
Полная версия:
Amalien Jahrhundert
Und diese Liebe, die sie nie erfahren hatte, erfüllte Marias Herz mit bitterem, wahnsinnigem Neid. Jede seiner Berührungen des Sohnes, jeder Blick, der von väterlicher Zärtlichkeit erfüllte, erinnerte sie schmerzlich an ihre eigene Unwichtigkeit und daran, dass ihre Existenz für ihren Mann nur die unausweichliche Folge des Willens eines anderen war.
***In jungen Jahren, als David erst zwei Jahre alt war, ergriff er eines Tages, als würde er seinem erblichen Drang zum Handwerk folgen, einen kleinen Hammer in der Schmiede. Mit seinen prallen kleinen Händen umfasste er den Griff fest und, vor Freude schreiend, begann er auf einen Metallstab zu schlagen.
– Hau rein, Davidchen! Schlag, Daviduschka! – rief Nikolaus laut, strahlend vor Stolz. Seine Stimme hallte so weit, dass es schien, als könnten sie auf der anderen Seite der Wolga gehört werden. – Möge jeder Schmidt in seinem Grab die Kraft des heranwachsenden Schmieds spüren!
Mit zehn Jahren hob sich David bereits von seinen Altersgenossen ab. Als Sohn des Schmieds war er, wie sein Vater, breit gebaut und stark, was zusammen mit seinem rosigen Gesicht ihn wie einen lebenden quadratischen Lebkuchen erscheinen ließ. Selbst seine Hände waren rechteckig und fest, wie der Kopf eines Hammers.
Die Jungen aus der Nachbarschaft liebten es, ihre Zeit mit David zu verbringen. Er war gerecht, ohne Arroganz, mit einem guten Charakter. Seine Freunde schätzten nicht nur seinen fröhlichen Wesen, sondern auch, dass er immer bereit war, sie zu beschützen: Sei es vor einer Meute böser Hunde oder vor Jugendlichen aus der Nachbarstraße, die versuchten, in den Kinderschlachten die Oberhand zu gewinnen.
Das Einzige, womit David nicht prahlen konnte, war seine Größe.
– Das hast du von deiner Mutter, – sagte Nikolaus mit einem leichten Vorwurf, wenn er bemerkte, wie sein Sohn sich vergeblich nach oben streckte, in dem vergeblichen Versuch, mit seinen größeren Altersgenossen mitzuhalten. –Bei den Schmidts waren die Männer immer groß. Dein Onkel Franz zum Beispiel war mindestens einen Kopf größer als jeder andere im Dorf.
David lauschte seinem Vater mit angehaltenem Atem. Es war das erste Mal, dass er erfuhr, dass er einen Onkel gehabt hatte. Der im Krieg gefallene Franz verwandelte sich für den Jungen plötzlich in einen unsichtbaren Helden, dessen Bild David noch lange zu neuen Taten inspirieren sollte.
Der heranwachsende David erfreute Nikolaus, füllte sein Leben mit hellen Momenten. Der Junge wuchs kräftig, klug und fleißig heran und schien all die besten Eigenschaften zu verkörpern, die der Schmied hoffte, an seinen Nachkommen weiterzugeben. Doch die Freude an der Vaterschaft konnte das Leere nicht ausfüllen, die wie ein dunkler Schatten Nikolaus umhüllte, wenn der Tag zu Ende ging.
Wenn David sich bei Sonnenuntergang in seinem Bett gemütlich einrollte und in die Welt der Kindheitsträume abtauchte, blieb sein Vater allein. Das Haus, in dem einst die Stimmen einer großen Familie hallten, war nun still und düster. Der Sohn konnte nicht das ersetzen, was das Leben eines erwachsenen Mannes verlangte. Die Sehnsucht nach Verständnis, Wärme und der Last des Tages, die mit jemandem nahe teilen wollte, wurde schmerzhaft.
Nikolaus musste wählen: zu Maria ins Bett gehen, mit der er nie wirkliche Nähe gefunden hatte, oder sich in seiner geliebten Schmiede mit seiner Einsamkeit zu verstecken. Fast immer wählte er Letzteres. Die Schmiede war für ihn ein Zufluchtsort, ein Ort, an dem er sich verlieren konnte. Aber gerade dort, zwischen dem Geruch von Metall und Kohle, lauerte eine Gefahr, die langsam, aber unaufhaltsam sein Leben untergrub.
Die Dorfbewohner bezahlten oft für seine Arbeit mit Flaschen Schnaps oder selbstgebrautem Wein. Anfangs nahm Nikolaus das als eine unvermeidliche Eigenheit des Dorflebens hin. Doch mit der Zeit fand er im Alkohol ein seltsames Trost. Ein oder zwei Schlücke halfen, den Schmerz zu dämpfen und das erdrückende Gefühl der Leere zu mildern. Im Laufe der Zeit wurde das Trinken sein ständiger Begleiter und die Schmiede der Ort, an dem er nicht nur arbeitete, sondern auch vor der Realität fliehen konnte.
Nikolaus bemerkte nicht, wie die Sucht Besitz von ihm ergriff. Allmählich verdrängte der Alkohol alles andere aus seinem Leben. Er fand immer seltener die Kraft, zu arbeiten, und versank immer mehr in düsteren Gedanken. David blieb der einzige Lichtblick in seiner Welt, aber selbst die Liebe zu seinem Sohn konnte ihm nicht die einstige Stärke zurückgeben.
Und eines Morgens kamen die Nachbarn in die Schmiede. Dort, zwischen den Metallrohlingen, im Schatten des abgekühlten Ambosses, fanden sie den Schmied. Nikolaus lag auf dem Erdboden, reglos, als wäre er in ewiger Stille erstarrt. Sein Gesicht, rau, aber friedlich, schien endlich von der Last der vergangenen Jahre befreit.
Das Schicksal hatte ihm nie gestattet, zu sehen, zu welchem Mann sein Sohn heranwachsen würde, welchen Lebensweg David einschlagen würde. Alles, was von Nikolaus übrig blieb, war sein Handwerk, die Liebe, die er in den Jungen gesteckt hatte, und der unbezwingbare Wunsch, dass zumindest sein Kind ein anderes Leben führen sollte als er selbst.
Aber auf dem Land kam man nicht ohne Schmiede aus. Das wussten alle, auch die lokalen Bolschewiki, die zögerten nicht, einen anderen Spezialisten aus dem benachbarten Kanton einzuladen. Ein Kanton war damals eine administrative Einheit der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, etwas wie ein Bezirk, aber mit größeren Befugnissen. In jedem Kanton gab es Handwerks- und Landwirtschaftszentren, von denen man schnell den benötigten Meister finden konnte…
Mit dem Erscheinen von Detlef Meyer im Haus der Schmidts änderte sich Davids Leben. Der neue Schmied, ein großer, kräftiger Witwer um die vierzig, kam mit seinen drei Söhnen ins Dorf und gewann schnell Maries Zuneigung. Im Gegensatz zu Nikolaus war er herrisch, grob und duldete keinen Erfolg von anderen.
Maria schien lebendig zu werden, sobald sie Detlef sah. Sie vergaß schnell ihren verstorbenen Mann, und das Trauerkleid blieb unberührt im Schrank. Detlef eroberte nicht nur ihr Herz, sondern zog bald auch ins Haus, als wäre er immer schon dort gewesen. Für David jedoch begann eine schwere Prüfung.
Der Stiefvater mochte seinen Stiefsohn von Anfang an nicht. Detlef betrachtete ihn als Konkurrenten in der Schmiede. Ihm missfiel die Neigung des Jugendlichen zum Handwerk, seine Geschicklichkeit und sein Können, die David von den anderen Kindern abhoben. Selbst die Nachbarn bemerkten, dass der Junge fast mit einem Hammer in der Hand geboren worden war.
Eines Tages betrat ein Nachbar, ein Fischer, die Schmiede, in der Hand eine verrostete Kette:
– David, mach die Riegel fester, damit das Boot hält, – bat er, ohne Detlef überhaupt anzusehen.
Dieser Vorfall wurde zum letzten Tropfen. Als Detlef am Abend aus der Wirtschaft zurückkam, roch er nach Alkohol, und in seinen Augen flackerte ein wütendes Feuer.
– Du Miststück! Ich rackere mich ab, um dich zu ernähren, und du raubst mir den Verdienst?! – dröhnte er, als er ins Haus stürmte.
David, der am Tisch auf das Abendessen wartete, stand auf und ballte die Fäuste.
– Das ist unser Haus, nicht deins. Verzieh dich!
Diese Worte brachten Detlef in Wut. Er griff nach der Peitsche an der Wand und schwang sie. Doch David schaffte es, die Peitsche zu ergreifen und riss sie so heftig, dass Detlef das Gleichgewicht verlor, zu Boden fiel und sich schmerzhaft stieß. Als er den Kopf hob, waren seine Nüstern mit Blut überzogen und sein Gesicht war vor Wut rot.
– Ich bring dich um, – zischte er, als er sich aufrichtete.
In diesem Moment stürzten Davids Stiefbrüder von hinten auf ihn. Sie warfen ihn zu Boden, schlugen ihm ins Gesicht und traten ihm in den Bauch. David wehrte sich so gut er konnte, aber die Kräfte waren ungleich. Irgendwann gelang es ihm, sich zu befreien. Er rannte aus dem Haus, sein zerrissenes Hemd wehte im Wind wie ein Fetzen einer Fahne.
Hinter ihm fiel mit einem Krachen die Tür zu und riss das Hufeisen ab, das immer als Symbol des Glücks galt. David rannte weiter, ohne sich umzusehen. Tränen und Zorn vermischten sich in seiner Seele. Er verstand: Dieses Haus war nicht mehr seins. Vor ihm lag die Dunkelheit der Nacht, der kalte Wind und die Ungewissheit, in der er seinen Platz suchen musste.
David streifte um das Haus, seine kalten Hände unter den Achseln vergraben. Er wollte glauben, dass gleich die Tür aufging und seine Mutter, sein einziger naher Mensch, ihn zurückrufen würde. Doch stattdessen flackerte hinter dem Vorhang Detlefs finsteres Gesicht auf, der mit der Faust drohte, als wolle er versprechen, dass es das nächste Mal keine Gnade geben würde.
Gegen Mitternacht knarrte die Tür schließlich. David erstarrte, doch statt tröstender Worte sah er, wie seine Mutter vorsichtig seinen alten Mantel, die irgendwo im Streit verlorene Kappe und ein Bündel mit Brotgeruch auf der Veranda liegen ließ.
– Du bist stark, wie alle Schmidts, – flüsterte sie, während sie in den Schatten stand. Schnell kreuzte sie Davids Sohn und verschwand hinter der Tür, als hätte sie Angst, ertappt zu werden.
David hob die Sachen schweigend auf. Tränen traten ihm in die Augen, aber er sagte kein Wort. Alles war klar. Seine Mutter hatte sich entschieden: nicht für ihn, sondern für den Stiefvater.
Mit elf Jahren stand er nun auf der Straße. Das Dorf, das einst von zahlreichen Verwandten bewohnt war, war nun leer für ihn. Einige, wie Großmutter und Großvater, waren während des Ersten Weltkriegs nach Übersee gegangen, andere waren an Hunger gestorben oder in den Städten verschwunden.
Diese Nacht verbrachte David, vergraben im warmen Heu auf dem Heuboden des Fischers, wegen dem alles angefangen hatte. Der Fischer wusste nicht, dass der Junge sich in seiner Scheune versteckt hatte. Die kalte Luft brannte auf seinen Wangen, und das schwache Mondlicht drang durch die Ritzen der Bretter. David hielt das Bündel mit Brot in der Hand, das nun sein einziges Hab und Gut war.
Am Morgen, hungrig und durchfroren, machte er sich auf, durch das Dorf zu streifen. Die Gespräche der Erwachsenen auf der Straße gaben ihm einen Hinweis. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wolga, sagten sie, wurde ein Sowchose mit dem klangvollen Namen „Kusnez des Sozialismus“ gegründet. Dorthin fuhren Komsomolzen aus dem ganzen Land.
David verstand nicht, was die Worte „Sowchose“ oder „Komsomolzen“ bedeuteten, und vom Sozialismus hatte er noch nie gehört. Aber das Wort „Kusnez“(Schmied) ergriff ihn, als öffnete sich ein Fenster zu einem neuen Leben. Es fühlte sich wie ein Zeichen des Schicksals an.
– Dorthin muss ich, – entschied er.
Doch es gab ein Problem: der Fluss. Die Wolga, kalt und majestätisch, glänzte in der Sonne, und die Überquerung schien eine schwierige Aufgabe zu sein. Die Boote, die gewöhnlich zwischen den Ufern hin und her fuhren, waren zu dieser Zeit nicht zu sehen.
– Aber wie soll ich hinüberkommen? – dachte er nach, während er in das tosende Wasser starrte. In seinen Augen brannte bereits das Feuer der Entschlossenheit. David spürte, dass er hier nicht bleiben konnte, aber was ihn dort, jenseits des Flusses, erwarten würde, konnte nur der erfahren, der den ersten Schritt wagte.
In dieser Nacht war der Himmel schwarz wie Teer, keine einzige Sterne. Dunkelheit hatte das Dorf wie eine schwere Decke bedeckt. David ging entlang des Ufers, stolperte über Steine und presste das Taschenmesser seines Vaters, das letzte Zeichen von Schutz und Stärke, fest in der Hand.
Er fand das Fischerboot im Dunkeln, indem er das Leinenseil ertastete, an dem es festgebunden war. David erkannte es sofort: Einst hatte er selbst das Seil repariert, und nun hielt das Boot nur noch durch das Seil, weil die Metallringe beschädigt waren. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es dasselbe Boot war, schnitt er das Seil wortlos mit der scharfen Klinge durch. Seine kräftigen, an die Arbeit gewohnten Hände bewegten sich sicher, auch wenn sein Herz so laut schlug, dass es schien, man könne es vom anderen Ufer hören.
Er versuchte, seine Schuhe nicht nass zu machen, stieß das Boot vom Ufer und sprang hinein, landete auf einer Holzbank. Die Ruder hatte er im Voraus genommen – er hatte sie von der Wand der Scheune genommen, schon ahnend, dass ihn eine lange Reise erwartete.
Er hatte noch nie zuvor gerudert, aber es gab keine andere Wahl. Das Boot drehte sich langsam, und David, der aus dem Rhythmus kam, begann zu rudern. Die Ruder quietschten, das Wasser plätscherte gegen den Rumpf, und das kleine Boot schwankte unbeholfen auf den Wellen. Je weiter er sich vom Ufer entfernte, desto stärker wuchs das Gefühl der Angst.
Die nasse Dunkelheit des Wassers schien lebendig, schwer und feindlich. Das Boot sah aus wie ein kleines Stück Holz auf der Oberfläche dieses Abgrunds. Die Wellen atmeten leise, manchmal platschten sie laut, als wollten sie den Jungen packen und mit sich reißen. Klebriger Angst setzte sich auf seine Schultern und lähmte seine Bewegungen. Doch David ruderte hartnäckig weiter, versuchte, gerade zu bleiben.
Für einen Moment brach der Mond aus den Wolken. Sein Licht erleuchtete das Ufer, das immer kleiner wurde und in der Ferne verschwand. David stoppte und sah zurück. Er konnte die vertrauten Umrisse des Dorfes noch erkennen – den Ort, an dem er geboren wurde, wo es einmal ein Zuhause, eine Familie, einen Vater gab. Doch nun war alles hinter ihm geblieben. Als ob es nie gewesen wäre. Der Ort, an dem man ihn fortjagte, konnte nicht mehr als Heimat bezeichnet werden.
Die Landzunge verschwand, vom Dunkel verschlungen. David griff wieder nach den Ruderblättern, aber das letzte Bild hallte in seinem Kopf wider: die rauchigen Dächer der Häuser, der Fluss, der entlang des Dorfes zog, und die leuchtenden Fenster, hinter denen Familien zum Abendessen saßen. Fremde Familien.
Die Dunkelheit war absolut, doch die Geräusche über dem Fluss füllten den Raum mit Leben. Manchmal ertönte ein scharfer Spritzer – es waren die Fische, die mit ihren Schwänzen gegen das Wasser schlugen, als wollten sie den Fremden auf die Probe stellen. Irgendwo hoch am Himmel schrien Zugvögel, und aus der Ferne hallte der hohle Ruf eines Uhus, der sich im Wald versteckt hatte. Jedes Geräusch ließ David zusammenzucken, doch zugleich beruhigte es ihn. Er spürte, dass er in dieser Leere nicht allein war.
– Ich bin nicht allein, – wiederholte er sich. –Wenn sie leben, dann schaffe ich es auch.
Es wurde immer schwerer zu rudern. Seine Hände schmerzten vor Erschöpfung, die Kälte kroch unter die dünne Kleidung. Doch David blickte nach vorne, dorthin, wo ihn das Unbekannte erwartete. Es ängstigte ihn, aber zugleich lockte es ihn. Es gab etwas Neues darin, etwas Eigenes, etwas, für das es sich lohne, weiterzugehen.
Je näher das Boot dem anderen Ufer kam, desto stärker nahmen die Gerüche zu: feuchte Luft brachte eine schwere Mischung aus Schlamm, verfaultem Fisch und morschem Holz mit sich. Diese Aromen umhüllten den Jungen und erinnerten ihn an die Nähe des Landes und daran, dass er kurz davor war, seine erste Reise ins Unbekannte zu beenden.

David ruderte hartnäckig weiter, seine kleinen, aber schon starken Hände bewegten sich mechanisch im gleichen Rhythmus. Die Muskeln schmerzten, der Rücken tat weh, und die Finger schienen an das Holz der Ruder zu gewachsen. Schließlich blieb das Boot plötzlich stehen und stieß mit einem dumpfen Geräusch auf den Sandstrand. Dieses Geräusch hallte laut in Davids Ohren wider. Er atmete erleichtert aus und ließ die Hände sinken. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, wie sich blutige Streifen von den Kratzern, die die grobe Oberfläche der Ruder hinterlassen hatte, auf seinen Handflächen bildeten.
Keuchend stieg er aus dem Boot. Die müden Beine versanken im weichen Sand, und der Körper schwankte, als fühle er immer noch das Schaukeln auf den Wellen. David hielt für einen Moment inne, um sich umzusehen. Der Himmel erhellte sich leicht – durch die Wolken tauchte eine schmale Mondsichel auf, die das Ufer in blassem, fast gespenstischem Licht erstrahlen ließ. In der Ferne dunkelten dichte Sträucher. Sie schienen unerreichbar, aber gleichzeitig lockten sie den Jungen, versprachen Schutz.
Mit den letzten Kräften machte sich David auf den Weg, hinterließ tiefe Spuren im feuchten Sand. Sein Atem war schnell und keuchend, und jeder Schritt fiel ihm schwer. Endlich erreichte er die Sträucher und blieb stehen. Die Zweige peitschten ihm ins Gesicht, verfingen sich in seiner Kleidung, aber der Junge achtete nicht darauf. Er fiel einfach auf die Knie und dann erschöpft zur Seite.
Mit rauen Händen sammelte er ein Bündel abgefallener Blätter unter seinem Kopf. David hatte kaum Zeit, sich bequemer hinzulegen, als die Erschöpfung, die sich über die lange Nacht angesammelt hatte, endgültig siegte. Die Welt um ihn verblasste, das Rauschen des Windes in den Ästen vermischte sich mit seinem leisen, gleichmäßigen Atem. So, in der kühlen Nacht, den Gerüchen von Wasser und Erde, fühlte sich der Junge zum ersten Mal wirklich einsam.
David wachte auf, als ein lauter, zerrissener Schrei über den Fluss hallte. Es war schon dämmerig, und der graue Morgennebel wirbelte und verhüllte das ferne Ufer. Durch diese milchige Decke konnte er die dunkle Silhouette einer langsam treibenden Barke erkennen. Auf ihr sang ein Mann laut und schräg, den Kopf nach hinten geworfen. Selbst aus der Ferne war klar, dass der Sänger ziemlich betrunken war – seine Stimme brach immer wieder und hallte dumpf über das Wasser.
Der Junge fröstelte und zog die Schultern zusammen. Die feuchte Kleidung klebte an seinem Körper, und der eisige Morgentau durchtränkte ihn bis auf die Haut. David stand auf, dehnte mühsam seine steifen Glieder, die vom Kälte und Schlaf taub waren, und machte sich auf den Weg in den Dickicht. Das Knacken der Zweige unter seinen Füßen war in der Stille lauter als gewöhnlich, nur unterbrochen vom fernen Plätschern des Wassers.
Durch das dichte Gebüsch hindurch trat er auf offenes Gelände und sah sofort eine ungewöhnliche Szene vor sich: In der Nähe erstreckte sich ein neuer Siedlungsplatz. Die Holzhäuser rochen noch nach frisch geschnittenem Holz.
Doch am meisten zog das große Gebäude Davids Aufmerksamkeit auf sich, das mit leuchtend roten Fahnen und Plakaten geschmückt war, deren große Buchstaben er nicht lesen konnte. David sprach kein Russisch, aber er spürte, dass diese Schilder etwas Wichtiges bedeuteten. Die Plakate waren auffällig und schienen von großer Bedeutung, und das Gebäude sah aus wie ein Ort, an dem Entscheidungen getroffen wurden.
David trat schweigend näher. In seinem Kopf vermischten sich Sorgen mit Aufregung. Er dachte, dass dieser Ort wahrscheinlich eine Art Verwaltung oder Versammlungsort wichtiger Leute war. Doch als er die Holzgriff-Tür zog, gab sie nicht nach. Das Schloss hielt die Tür an ihrem Platz, und um ihn herum war niemand zu sehen.
Fühlend, wie ihm die Kälte durch die dünne Kleidung kroch, richtete David den Kragen seines alten Mantels, um sich etwas gegen die kalte Morgenluft zu schützen, und zog die Mütze bis über die Ohren. Er setzte sich auf die Veranda, durchwühlte das Bündel, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte, und zog das Brot hervor. Es war hart, doch hungrig dachte David nicht lange nach. Er biss einen großen Brocken ab und kaute gierig, während er spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten.
Sitzend auf der Veranda, beobachtete der Junge das langsam erwachende Dorf. Die Menschen begannen, aus den Häusern zu kommen, Arbeiter sprachen laut miteinander, und in der Ferne knackten die Räder eines Wagens. David wusste, dass jetzt das Schwierigste begann – diese Leute davon zu überzeugen, dass auch er hier seinen Platz hatte.
Als Erste kam eine Frau mit einem roten Kopftuch, einem blauen Overall, aus dessen Ärmeln die Ränder eines gestrickten Pullovers hervorblitzten, und mit Stiefeln aus Bast.
– Was machst du hier? – fragte sie, während sie den Jungen von Kopf bis Fuß musterte.
David warf ihr schweigend einen Blick zu und kaute weiter an dem Brot. Er hatte keine Lust zu antworten. Und das nicht nur, weil er fast kein Russisch sprach. In seiner Vorstellung war es sinnlos, mit einer Frau zu reden, die offensichtlich nicht die Hauptperson im Haus war – und überhaupt in nichts.
– Hast du deine Zunge verschluckt? – fragte die Fremde erneut, jetzt mit unzufriedener Stimme, während sie die Hüfte in die Seite stemmte.
David schwieg wieder, aber aus dem Augenwinkel beobachtete er sie.
– Hast du nicht gelernt zu grüßen? – fragte die Frau weiterhin.
Diesmal hatte David für einen Moment den Drang, zu verstehen, was sie sagte. Ihre Stimme klang unerwartet lebendig, nachdrücklich, anders als das leere Gerede der Dorffrauen, die er kannte.
Doch die Fremde, ohne eine Antwort abzuwarten, seufzte genervt, öffnete das Schloss und verschwand hinter der Tür.
Kurz darauf strömten immer mehr Leute in das Gebäude. Schon etwa zehn Menschen waren an David vorbeigegangen, als er sich entschloss, aufzustehen und ebenfalls hineinzugehen.
– Guten Morgen! – sagte er schüchtern auf Deutsch, da er keine andere Sprache kannte, während er den Raum betrachtete. Was er sah, überraschte ihn: Die gleiche Frau im roten Kopftuch saß hinter einem massiven Eichentisch, der mit Papieren bedeckt war, und alle anderen standen vor ihr.
Auf seine Worte reagierte niemand. David sammelte sich und wiederholte lauter:
– Guten Morgen!
Die Leute im Raum drehten sich erstaunt zu ihm um.
– Ach, du hast doch eine Zunge? – lachte die Frau hinter dem Tisch.
David verstand ihre Worte nicht, aber er ahnte, dass sie ihn meinte. Zu seiner Überraschung erkannte er, dass diese Frau die wichtigste Person im Raum war.
– Ich heiße David –, sagte er.
–Was machst du hier? – fragte jemand hinter ihm auf Deutsch.
Er drehte sich abrupt um und sah einen großen, lockigen Mann, der eine zusammengerollte Zeitung in der Hand hielt. Ein Gefühl der Freude ergriff den Jungen – endlich sprach jemand seine Sprache.
– Ich will arbeiten, – sagte David, nervös seine Mütze drehend.
– In welchem Sinne arbeiten? – fragte der Mann, trat in den Raum und gab jedem die Hand, dabei einen Blick auf den Jungen werfend.
– Ich suche Arbeit, – fügte David hinzu.
– Und wie alt bist du?
– Fünfzehn, – antwortete er und schummelte ein paar Jahre dazu.
– Du bist fünfzehn?! – fragte der Mann auf Russisch und blinzelte.
– Und siehst aus wie zehn, – mischte sich die Frau im Overall ein. An ihrem Tonfall und der Aufmerksamkeit, mit der sie Davids Deutsch beobachtete, war deutlich zu merken, dass sie zumindest einen Teil von dem verstand, was er sagte, auch wenn vielleicht nicht alles.
David zuckte mit den Schultern und verstand, dass seine Worte Zweifel aufwarfen.
– Frag ihn, Anton, was er von uns will, – befahl die Frau.
– Er sagt, er sucht Arbeit, Genossin Leiterin, – antwortete der Mann und wandte sich an sie.
– Jetzt fehlt uns nur noch ein Kind hier, – lachte jemand.
– Ich bin Schmied, – sagte David entschlossen und selbstbewusst. – Kusnez!
Die Frau betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und schien sich den Jungen mit einem Hammer vorzustellen, was sie schmunzeln ließ:
– Schmiede brauchen wir, klar, aber größer und älter sollten sie schon sein.
Anton übersetzte die Worte der Chefin, aber David war nicht bereit aufzugeben.
– Nehmt mich wenigstens als irgendetwas! Ich kann jede Arbeit machen!
– Wo soll ich dich denn nehmen? Als Traktorfahrer? Du bist doch kaum größer als die vorderen Räder eines Traktors, und auf dem Sitz muss man dich noch hochheben!
– Ich bin stark! Meine Hände sind so! – er hob die Hände und drängte weiter. – Bitte! Ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann, ich bin ein Waisenkind!
Anton übersetzte schnell.
– Du sprichst noch nicht einmal Russisch. Wie sollen wir kommunizieren? Mit Gesten vielleicht?, – seufzte die Frau und vertiefte sich wieder in ihre Papiere.
– Lass ihn in Ruhe, Junge, geh deinen Weg, – sagte Anton, schob ihn sanft zum Ausgang.
David trat auf die Veranda und senkte den Kopf. Anton folgte ihm.
–Es wäre besser, wenn du bei deinen Leuten bleibst, – sagte er. – Such dir Arbeit in den deutschen Siedlungen.“
– Da braucht mich sicher niemand, – antwortete David düster und wandte sich der Wolga zu.
***Den ganzen Tag wanderte er am Ufer entlang und hoffte, sein Boot zu finden, das offenbar vom Strom mitgerissen worden war.
– Dummkopf, ich hätte es festbinden oder weiter aus dem Wasser ziehen sollen,–schimpfte der Junge mit sich selbst.