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Philosophisches Taschenwörterbuch
Das Argument ist einleuchtend, deshalb antwortet Laktanz darauf sehr schlecht, wenn er sagt, dass Gott das Böse will, uns aber die Vernunft gegeben hat, mit der man das Gute bewirkt. Man muss zugeben, dass diese Antwort im Vergleich zu dem Einwand ziemlich schwach ist, denn sie setzt voraus, dass Gott uns die Vernunft nur verleihen konnte, indem er das Böse schuf; und dafür haben wir nun eine hübsche Vernunft!
Der Ursprung des Bösen war immer ein Abgrund, den niemand ergründen konnte. Das ist es, was so viele antike Philosophen und Gesetzgeber dazu brachte, ihre Zuflucht bei der Lehre von den zwei Prinzipien zu suchen, wovon das eine gut, das andere schlecht war. Bei den Ägyptern hieß das schlechte Prinzip Tiphon, bei den Persern Ahriman. Wie man weiß, übernahmen die Manichäer* diese Theologie, aber da diese Leute niemals weder mit dem guten noch dem schlechten Prinzip gesprochen hatten, muss man ihren Worten keinen Glauben schenken.
Unter den Absurditäten, die es auf dieser Welt im Überfluss gibt und die man zu der Unzahl unserer Übel hinzufügen kann, ist es kein geringer Unfug, dass man zwei allmächtige Wesen annahm, die sich darum schlagen, wer von beiden mit seinem Einsatz mehr in dieser Welt erreiche, und die wie die beiden Ärzte bei Molière einen Vertrag aushandeln: »Überlassen Sie mir das Brechmittel, dann überlasse ich Ihnen den Aderlass.«*
Bereits im ersten Jahrhundert der Kirche behauptete Basilides, den Platonikern folgend, dass Gott es seinen niedersten Engeln überlassen habe, unsere Erde zu erschaffen, und dass diese, da sie nicht geschickt waren, die Dinge so gemacht hätten, wie wir sie sehen. Diese theologische Fabel zerfällt durch den ausgezeichneten Einwand zu Staub, dass es der Natur eines allmächtigen und hochweisen Gottes nicht entspricht, eine Welt von Architekten aufbauen zu lassen, die nichts davon verstehen.
Simon, der den Einwand voraussah, kam ihm zuvor, indem er sagte, dass der Engel, der der Werkstatt vorstand, verdammt wurde, weil er seine Arbeit so schlecht erledigt habe. Aber der Flammentod dieses Engels nützt uns nichts.*
Das Abenteuer der Pandora bei den Griechen ist keine bessere Antwort auf den Einwand. Die Büchse, in der sich alle Übel befinden und auf deren Boden die Hoffnung übrig bleibt, ist wirklich eine bezaubernde Allegorie; aber diese Pandora wurde von Vulkan nur ins Leben gerufen, um sich an Prometheus zu rächen, der einen Menschen aus Schlamm erschaffen hatte.*
Die Inder haben es nicht besser getroffen. Nachdem Gott den Menschen erschaffen hatte, gab er ihm ein Heilmittel, das ihm zu immerwährender Gesundheit verhalf. Der Mensch belud seinen Esel mit dem Heilmittel, der Esel bekam Durst, die Schlange zeigte ihm eine Quelle, und während er trank, nahm die Schlange das Heilmittel an sich.
Die Syrer stellten sich vor, dass Mann und Frau im vierten Himmel geschaffen wurden und darauf verfielen, Fladenbrot statt Ambrosia zu essen, was ihre übliche Nahrung war. Ambrosia schwitzte sich durch die Poren aus, aber nachdem man Fladenbrot gegessen hat, hat man Stuhlgang. Der Mann und die Frau baten einen Engel, sie zu belehren, wo denn das gewisse Örtchen sei. Seht ihr, sagte der Engel, diesen kleinen, unscheinbaren Planeten da, etwa 60 Millionen Meilen von hier entfernt, dort ist das stille Örtchen des Universums, macht schnell, dass ihr hinkommt. Sie gingen hin, man ließ sie dort und seit dieser Zeit war unsere Welt das, was sie ist.
Man wird die Syrer immer wieder fragen, warum Gott erlaubte, dass der Mensch das Fladenbrot aß und sich daraus eine Menge abscheulicher Übel für uns ergab.
Rasch begebe ich mich nun aus diesem vierten Himmel zu Lord Bolingbroke, um mich nicht zu langweilen. Dieser Mann, der zweifellos ein großes Genie war, lieferte dem berühmten Pope die Vorlage zu Alles ist gut, die man tatsächlich Wort für Wort in den nachgelassenen Werken von Lord Bolingbroke findet und die Lord Shaftesbury zuvor in seine Characteristics eingefügt hatte. Lesen Sie bei Shaftesbury das Kapitel über die Moralisten, und Sie werden dort folgende Worte finden.
»Man kann viel auf diese Klagen über die Mängel der Natur erwidern. Wie konnte sie derart ohnmächtig und mangelhaft aus den Händen eines vollkommenen Wesens hervorgehen? Aber ich bestreite, dass sie mangelhaft ist … ihre Schönheit entsteht aus Widersprüchen, und die universale Harmonie wird aus ständigem Kampf geboren … Jedes Wesen muss anderen geopfert werden, die Pflanzen den Tieren, die Tiere der Erde … und die Gesetze der Anziehungskraft und der Schwerkraft, die den Himmelskörpern ihr Gewicht und ihre Bewegung verleihen, werden keineswegs einem schwächlichen Tier zuliebe durcheinandergebracht, das, so gut es auch durch dieselben Gesetze geschützt sein mag, bald wieder durch sie zu Staub verwandelt wird.«*
Bolingbroke, Shaftesbury und Pope, derjenige, der ihre Ideen umsetzte, lösen das Problem nicht besser als die anderen: Ihr alles ist gut besagt nichts anderes, als dass alles von unveränderlichen Gesetzen bestimmt wird. Wer weiß das nicht? Ihr lehrt uns nichts Neues, wenn ihr wie alle kleinen Kinder feststellt, dass die Fliegen geboren werden, um von den Spinnen gefressen zu werden, die Spinnen von den Schwalben, die Schwalben von den Sperbern, die Sperber von den Adlern, die Adler wiederum, um von den Menschen getötet zu werden, und die Menschen, um sich gegenseitig zu töten und von den Würmern gefressen zu werden und anschließend von den Teufeln, die Chancen dafür stehen zumindest tausend zu eins.
Das ist eine klare und dauerhafte Ordnung unter den Tieren jeglicher Art. Überall herrscht Ordnung. Wenn sich ein Stein in meiner Blase bildet, ist das ein bewundernswerter Mechanismus. Steinbildende Säfte dringen nach und nach in mein Blut, werden in den Nieren gefiltert, laufen durch die Harnröhre, wandern in meine Blase und dank der großartigen Newtonschen Anziehungskraft sammeln sie sich dort an. Ein Stein bildet sich, wird größer, und durch diese allerschönste Einrichtung der Welt leide ich Schmerzen, die tausendmal schlimmer sind als der Tod. Ein Chirurg, der die Kunst, die einst Tubal-Kain* erfunden hatte, perfektionierte, fährt mit einem spitzen Messer in mich und schneidet in meinen Damm, ergreift den Stein mit seiner Pinzette, der Stein zerbricht gemäß einem notwendigen Mechanismus dank seiner Bemühungen, und durch denselben Mechanismus sterbe ich unter abscheulichen Qualen. Dies alles ist gut, dies alles ist die offensichtliche Folge unabänderlicher physikalischer Prinzipien, ich bin einverstanden, und ich wusste es, ebenso gut wie ihr auch.
Wenn wir keine Gefühle hätten, gäbe es gegen diese Art der Physik nichts einzuwenden. Aber das ist es nicht, worum es hier geht; wir fragen euch, ob es keine fühlbaren Übel gibt und woher sie kommen. »Es gibt überhaupt keine Übel«, sagt Pope in seinem 4. Brief über den Satz Alles ist gut. »Wenn es denn einzelne Übel gibt, so bilden sie in ihrer Gesamtheit das allgemeine Wohl.«*
Das ist schon ein recht eigenartiges allgemeines Wohl, das aus dem Nierenstein, der Gicht, allen Verbrechen, allen Leiden, dem Tod und der Verdammnis besteht.
Der Sündenfall ist die Salbe, die wir bei allen diesen einzelnen Krankheiten des Körpers und der Seele auftragen, die ihr allgemeines Wohlbefinden nennt. Doch Shaftesbury und Bolingbroke ist die Erbsünde gleichgültig. Pope spricht überhaupt nicht davon. Es ist offensichtlich, dass ihr System das Fundament der christlichen Religion untergräbt und überhaupt nichts erklärt.
Dennoch wurde dieses System vor Kurzem von mehreren Theologen, die bereitwillig Widersprüche zulassen, gutgeheißen. Recht so, denn man sollte niemandem den Trost missgönnen, so gut er kann über die Sintflut an Übeln, die uns überschwemmt, nachzudenken. Es ist richtig, die unheilbar Kranken essen zu lassen, was sie wollen. Man ist sogar so weit gegangen zu behaupten, dass dieses System tröstlich sei. »Gott«, so sagt Pope, »sieht mit einem und demselben Auge den Helden und den Spatz zugrunde gehen, ein Atom oder tausend Planeten auf den Zerfall zusteuern, eine Seifenkugel oder eine Welt sich bilden.«*
Das ist, wie ich zugebe, ein angenehmer Trost; findet ihr im Rezept von Lord Shaftesbury, der sagt, dass Gott seine ewigen Gesetze nicht wegen eines armseligen Tieres wie dem Menschen durcheinanderbringen wird, etwa nicht ein außerordentliches Beruhigungsmittel? Man muss diesem armseligen Tier zumindest zubilligen, dass es berechtigt ist, untertänigst aufzuschreien und beim Schreien zu verstehen, warum diese ewigen Gesetze nicht für das Wohlergehen jedes Individuums gemacht sind?
Jenes System des Alles ist gut stellt den Schöpfer der gesamten Natur nur als mächtigen und bösartigen König dar, den es nicht kümmert, wenn er vier- oder fünfhunderttausend Menschen das Leben kostet und die anderen unter Hungersnot und Tränen dahinvegetieren, vorausgesetzt, er erreicht seine Zwecke.
Die Auffassung, dass dies die beste aller Welten sei, ist weit davon entfernt, tröstlich zu sein, sie bringt die Philosophen, die für sie Partei ergreifen, zur Verzweiflung. Die Frage nach Sinn und Zweck von Gutem und Bösem bleibt für die, die in gutem Glauben darüber forschen, ein unentwirrbares Chaos. Für diejenigen, die diskutieren, ist es eine Denksportaufgabe: Sie sind Galeerensklaven, die mit ihren Ketten spielen. Dem Volk, das nicht nachdenkt, geht es so ähnlich wie den Fischen, die man aus einem Fluss in ein Wasserbecken transportiert. Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, dass sie dort sind, um in der Fastenzeit verspeist zu werden. Ebenso wissen wir selbst überhaupt nichts über die Ursachen unseres Schicksals.
Setzen wir nun ans Ende, wie an das fast aller Kapitel über die Metaphysik, die beiden Buchstaben, welche die römischen Richter setzten, wenn sie einen Fall nicht durchschauten, N. L., non liquet, das ist nicht klar.
BORNES DE L’ESPRIT HUMAIN – Die Grenzen des menschlichen Geistes
Sie sind überall, armer Doktor. Willst du wissen, wie dein Arm und dein Fuß deinem Willen gehorchen und wie deine Leber diesem nicht gehorcht? Versuchst du herauszufinden, wie der Gedanke sich in deinem kümmerlichen Verstand bildet, und wie dieses Kind in der Gebärmutter dieser Frau? Ich lasse dir Zeit, meine Frage zu beantworten: Was ist Materie? Deinesgleichen hat zehntausend Bände über diesen Gegenstand geschrieben. Sie haben einige Eigenschaften dieser Substanz herausgefunden. Die Kinder kennen sie genauso gut wie du. Aber was ist diese Substanz im Grunde genommen? Und was ist, was du nach dem lateinischen Wort, das Atem* bedeutet, esprit genannt hast, wozu dir auch nichts Besseres einfällt, weil du dir nichts darunter vorstellen kannst?
Betrachte dieses Weizenkorn, das ich auf den Boden werfe, und sage mir, wie es sich aufrichtet und einen Halm erzeugt, der mit einer Ähre besetzt ist. Lehre mich, wie die gleiche Erde einen Apfel oben in diesem Baum hier hervorbringt und eine Kastanie an dem Nachbarbaum. Ich könnte dir einen Folianten mit Fragen füllen, die du wahrscheinlich nur mit vier Wörtern beantworten würdest: Darüber weiß ich nichts.
Und dennoch hast du deine akademischen Würden erhalten, du bist damit überhäuft worden, und einen Doktorhut hast du auch, und man nennt dich einen Lehrer. Und dieser andere hochnäsige Dummkopf, der sich ein Amt gekauft hat, glaubt, dass er damit auch das Recht gekauft habe, darüber zu urteilen und zu missbilligen, was er nicht versteht.
Montaignes Devise war Was weiß ich?,* und deine ist Was weiß ich nicht?
CARACTÈRE – Charakter
Das Wort kommt aus dem Griechischen, es bedeutet »Eindruck«, »Prägung«. Der Charakter ist unsere Prägung durch die Natur, ob wir sie auslöschen können, das ist die große Frage. Wenn ich eine schiefe Nase und zwei Katzenaugen habe, kann ich sie mit einer Maske verbergen. Kann ich stärker auf den Charakter einwirken, den mir die Natur gegeben hat? So wird ein Mann, der von Geburt an ungestüm und leicht aufbrausend war, bei Franz I., dem König Frankreichs, vorstellig, weil er sich über eine ungerechtfertigte Bevorzugung beschweren will. Das Gesicht des Königs, die respektvolle Haltung der Höflinge, der Ort selbst, an dem er sich befindet, machen einen starken Eindruck auf diesen Mann. Er senkt unwillkürlich den Blick, seine raue Stimme wird sanfter, er bringt sein Anliegen demütig vor, man könnte ihn für von Geburt an genauso sanft halten wie es (zumindest in diesem Augenblick) die Höflinge sind, in deren Mitte er sogar verunsichert ist. Doch wenn Franz I. sich mit Physiognomien auskennt, entdeckt er leicht in seinen Augen, die gesenkt sind, in denen aber ein finsteres Feuer glimmt, an den angespannten Muskeln seines Gesichts, an den aufeinander gepressten Lippen, dass dieser Mann nicht so sanft ist, wie er sich gezwungenermaßen geben muss. Dieser Mann folgt ihm nach Pavia, wird mit ihm zusammen festgenommen und kommt mit ihm in Madrid ins Gefängnis.* Die Majestät von Franz I. macht auf ihn nicht mehr den gleichen Eindruck, er wird mit dem Gegenstand seiner Verehrung vertraut. Eines Tages, als er dem König die Stiefel auszieht und sich dabei ungeschickt anstellt, wird der König, verärgert über sein Missgeschick, wütend, unser Mann schickt ihn zum Teufel und wirft seine Stiefel aus dem Fenster.
Sixtus V. war von Geburt an aufbrausend, eigensinnig, hochmütig, heftig, rachsüchtig und anmaßend. Diese Charakterzüge scheinen sich bei den Prüfungen während seines Noviziats abgemildert zu haben. Kaum beginnt er jedoch in seinem Orden etwas an Ansehen zu gewinnen, regt er sich über einen Klostervorsteher auf und streckt ihn mit Faustschlägen nieder. Als Inquisitor in Venedig versieht er sein Amt voller Anmaßung. Er wird Kardinal und ist besessen della rabbia papale*: Diese leidenschaftliche Hingabe lässt ihn sein Naturell bezwingen. Er umgibt seine Person und seinen Charakter mit einem undurchdringlichen Schleier, er gibt sich demütig und dem Tode nahe. Man wählt ihn zum Papst. Dieser Augenblick gibt seiner Tatkraft, die er aus politischen Gründen den Umständen angepasst hatte, allen lange Zeit zurückgehaltenen Schwung wieder. Er ist der stolzeste und despotischste aller Herrscher.
Naturam expellas furca tamen ipsa redibit.*
Religion und Moral können die Gewalt des Naturells in Grenzen halten, aber sie können es nicht zerstören. Der Säufer, der sich im Kloster mit einem Viertelliter Apfelwein pro Mahlzeit begnügen muss, wird sich nicht mehr betrinken, den Wein aber wird er immer lieben.
Das Alter schwächt den Charakter ab, es ist wie mit einem Baum, der nur noch einige degenerierte Früchte trägt, aber sie sind immer noch von der gleichen Art. Sein Stamm wird knotig und ist moosbedeckt, sein Holz wird wurmstichig, aber er ist immer noch Eiche oder Birnbaum. Wenn man seinen Charakter ändern könnte, dann gäbe man sich selbst einen und wäre damit Herr über die Natur. Kann man sich aber selbst etwas geben? Erhalten wir nicht alles? Versucht doch einmal, den Phlegmatiker zu einer kontinuierlichen Aktivität zu veranlassen, die kochende Seele des Heißsporns durch Apathie zu Eis erstarren zu lassen, demjenigen, der keinen Geschmack und kein Gehör hat, Sinn für Musik und Poesie beizubringen. Ihr werdet dabei nicht mehr erreichen, als wenn ihr versuchtet, einem blind Geborenen das Augenlicht zu geben. Wir vervollkommnen, wir mildern, wir verstecken, was die Natur in uns angelegt hat, aber wir sind es nicht, die diese Veranlagungen schaffen.
Man sagt zu einem Landwirt: »Sie haben zu viele Fische in Ihrem Fischteich, so werden sie nicht gedeihen. Es gibt zu viele Tiere auf Ihren Weiden, es fehlt an Gras, sie werden abmagern.« Nach dieser Ermahnung kann es vorkommen, dass die Hechte die Hälfte der Karpfen auffressen und die Wölfe die Hälfte der Schafe, der Rest wird dann fett. Wird sich der Bauer zu seinem wirtschaftlichen Erfolg beglückwünschen? Dieser Landwirt bist jedoch du selber. Eine deiner Leidenschaften hat die anderen aufgezehrt, und du glaubst, über dich triumphiert zu haben. Ähneln wir nicht alle jenem alten General von neunzig Jahren, der, als er einige junge Offiziere traf, die mit leichten Mädchen ein bisschen liederlich lebten, wütend zu ihnen sagte; »Meine Herren, ist das etwa das Beispiel, das ich Ihnen gebe?«
CERTAIN, CERTITUDE – Gewiss, Gewissheit
»Wie alt ist Ihr Freund Christoph?« »Achtundzwanzig Jahre. Ich habe seinen Ehevertrag und seinen Taufschein gesehen, ich kenne ihn seit seiner Kindheit; er ist achtundzwanzig Jahre alt, ich habe die Gewissheit, ich bin mir gewiss.«
Kaum habe ich die Antwort dieses Mannes vernommen, der sich dessen, was er sagt, so sicher ist, und von zwanzig anderen, die dasselbe bestätigen, da erfahre ich, dass man aus geheimen Gründen mit einem einzigartigen Trick Christophs Taufschein vordatiert hat. Diejenigen, mit denen ich gesprochen hatte, wissen davon noch nichts; sie haben immer noch die Gewissheit von etwas, das nicht so ist.
Hätte man vor der Zeit von Kopernikus die Leute auf der ganzen Welt gefragt: »Ist die Sonne heute aufgegangen, ist sie untergegangen?«, so hätten alle Leute geantwortet: »Wir sind uns dessen ganz sicher«; sie waren sich sicher und sie befanden sich dennoch im Irrtum.
Die Zauberei, das Wahrsagen, Wahngebilde sind in den Augen aller Völker lange Zeit die sicherste Sache auf der Welt gewesen; welche unabsehbar große Menge von Menschen hat alle diese schönen Dinge gesehen und war sich deren sicher! Heute hat diese Gewissheit ein wenig nachgelassen.
Ein junger Mann, der mit dem Studium der Geometrie beginnt, sucht mich auf. Er ist erst bis zu der Definition von Dreiecken gekommen. »Sind Sie sich nicht sicher«, so frage ich ihn, »dass die drei Winkel eines Dreiecks so groß wie zwei rechte Winkel sind?« Er erwidert mir, er sei sich dessen nicht nur keineswegs sicher, sondern er habe sogar noch nicht einmal eine klare Vorstellung von diesem Lehrsatz. Ich beweise ihn ihm, so wird er sich seiner ganz sicher und wird es sein Leben lang bleiben.
Hier gibt es eine von den anderen sehr unterschiedliche Gewissheit; diese waren nur Wahrscheinlichkeiten und entpuppten sich bei näherer Untersuchung als Irrtümer, doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig.
Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz, ist all dies ebenso sicher wie eine geometrische Wahrheit? Ja. Weshalb? Deshalb, weil diese Wahrheiten nach dem gleichen Prinzip bewiesen sind, dass eine Sache nämlich nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann.* Ich kann nicht gleichzeitig existieren und nicht existieren, empfinden und nicht empfinden. Ein Dreieck kann nicht gleichzeitig eine Winkelsumme von hundertachtzig Grad haben, was zwei rechten Winkeln entspricht, und sie nicht haben.
Die physische Gewissheit meiner Existenz, meines Empfindens und die mathematische Gewissheit sind also von gleichem Wert, obgleich sie von verschiedener Art sind.
Mit der Gewissheit, die durch den Augenschein begründet ist oder durch übereinstimmende Berichte, wie sie uns Menschen erstatten, ist es nicht dasselbe.
»Aber«, wird man mir entgegenhalten, »sind Sie sich nicht sicher, dass Peking existiert? Haben Sie keine Stoffe aus Peking bei sich zu Hause? Haben Sie etwa nicht Menschen aus verschiedenen Ländern und verschiedener Meinung, die heftig gegeneinander geschrieben haben, aber alle in Peking die Wahrheit predigten, haben die Sie nicht der Existenz dieser Stadt versichert?« Darauf antworte ich, dass es mir äußerst wahrscheinlich erscheint, dass es damals eine Stadt Peking gab, ich aber nicht mein Leben verwetten möchte, dass diese Stadt existiert. Hingegen würde ich, wann immer man mich fragte, mein Leben dafür einsetzen, dass die drei Winkel eines Dreiecks genauso groß sind wie zwei rechte Winkel.
Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt; man behauptet dort, dass ein Mensch sich ebenso sicher, ebenso gewiss sein müsste, dass der Marschall von Sachsen wiederauferstanden ist, wenn ganz Paris ihm das erzählt, wie er sich sicher ist, dass der Marschall von Sachsen die Schlacht von Fontenoy* gewonnen hat, wenn ganz Paris es ihm sagt. Sehen Sie sich doch bitte diese wunderbare Argumentation an; ich glaube ganz Paris, wenn man mir etwas erzählt, das allem Anschein nach möglich ist, also muss ich den Parisern auch glauben, wenn man mir etwas erzählt, das weder dem Anschein nach noch physikalisch möglich ist.
Allem Anschein nach hat der Autor dieses Artikels seinen Spaß haben wollen, und der andere Autor, der am Ende dieses Artikels in Begeisterung gerät, schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen.*
CHAÎNE DES ÉVÈNEMENTS – Die Kette der Ereignisse
Vor langer Zeit hat man behauptet, alle Ereignisse seien mit unabwendbarer Zwangsläufigkeit miteinander verkettet; es ist das Schicksal, dem bei Homer sogar Zeus sich zu beugen hat. Derjenige, der über Götter und Menschen bestimmt, erklärt kurz und bündig, er könne nicht verhindern, dass sein Sohn Sarpedon* zu vorgegebener Zeit stirbt. Sarpedon wurde in dem Augenblick geboren, als er geboren werden musste, und konnte in keinem anderen zur Welt kommen; er konnte nirgendwo anders sterben als vor Troja; er konnte nirgendwo anders beerdigt werden als in Lykien; sein Körper musste zur vorgegebenen Zeit Gemüse hervorbringen, das sich in die Nahrung einiger Lykier verwandeln musste; seine Erben mussten eine neue Ordnung in seinem Staat einrichten; diese neue Ordnung musste sich auf die benachbarten Königreiche auswirken; daraus ergab sich ein neues Abkommen über Krieg und Frieden mit den Nachbarn der Nachbarn Lykiens: Auf diese Weise hing nach und nach das Schicksal der ganzen Erde vom Tode Sarpedons ab, der seinerseits von einem anderen Ereignis abhing, das wiederum durch andere mit dem Ursprung aller Dinge verbunden war.
Wäre ein einziges dieser Ereignisse anders verlaufen, wäre daraus ein anderes Universum hervorgegangen: Nun war es aber nicht möglich, dass das jetzige Universum existiert und nicht existiert, deshalb war es Zeus nicht möglich, das Leben seines Sohnes zu retten, ungeachtet dessen, dass er Zeus war.
Dieses System der Notwendigkeit und der Unabwendbarkeit der Ereignisse wurde nach dem, was er sagt, zu unserer Zeit von Leibniz als das erfunden, was er den zureichenden Grund nennt; es ist jedoch schon sehr alt; es ist nicht erst heute so, dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt und häufig die kleinste Ursache die größten Wirkungen hervorbringt.
Lord Bolingbroke gibt zu, dass die kleinen Streitigkeiten zwischen Lady Marlborough und Lady Masham ihm die Gelegenheit verschafften, den Einzelvertrag der Königin Anne mit Ludwig XIV. abzuschließen:* Dieser Vertrag führte zum Frieden von Utrecht; dieser Frieden von Utrecht bestätigte wiederum Philipp V. auf dem Thron Spaniens. Philipp V. nahm dann Österreich Neapel und Sizilien ab; der spanische Prinz, der heute König von Neapel ist, verdankt ganz offensichtlich sein Königreich Lady Masham und hätte es nicht bekommen und wäre vielleicht nicht einmal geboren worden, wenn die Herzogin von Marlborough der Königin von England mehr entgegengekommen wäre; seine Existenz in Neapel hing also von einer Dummheit mehr oder weniger am Hofe von London ab. Untersuchen Sie die Situationen aller Völker auf der Welt, sie beruhen derart auf einer Folge von Geschehnissen, die von nichts abzuhängen scheinen und die von allem abhängen. Alles an dieser immensen Maschine sind Zahnräder, Flaschenzüge, Zugseile, Federn.
Mit der physikalischen Ordnung ist es dasselbe. Ein Wind, der aus den Tiefen Afrikas und den südlichen Meeren kommt, bringt einen Teil der afrikanischen Atmosphäre mit, die sich dann als Regen in den Alpentälern niederschlägt; diese Regen befruchten unsere Böden; unser Nordwind seinerseits schickt unsere Dünste zu den Negern; wir tun Guinea Gutes, und Guinea tut uns seinerseits Gutes. Die Kette reicht vom einen Ende der Welt zum anderen.
Mir scheint jedoch, dass man die Wahrheit dieses Prinzips auf merkwürdige Weise missbraucht. Man schließt daraus, dass es kein noch so kleines Atom gibt, dessen Bewegung nicht die augenblickliche Anordnung der ganzen Welt beeinflusst hat; dass es keinen noch so kleinen Zufall gibt, der nicht, sei es bei den Menschen, sei es bei den Tieren, ein wesentliches Glied der großen Kette des Schicksals ist.
Verstehen wir uns recht: Jede Wirkung hat natürlich ihre Ursache, wenn man sie von Ursache zu Ursache bis in den Abgrund der Ewigkeit zurückverfolgt; aber nicht jede Ursache hat ihre Wirkung, wenn man ihr bis an das Ende aller Zeiten folgt. Zugegeben, alle Ereignisse wurden voneinander hervorgebracht; wenn die Vergangenheit die Gegenwart geboren hat, wird die Gegenwart die Zukunft gebären; alles hat einen Vater, aber nicht alles hat immer Kinder. Es ist hier genauso wie mit einer Ahnentafel; jeder Stammbaum geht, wie man weiß, auf Adam zurück, aber in der Familie gibt es sehr wohl Leute, die gestorben sind, ohne Nachkommen zu hinterlassen.