner Stärke, sondern wegen des sanften Lichts, das von ihm ausging, wie von einem Menschen, der bereit war zu helfen, zuzuhören und zu verstehen.

David musste in der Armee in der Artillerie dienen – als Fahrer eines Zugpanzers „Komintern“, hinter dem ein imposser 122-mm-Geschütz zog. Die Technik fügte sich schnell in seine Hände – hinter dem Steuer fühlte er sich sicher und ruhig. Zwei Jahre Dienst vergingen für ihn wie im Flug, wie ein Traum, in dem es weder das Donnern der Kanonen noch die erschöpfenden Märsche gab. Alle seine Gedanken waren zu Hause, im Heimatdorf, wo Amalia geblieben war. Bevor er in die Armee ging, hatte sie ihm versprochen, seine Frau zu werden, sobald er zurückkehrte.

Doch im Herbst 1939 wurde der gewohnte Ablauf des Dienstes gestört. An einem Tag wurde Davids Regiment in Alarmbereitschaft versetzt, und schon unter dem Deckmantel der Nacht überquerten sie die polnische Grenze. Der Artillerie-Zugpanzer, den David steuerte, fuhr langsam nach Lemberg. Hier, unter den Lichtern einer fremden Stadt, verlas man den Rotarmisten die offizielle Verfügung der Sowjetregierung, dass sie „das Leben und Eigentum der Bevölkerung der Westukraine und Westbelarusslands unter ihren Schutz stellen sollten“.

– Na, jetzt ist die Demobilisierung hundertprozentig sicher! – rief David erleichtert aus, als der offizielle Teil beendet war. Sein Glaube an eine baldige Rückkehr nach Hause war so stark wie er selbst.

Er war vergeblich froh gewesen. Fast ohne Pause erhielten ihre Einheiten den Befehl, weiterzuziehen – die Völker des Baltikums zu befreien. Die Operation erinnerte mehr an eine Reise oder, wie ihr Kommandeur es nannte, an einen „kulturellen Krieg“. Die Soldaten bewegten sich auf den Straßen, kaum Schüsse waren zu hören, und sie wurden lediglich von misstrauischen Blicken der Einheimischen begleitet.

Bei einer Rast nahe der Stadt Tartu fiel Davids Blick zufällig auf eine zerfledderte Broschüre am Straßenrand. Als er sie aufhob, stellte er fest, dass es sich um eine Gedichtsammlung handelte, deren Autor ihm unbekannt war. In der kurzen biografischen Notiz wurde erwähnt, dass der Verfasser der Dichter Igor Sewerjanin war, der aus Russland nach Estland emigriert war. David, der der Poesie bisher fernstand, war überrascht, wie tief ihn die Verse eines der Gedichte berührten:

В пресветлой Эстляндии, у моря Балтийского,Лилитного, блеклого и неуловимого,Где вьются кузнечики скользяще-налимово,Для сердца усталого – так много любимого,Святого, желанного, родного и близкого!

(In des Lichts Estland, an der Ostsee Baltika, Lilithartig, blass und nicht greifbar, Wo Heuschrecken flimmernd-gleitend tanzen, Für das müde Herz – so vieles geliebtes, Heiliges, ersehntes, vertrautes und nahes!)

David betrachtete die Zeilen lange, als ob sich darin ein verborgener Hinweis befände.

– Eine seltsame Sache, – dachte er. –Mich, obwohl ich ein Deutscher bin, zieht es unwiderstehlich zurück an die Wolga, während ein russischer Dichter die Küste der Ostsee besingt. Bedeutet das, dass Begriffe wie ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ weder von Blut noch von Geburtsort abhängen …?

In Litauen, Lettland und Estland mussten die Artillerieschlepper ihre Geschütze nicht einmal in Stellung bringen. Alle Feldzüge beschränkten sich auf Märsche durch Städte, in denen niemand Widerstand leistete. Der Oktober ging in den November über, doch von Entlassung sprach niemand, und Fragen zu diesem Thema wurden als Disziplinarverstöße gewertet.

Am 30. November kam ein neuer Befehl – Krieg gegen Finnland. Die Kommandeure hatten offenbar darauf gewartet, dass der Winter die Sümpfe Süd-Finnlands gefrieren ließ, damit sie passierbar wurden. Doch in ihren Plänen hatten die „klugen Köpfe“ die beißende Kälte des Nordens nicht bedacht, die die Schwierigkeiten dieses Feldzuges noch verschärfte. Unter den harschen Bedingungen starben Hunderte von Rotarmisten in der gefrorenen Erde Kareliens, und Tausende kehrten verstümmelt zurück, mit erfrorenen Händen, Füßen oder Ohren.

David rettete sein Schlepper, in dem sich stets ein warmer Winkel fand, und die robusten Filzstiefel, die ihm wie durch ein Wunder kurz zuvor zugefallen waren. Der Winter zog sich über drei lange Monate hin, doch im März endete der Krieg. Er wurde als „Winterkrieg“ bekannt, und David … blieb weiterhin im Dienst.

Der Wehrdienst zog sich in die Länge. Für vorbildliche Pflichterfüllung und Disziplin wurde ihm, einem der Ersten in der Einheit, ein neuer Rang verliehen, der in der Roten Armee erst kürzlich eingeführt worden war. Nun war er Gefreiter Schmidt, doch dieser Titel wärmte seine Seele wenig. Das vierte Jahr des Dienstes neigte sich dem Ende zu, und David träumte mit jedem Tag mehr von der Heimat, wo Amalia auf ihn wartete.

David kehrte spät im Frühling 1941 in die Sowchose zurück. Voller Freude und Aufregung lief er als Erstes zum Schweinestall. Auf dem Weg dorthin rief er laut vor Glück:

– Amalia!

Seine Stimme hallte über den Hof. Aus dem dunklen Torbogen trat eine vertraute Gestalt. David lief sofort zu ihr, zog sie in seine Arme und fragte, stockend vor Aufregung:

– Wirst du jetzt endlich meine Frau?

Amalia lächelte und sah ihm direkt in die Augen:

– Ja!

– Den Ehering schmiede ich dir selbst! – erklärte er entschlossen.

– Wоzu? – fragte sie erstaunt.

– Das gehört sich so, glaube ich, – meinte David verlegen.

– Aussteuer ist auch üblich, und die habe ich nicht, – lachte Amalia und strich ihre hellbraune Flechte aus dem Gesicht. – Dazu noch ein kranker Bruder obendrauf. Wo sollen wir überhaupt wohnen?

David ließ sich nicht beirren:

– Ich regle alles im Büro. Hier habe ich schon eine ganze Straße mit neuen Häusern gesehen!

Doch bei der letzten Frage zögerte er einen Moment:

– Ist Nina Petrowna zurück?

Amalia schüttelte schweigend den Kopf, und in ihrem Blick lag ein Schatten des Verlusts …

Aus der Verwaltung kehrte David finster zurück. Ein Haus hatte man ihm nicht gegeben, nicht einmal eine Ecke im Gemeinschaftswohnheim war frei. Auch Zeit zum Ausruhen nach der Armee und den Kriegen gab es nicht. Die Aussaat war in vollem Gange, und jede Arbeitskraft war von unschätzbarem Wert. David wurde sofort auf das entlegenste Feld geschickt, wo sie Brunnen für ein neues Bewässerungssystem bohrten.

Spät am Abend, nachdem er sich in Zivilkleidung umgezogen hatte, machte er sich auf, um Amalia von der Arbeit abzuholen. Sie war gerade dabei, Gerste für die Schweine zu mahlen. Im schwachen Licht einer Glühbirne schaufelte sie geschickt das Korn zusammen. Ihr gerötetes Gesicht strahlte vor Gesundheit und Wärme, und aus dem Kopftuch hatten sich blonde Zöpfe gelöst. Plötzlich spürte David, wie etwas in ihm aufwallte – etwas mehr als nur Freude.

Unwillkürlich trat er zu ihr, umarmte sie fest, als hätte er Angst, sie könnte in der Nacht verschwinden, und küsste sie zum ersten Mal richtig – leidenschaftlich und aus tiefstem Herzen.

Diese Nacht verbrachten sie zusammen. Sie lagen hinter der Getreidemühle auf einer Schicht verstreuten Korns und träumten davon, wie sie ihr gemeinsames Leben aufbauen und Kinder bekommen würden. Es war ihr einziger Moment des Glücks, den die Zeit davontrug…

Am nächsten Morgen wurde David auf Neuland geschickt, zwanzig Kilometer vom Kolchos entfernt. Die Arbeit war zermürbend, und die Heimkehr war ein seltenes Privileg. Doch auch dieser Alltag wurde Ende Juni unterbrochen.

Eines Tages tauchte ein Bote auf dem Feld auf. Martin, Amalias schwächlicher kleiner Bruder, brachte die Nachricht mit einer knarrenden Kutsche: Die Deutschen hatten die Sowjetunion angegriffen. David und ein weiterer Maschinist wurden zum Dorfsowjet beordert.

Am nächsten Tag standen vor dem Dorfsowjet die qualmenden Motoren von Lastwagen, und eine Menschenmenge von Einberufenen drängte sich dort. Angehörige verabschiedeten sich, weinten und umarmten sich. David fand Amalia in der Menge. Sie hielt seinen Rucksack fest umklammert.

– Warum zitterst du? – fragte er und strich sanft über ihre Schultern.

– Ich habe Angst, Davidchen, – flüsterte sie mit zitternder Stimme. – Lewitan hat doch gesagt, dass dies ein Großer Vaterländischer Krieg ist. Ich habe Angst, dass es für lange Zeit sein könnte.

– Alles wird gut, – versuchte er, mit fester Stimme zu sprechen. – Der Krieg wird schnell vorbei sein. So wie im Baltikum. Ich komme zurück, bevor die Winterfurche beginnt.

Amalia zögerte, senkte den Blick und sagte leise:

– David… Ich bin schwanger.

Er erstarrte, das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Einen Moment lang sagte er nichts, dann umarmte er sie fest:

– Umso mehr. Wir dürfen uns mit diesem Krieg keine Zeit lassen. Ich komme zurück, bevor das Baby da ist, das verspreche ich.

***

Die Einberufenen aus dem Kanton Selman wurden über den Bahnhof in Saratow an die Front geschickt. Auf dem Platz vor dem Bahnhof hielt man sie über zwei Wochen fest. Die Soldaten schliefen unter freiem Himmel und vertrieben sich die Zeit, während sie auf Befehle warteten. Mehrmals erhielten sie den Befehl, in die Züge einzusteigen, doch im letzten Moment wurde er widerrufen. Erst Mitte Juli wurden sie schließlich in Güterwaggons verladen und in den Süden geschickt.

Diese Nachricht rief Verwunderung hervor. Der Krieg tobte im Westen, aber sie wurden immer weiter ins Landesinnere transportiert.

Die militärische Einheit wurde in einem Lager der OSOAWIACHIM in der Nähe von Uralsk formiert. David blieb am Eingang stehen und las den langen Namen laut vor:

– Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, der Luftfahrt und des chemischen Aufbaus.

Zuerst wurden die Rekruten kahlgeschoren und dann eingekleidet. Für das Instandsetzen der Uniform hatten sie nur einen Tag Zeit. David, ein geschickter Mann, nähte selbst, bügelte und befestigte vor allem mit Ehrfurcht die messingfarbenen Dreiecke eines Gefreiten an den Kragenspiegeln. Früher hatten seine Kameraden über ihn gespottet und ihn einen Angeber genannt, aber David wusste: Er hatte diesen Rang durch ehrliche Arbeit verdient.

Doch jetzt interessierte sich kaum jemand für seine Vergangenheit als Gefreiter. Was ihn jedoch am meisten überraschte, war, dass man einen Mechaniker und Traktoristen statt zur Artillerie oder zu den Panzertruppen zur Infanterie schickte.

– Na, was bin ich schon für ein Infanterist? – dachte David verständnislos. – Da versteh mal einer die Logik der Kommandeure!

– Gefreiter! – ertönte die energische Stimme des Feldwebels Anikeew.

David sprang vorschriftsmäßig auf.

– Ich zerbreche mir hier den Kopf, wie ich allein mit den Grünschnäbeln klarkommen soll. Du wirst Gruppenführer!

– Genosse Feldwebel, ich kann das nicht! – David hob abwehrend die Hände.

– Das bringen wir dir schon bei, – antwortete Anikeew gelassen.

bannerbanner