Читать книгу 50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics) (Томас Манн) онлайн бесплатно на Bookz (4-ая страница книги)
bannerbanner
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)
Оценить:

4

Полная версия:

50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)

Als Esther Lucien vor diesem Wesen, das sich mindestens einer Entweihung und einer Fälschung schuldig gemacht hatte, sehr klein werden sah, empfand sie, die durch ihre Liebe geheiligt war, einen tiefen Schrecken auf dem Grunde ihres Herzens. Ohne etwas zu erwidern, zog sie Lucien ins Zimmer und sagte zu ihm: »Ist das der Teufel?« »Etwas Schlimmeres … für mich,« erwiderte er lebhaft. »Aber wenn du mich liebst, so versuche, die Ergebenheit dieses Mannes nachzuahmen und gehorche ihm bei Todesstrafe … « »Bei Todesstrafe? … « sagte sie noch entsetzter. »Bei Todesstrafe,« wiederholte Lucien. »Ach, mein kleines Schäfchen, kein Tod ließe sich mit dem vergleichen, der mich ereilen würde, wenn … « Esther erblich, als sie diese Worte hörte, und fühlte, wie ihre Kräfte sie verließen.

»Nun,« rief ihnen der Fälscher und Kirchenschänder zu, »habt ihr denn eure Maßliebchen noch nicht kahl gezupft?«

Esther und Lucien kehrten zurück, und das arme Mädchen sagte, ohne daß sie es wagte, einen Blick auf den geheimnisvollen Menschen zu werfen: »Wir werden Ihnen gehorchen, wie man Gott gehorcht.« »Gut,« erwiderte er; »Sie können also eine Zeitlang sehr glücklich sein, und … Sie werden nur Haus- und Nachttoilette zu machen haben; das wird viel Geld ersparen.«

Und die beiden Liebenden gingen auf das Eßzimmer zu; aber Luciens Gönner machte eine Geste, um das hübsche Paar aufzuhalten, so daß es stehen blieb. »Ich habe Ihnen eben von Ihren Leuten gesprochen, liebes Kind,« sagte er zu Esther, »ich muß sie Ihnen vorstellen.«

Der Spanier schellte zweimal. Die beiden Frauen, die er Europa und Asien nannte, erschienen, und jetzt war der Grund dieser Beinamen leicht zu erkennen.

Asien, die auf der Insel Java geboren zu sein schien, zeigte dem Blick, als wolle sie ihn erschrecken, jenes den Malaien eigene kupferfarbene Gesicht, das flach ist wie ein Brett und in das die Nase wie durch einen gewaltsamen Druck hineingepreßt zu sein scheint. Die wunderliche Stellung der Kieferknochen gab dem Untergesicht einige Ähnlichkeit mit dem Gesicht der großen Affen. Der wenn auch niedrigen Stirn fehlte es nicht an der durch gewohnheitsmäßig angewandte List entwickelten Intelligenz. Zwei kleine brennende Augen bewahrten die Ruhe der Augen des Tigers, aber sie blickten einem nie ins Gesicht. Es sah aus, als fürchtete Asien, die Leute zu erschrecken. Die blaßblauen Lippen ließen Zähne von blendender Weiße sehen, die aber kreuzweis standen. Der allgemeine Ausdruck dieser tierischen Physiognomie war der der Feigheit. Die wie die Gesichtshaut glänzenden und fetten Haare umrandeten ein sehr reiches Kopftuch mit zwei schwarzen Streifen. Die äußerst hübschen Ohren zeigten als Schmuck zwei große Perlen. Klein, kurz, untersetzt, so glich Asien jenen närrischen Schöpfungen, die die Chinesen sich auf ihren Lichtschirmen erlauben; oder genauer, jenen indischen Idolen, deren Typus nicht mehr vorhanden sein zu sollen scheint, den aber die Reisenden schließlich doch noch finden. Als Esther dieses Ungeheuer sah, das über einem Kleid aus englischer Wolle mit einer weißen Schürze geziert war, durchlief sie ein Schauder.

»Asien,« sagte der Spanier, zu dem die Frau den Kopf mit einer Bewegung emporhob, wie sie sich nur mit der eines Hundes vergleichen läßt, der seinen Herrn ansieht, »das ist Eure Herrin.« Und er zeigte Esther in ihrem Hauskleid mit dem Finger.

Asien sah diese junge Fee mit einem fast schmerzlichen Ausdruck an; aber zugleich flog zwischen ihren engen Wimpern hervor wie der Funke eines Brandes ein ersticktes Licht auf Lucien, der, bekleidet mit einem prachtvollen offenen Schlafrock, einem Hemd aus friesischer Leinwand und einer roten Hose, eine türkische Mütze auf dem Kopf, von dem seine blonden Haare in starken Locken herabfielen, ein göttliches Bild darbot. Das italienische Genie kann die Erzählung von Othello erfinden, das englische kann es in Szene setzen, aber die Natur allein hat das Recht, in einen einzigen Blick einen vollständigeren und großartigeren Ausdruck der Eifersucht hineinzulegen, als England und Italien zusammen. Vor diesem Blick, den Esther auffing, ergriff sie den Spanier beim Arm und preßte ihm ihre Nägel ins Fleisch, wie es eine Katze getan hätte, die sich festhält, um nicht in einen Abgrund zu fallen, dessen Boden sie nicht sieht. Der Spanier sagte in einer unbekannten Sprache drei oder vier Worte zu diesem asiatischen Ungeheuer, das herbeikam und kriechend vor Esthers Füßen niederkniete, um sie ihr zu küssen.

»Sie ist«, sagte der Spanier zu Esther, »keine Köchin, sondern ein Koch, der Carême vor Eifersucht wahnsinnig machen würde. Sie wird Ihnen eine einfache Schüssel Bohnen so bereiten, daß Sie zweifeln, ob nicht die Engel herabgestiegen sind, um die Kräuter des Himmels darunter zu mischen. Sie wird jeden Morgen selbst in die Markthallen gehen und sich wie der Teufel schlagen, der sie ist, um die Dinge zum angemessensten Preis zu erhalten; sie wird die Neugierigen durch ihre Verschwiegenheit ermüden. Da man aussprengen wird, Sie seien in Indien gewesen, so wird Asien viel dazu beitragen, diese Fabel wahrscheinlich zu machen, denn sie ist eine jener Pariserinnen, die geboren werden, um dem Lande anzugehören, das sie wollen; aber mein Rat ist nicht etwa der, daß Sie Fremde seien … Europa, was meinst du dazu? … «

Europa bildete einen vollkommenen Gegensatz zu Asien, denn sie war die zierlichste Soubrette, die sich Monrose je auf dem Theater als Partnerin hätte wünschen können. Schlank, scheinbar leichtfertig, mit einem Wiesellärvchen und runder Nase, so bot Europa dem Blick ein Gesicht dar, das von den Pariser Verderbtheiten ermüdet ist, das fahle Gesicht eines mit rohen Äpfeln ernährten Mädchens, bleichsüchtig und faserig, weich und zäh. Ihren kleinen Fuß vorgesetzt, die Hände in den Taschen ihrer Schürze, zitterte sie, obwohl sie reglos dastand, so voll Leben war sie. Sie war zugleich Grisette und Statistin und mußte trotz ihrer Jugend schon viele Berufe ausgeübt haben. Verdorben wie alle Insassinnen des Magdalenenstifts, konnte sie ihre Eltern bestohlen und die Bänke der Sittenpolizei gestreift haben. Asien flößte großen Schrecken ein, aber man kannte sie auf den ersten Blick ganz; sie stammte in gerader Linie von Locusta ab. Europa aber flößte eine Unruhe ein, die nur wachsen konnte, je mehr man sich ihrer bediente; ihre Verderbtheit schien keine Grenzen zu haben; sie mußte, wie das Volk sagt, verstehen, Berge zum Wackeln zu bringen.

»Die gnädige Frau könnte aus Valenciennes sein,« sagte Europa mit leiser und trockener Stimme; »daher bin ich. Will der gnädige Herr«, sagte sie in wohlweisem Ton zu Lucien, »uns sagen, welchen Namen er der gnädigen Frau zu geben gedenkt?« »Frau van Bogseck,« erwiderte der Spanier, indem er auf der Stelle Esthers Namen ausgab. »Die gnädige Frau ist eine Jüdin aus Holland, die Witwe eines Kaufmanns und leidet an einer Leberkrankheit, die sie aus Java mitgebracht hat … Kein großes Vermögen, um keine Neugier zu wecken.« »Genug zum Leben, sechstausend Franken Rente; und wir werden uns über ihre Knickerei beklagen?« sagte Europa. »Ganz recht,« sagte der Spanier mit einer Neigung des Kopfes. »Ihr verteufelten Possenspielerinnen!« fuhr er in beängstigendem Tone fort, da er zwischen Asien und Europa Blicke auffing, die ihm mißfielen, »ihr wißt, was ich euch gesagt habe? Ihr dient einer Königin, ihr schuldet ihr die Achtung, die man einer Königin schuldet; aber ihr werdet sie hegen, als hegtet ihr eine Rache; ihr werdet ihr ebenso ergeben sein wie mir. Weder der Pförtner noch die Nachbarn noch die Mieter, kurz niemand in der Welt darf erfahren, was hier vorgeht. Es ist eure Sache, jede Neugier zu vereiteln, wenn sie erwacht. Und die gnädige Frau«, fügte er hinzu, indem er seine große behaarte Hand auf Esthers Arm legte, »darf nicht die geringste Unvorsichtigkeit begehen; ihr werdet sie im Notfall daran hindern, aber … immer achtungsvoll. Europa, du wirst wegen der Toilette der gnädigen Frau mit der Außenwelt in Berührung bleiben, und du wirst selbst daran arbeiten, um zu sparen. Kurz niemand, nicht einmal die unbedeutendsten Leute setzen den Fuß in die Wohnung. Ihr beide werdet hier alles machen müssen … Meine kleine Schöne,« sagte er zu Esther, »wenn Sie abends im Wagen ausfahren wollen, so werden Sie es Europa sagen, sie weiß, wo sie Ihre Leute suchen muß, denn Sie werden einen Jäger erhalten, der wie diese beiden Sklavinnen ebenfalls aus meiner Hand hervorgegangen ist.«

Esther und Lucien fanden keine Worte; sie hörten dem Spanier zu und sahen die beiden kostbaren Wesen an, denen er seine Befehle gab. Welchem Geheimnis verdankte er die Unterwürfigkeit und Ergebenheit, die sich auf diesen beiden Gesichtern malten, deren eines so boshaft aufrührerisch und das andere von so tiefer Grausamkeit war? Er erriet Esthers und Luciens Gedanken; denn beide schienen erstarrt, wie Paul und Virginie es beim Anblick zweier furchtbarer Schlangen gewesen wären; und er sagte ihnen mit seiner guten Stimme ins Ohr: »Ihr könnt auf sie zählen wie auf mich; habt keinerlei Geheimnis vor ihnen, das wird ihnen schmeicheln … Trage auf! Asien, meine Kleine,« sagte er zu der Köchin; »und du, Liebchen, lege noch ein Gedeck hinzu,« sagte er zu Europa; »es ist doch das wenigste, daß diese Kinder Papa zum Frühstück einladen.«

Als die beiden Frauen die Tür geschlossen hatten und der Spanier Europa hin und her gehen hörte, sagte er zu Lucien und dem jungen Mädchen, indem er seine große Hand öffnete: »Ich habe sie in der Gewalt!« – ein Wort und eine Geste, vor denen man erbeben konnte. »Wo hast du sie nur gefunden?« rief Lucien aus. »Ah, bei Gott!« erwiderte der andere, »ich habe sie nicht am Fuß der Throne gesucht! Europa kommt aus dem Kot und fürchtet, dahinein zurückzusinken … Droht ihnen mit dem Herrn Abbé, wenn sie euch nicht zufriedenstellen, und ihr werdet sehen, daß sie erzittern wie eine Maus, der man von der Katze redet. Ich bin ein Tierbändiger,« fügte er lächelnd hinzu. »Sie machen mir den Eindruck eines Dämons!« rief Esther anmutig aus, indem sie sich gegen Lucien drängte.

»Liebes Kind, ich habe versucht, Sie dem Himmel zu schenken, aber die reuige Dirne wird stets für die Kirche eine Mystifikation bleiben; wenn sich je eine fände, so würde sie im Paradies wieder zur Kurtisane werden … Sie haben das dabei gewonnen, daß man Sie vergessen hat und daß Sie einer anständigen Frau ähnlich sehen; denn Sie haben da unten gelernt, was Sie in der ehrlosen Sphäre, in der Sie lebten, nie hätten lernen können … Sie schulden mir nichts,« sagte er, als er auf Esthers Gesicht einen entzückenden Ausdruck des Dankes sah, »ich habe alles für ihn getan … « Und er zeigte auf Lucien. »Sie sind eine Dirne, Sie werden Dirne bleiben und als Dirne sterben; denn trotz der verführerischen Theorien der Tierzüchter kann man hier unten nur werden, was man ist. Der Mann mit den Schädelwölbungen hat recht. Sie haben die Schädelwölbung der Liebe.«

Der Spanier war, wie man sieht, Fatalist, ebenso wie Napoleon, Mohammed und viele große Politiker. Seltsam, fast alle Menschen der Tat neigen zum Fatalismus, genau wie die meisten Denker zum Glauben an die Vorsehung neigen.

»Ich weiß nicht, was ich bin,« erwiderte Esther mit der Sanftmut eines Engels, »aber ich liebe Lucien, und ich werde sterben, indem ich ihn anbete.« »Kommen Sie zum Frühstück,« sagte der Spanier schroff, »und beten Sie zu Gott, daß Lucien sich nicht zu schnell verheiratet, denn dann würden Sie ihn nicht wiedersehen.« »Seine Heirat wäre mein Tod,« sagte sie.

Sie ließ den Priester vortreten, um sich ungesehen zu Luciens Ohr emporheben zu können. »Ist es dein Wille,« sagte sie, »daß ich unter der Gewalt dieses Menschen bleibe, der mich von diesen beiden Hyänen bewachen läßt?«

Lucien neigte den Kopf. Das arme Mädchen unterdrückte ihre Trauer und schien lustig, aber sie fühlte sich furchtbar bedrückt. Es bedurfte mehr als eines Jahres beständiger und ergebener Pflege, damit sie sich an diese beiden furchtbaren Geschöpfe gewöhnte, die Carlos Herrera ›die beiden Wachhunde‹ nannte.

Luciens Verhalten trug seit seiner Rückkehr nach Paris das Gepräge einer so tiefen Politik, daß er die Eifersucht all seiner alten Freunde wecken mußte und weckte; er übte ihnen gegenüber keine andere Rache als die, daß er sie durch seine Erfolge, seine einwandfreie Haltung und seine Art, die Leute von sich fernzuhalten, wütend machte. Dieser so mitteilsame, so überströmende Dichter wurde kühl und zurückhaltend. De Marsay, jener von der Pariser Jugend nachgeahmte Typus, hielt in seinen Reden und Handlungen nicht mehr Maß als Lucien. Was den Geist angeht, so hatte der Journalist schon ehedem seine Proben geliefert. Von Marsay, dem viele Leute schaden froh Lucien entgegenhielten, indem sie dem Dichter den Vorzug gaben, war klein genug, sich darüber zu ärgern. Lucien stand in hoher Gunst bei denen, die im geheimen die Macht hatten, und er gab jeden Gedanken an literarischen Ruhm so vollständig auf, daß er unempfänglich blieb für den Erfolg seines Romans, der unter seinem ersten Titel ›Der Bogenschütze Karls IX.‹ neu herausgegeben wurde, und gegen das Aufsehen, das seine Sonettensammlung, die ›Margueriten‹, erregte; Dauriat verkaufte die Auflage in einer einzigen Woche. »Das ist ein posthumer Erfolg,« erwiderte er lachend, als Fräulein Des Touches ihn beglückwünschte.

Der furchtbare Spanier hielt sein Geschöpf mit ehernem Arm auf der Linie fest, an deren Ende die Fanfaren und die Beute des Sieges auf die geduldigen Politiker warten. Lucien hatte, um der Rue Taitbout näher zu sein, die Junggesellenwohnung Beaudenords am Quai Malaquais genommen, und sein Ratgeber hatte sich in drei Zimmern desselben Hauses, im vierten Stock eingemietet. Lucien hatte nur noch ein Reit-und Wagenpferd, einen Diener und einen Stallknecht. Wenn er nicht in der Stadt speiste, speiste er bei Esther. Carlos Herrera überwachte die Leute am Quai Malaquais so genau, daß Lucien im Jahr noch keine zehntausend Franken ausgab. Auch für Esther genügten, dank der beständigen unerklärlichen Ergebenheit Europas und Asiens, zehntausend Franken. Lucien wandte die größte Vorsicht auf, wenn er in die Rue Taitbout ging oder aus ihr kam. Er fuhr stets nur im Wagen hin, hatte die Vorhänge heruntergelassen und ließ den Kutscher stets in die Einfahrt hineinfahren. Daher schadeten auch seine Leidenschaft für Esther und die Existenz des Haushalts der Rue Taitbout, die der Welt völlig unbekannt blieben, keiner seiner Unternehmungen oder Beziehungen; nie entschlüpfte ihm ein unvorsichtiges Wort über diesen heiklen Gegenstand. Die Fehler, die er in dieser Hinsicht zur Zeit seines ersten Aufenthalts in Paris mit Coralie begangen hatte, machten ihn klug. Sein Leben zeigte zunächst jene Regelmäßigkeit des guten Tons, unter der man viele Geheimnisse verbergen kann: er blieb jede Nacht bis ein Uhr in der Gesellschaft; man fand ihn von zehn bis ein Uhr nachmittags zu Hause; dann fuhr er ins Bois de Boulogne und machte bis fünf Uhr Besuche. Man sah ihn selten zu Fuß, und so vermied er seine alten Bekannten. Wenn ihn irgendein Journalist oder einer seiner alten Kameraden grüßte, antwortete er vorläufig mit einer Kopfneigung, die gerade höflich genug war, damit man sich nicht ärgern konnte, durch die aber doch jene tiefe Geringschätzung hindurchblickte, die die französische Vertraulichkeit tötet. Auf diese Weise entledigte er sich schnell der Leute, die er nicht mehr gekannt haben wollte. Ein alter Haß hinderte ihn, zu Frau d'Espard zu gehen, obwohl sie ihn mehrmals hatte bei sich sehen wollen. Wenn er ihr bei der Herzogin von Maufrigneuse begegnete oder bei Fräulein Des Touches, bei der Gräfin von Montcornet oder anderswo, so benahm er sich ihr gegenüber ausgesucht höflich. Dieser Haß, der bei Frau d'Espard ebenso groß war, zwang Lucien zur Vorsicht; denn man wird sehen, wie sehr er ihn belebt hatte, indem er sich eine Rache erlaubte, die ihm übrigens eine starke Predigt Herreras eintrug.

»Du bist noch nicht mächtig genug, um dich an irgend jemandem zu rächen,« hatte der Spanier zu ihm gesagt. »Wenn man bei brennender Sonne unterwegs ist, bleibt man nicht stehen, um die schönste Blume zu pflücken … «

Lucien hatte zuviel Zukunft und echte Überlegenheit, als daß nicht die jungen Leute, die seine Rückkehr nach Paris und sein unerklärlicher Wohlstand in Schatten stellten, entzückt gewesen wären, ihm einen schlimmen Streich spielen zu können. Lucien, der wußte, daß er viele Feinde hatte, übersah die arge Gesinnung seiner Freunde nicht. Daher warnte denn auch der Abbé seinen Adoptivsohn in ausgezeichneter Weise vor der Verräterei der Welt und der Unvorsichtigkeit, die der Jugend so verhängnisvoll wird. Lucien mußte dem Abbé jeden Abend die kleinsten Ereignisse des Tages erzählen und tat es stets. Dank den Ratschlägen dieses Mentors wich er der geschicktesten Neugier aus, der der Gesellschaft. Geschützt durch einen englischen Ernst, gedeckt durch die Schanzen, die die Umsicht der Diplomaten aufführt, gab er niemandem das Recht oder die Gelegenheit, einen Blick in seine Angelegenheiten zu werfen. Sein junges und schönes Gesicht war schließlich in der Gesellschaft so reglos geworden wie das einer Prinzessin während einer Zeremonie. Gegen Mitte des Jahres 1829 war von seiner Heirat mit der ältesten Tochter der Herzogin von Grandlieu die Rede, die damals nicht weniger als vier Töchter zu versorgen hatte. Niemand zweifelte daran, daß der König bei Gelegenheit dieses Bündnisses Lucien die Gunst erweisen würde, ihm den Titel ›Marquis‹ zu verleihen. Die Heirat sollte Luciens politisches Glück entscheiden, denn wahrscheinlich sollte er an einem deutschen Hofe zum Botschafter ernannt werden. Seit drei Jahren war Luciens Leben unangreifbar vorsichtig gewesen; daher hatte auch von Marsay dieses merkwürdige Wort über ihn gesagt: ›Dieser Bursche muß einen sehr starken Menschen hinter sich haben.‹

So war Lucien fast zu einer Persönlichkeit geworden. Seine Leidenschaft für Esther hatte ihm übrigens viel dabei geholfen, seine Rolle eines ernsten Mannes zu spielen. Eine derartige Gewöhnung schützt die Ehrgeizigen vor sehr vielen Dummheiten; da sie an keiner Frau festhalten, so lassen sie sich nicht durch die Reaktionen des Körperlichen auf das Geistige fangen. Was das Glück angeht, das Lucien genoß, so war es die Verwirklichung der Träume aller hellerlosen Dichter, die in einer Bodenkammer fasten. Esther, das Ideal der verliebten Kurtisane, erinnerte Lucien an Coralie, die Schauspielerin, mit der er ein Jahr lang gelebt hatte; aber sie löschte sie vollständig aus. Alle liebenden und hingebenden Frauen erfinden von neuem die Abschließung, das Inkognito, das Leben der Perle auf dem Meeresboden; aber bei den meisten unter ihnen ist es nur eine jener reizenden Launen, die einen Gesprächsgegenstand bilden, einen Beweis der Liebe, von dem sie nur träumen und den sie nicht geben; während Esther, die immer gleichsam am Morgen nach der ersten Seligkeit stehen blieb und in jeder Stunde unter Luciens erstem zündenden Blick lebte, in vier Jahren keine Regung der Neugier empfand. Ihren ganzen Geist verwandte sie darauf, in den Grenzen des von der Schicksalshand des Spaniers vorgezeichneten Programms zu bleiben. Ja, noch mehr, mitten unter den berauschendsten Entzückungen mißbrauchte sie nicht die unbegrenzte Macht, die geliebten Frauen die wiedererwachenden Begierden eines Liebhabers geben, um Lucien eine Frage über Herrera zu stellen, der sie übrigens immer noch beängstigte: sie wagte nicht an ihn zu denken. Die klugen Wohltaten dieses Mannes, dem Esther auf jeden Fall ihre Klosterzöglingsanmut, ihr Benehmen als anständige Frau und ihre moralische Wiedergeburt verdankte, erschienen dem armen Mädchen als Vorschüsse der Hölle. »Ich werde für all das eines Tages zahlen,« sagte sie sich voll Grauen.

Während all der schönen Nächte fuhr sie im Mietswagen aus. Sie fuhr mit einer Schnelligkeit, die ohne Zweifel der Abbé anbefohlen hatte, in einen der entzückenden Wälder, die Paris umgeben: nach Boulogne, Vincennes, Romainville oder Ville d'Avray, oft mit Lucien, bisweilen allein mit Europa. Sie ging dort furchtlos spazieren, denn sie wurde, wenn Lucien nicht dabei war, von einem großen Leibjäger begleitet, der gekleidet war wie die elegantesten Leibjäger, bewaffnet mit einem wirklichen Weidfänger, und dessen Physiognomie und dürre Muskulatur auf einen furchtbaren Athleten deuteten. Dieser weitere Wächter war nach englischer Mode mit einem Stock bewaffnet, den man ›bâton de longueur‹ nannte, der den Stockfechtern wohlbekannt ist und mit dem sie mehreren Angreifern standhalten können. Gemäß einem Befehl, den der Abbé erteilt hatte, durfte Esther mit diesem Jäger niemals ein Wort wechseln. Europa stieß, wenn die gnädige Frau Formel: ›Sie waren glücklich!‹ für sie noch vielsagender als in den Feenmärchen, denn sie hatten keine Kinder. So konnte Lucien in der Gesellschaft kokettieren, sich seinen Dichterlaunen und – sagen wir es – dem Zwang seiner Lage überlassen. Er leistete während der Zeit, in der er langsam seinen Weg machte, ein paar Politikern heimliche Dienste, indem er an ihren Arbeiten mitwirkte. Er war darin sehr verschwiegen. Er besuchte viel den Salon der Frau von Sérizy, mit der er sich nach den Reden der Gesellschaft ausgezeichnet stand. Frau von Sérizy hatte Lucien der Herzogin von Maufrigneuse entführt, die, wie sie sagte, keinen Wert mehr auf ihn legte: ein Wort, durch das sich die Frauen wegen eines Glückes rächen, das ihren Neid erweckt. Lucien stand sozusagen im Angelpunkt des Almosenpflegeramts, und er war intim mit einigen Frauen, die mit dem Erzbischof von Paris befreundet waren. Als bescheidener und verschwiegener Mann harrte er geduldig. Daher enthielt denn auch das Wort von Marsays, der sich damals verheiratet hatte und der seine Frau zwang, das Leben Esthers zu führen, mehr als eine Anmerkung. Aber die unterseeischen Gefahren der Lage Luciens werden im Verlauf dieser Geschichte deutlich genug hervortreten.

So standen die Dinge, als in einer schönen Augustnacht der Baron von Nucingen vom Landgut eines in Frankreich ansässigen ausländischen Bankiers, bei dem er gespeist hatte, nach Paris zurückkam. Das Landgut liegt in der Brie, acht Stunden von Paris. Da nun der Kutscher des Barons sich gerühmt hatte, seinen Herrn mit seinen eigenen Pferden hin und zurück zu fahren, so nahm sich dieser Kutscher die Freiheit, als die Nacht gekommen war, langsam zu fahren. Beim Eintritt in den Wald von Vincennes waren Tiere, Leute und Herr in folgender Lage. Der Kutscher, dem man in der Küche des berühmten Geldautokraten freigebig zu trinken gespendet hatte, war vollständig Schreckens ihren Schleier. Der Jäger stieß einen heisern Schrei aus, dessen Sinn der Kutscher sofort verstand, denn der Wagen schoß wie ein Pfeil davon. Der alte Bankier war in furchtbarer Erregung: das Blut, das ihm aus den Füßen emporwallte, trieb ihm das Feuer in den Kopf, sein Kopf schickte Flammen ins Herz hinein; die Kehle schnürte sich ihm zu. Der Unglückliche fürchtete eine schlechte Verdauung, und trotz dieser großen Befürchtung erhob er sich auf seine Füße.

»Kalopp! Elländes Vieh, wer schläft!« rief er. »Hündert Franken, wänn de einholst d'n Wagen.«

Bei den Worten ›hündert Franken‹ erwachte der Kutscher; der Diener hinten hörte sie zweifellos noch im Schlaf. Der Baron wiederholte den Befehl; der Kutscher trieb seine Tiere zum Galopp, und es gelang ihm auch am Throntor, einen Wagen einzuholen, der jenem, in dem Nucingen die göttliche Unbekannte gesehen hatte, einigermaßen ähnlich war; aber der erste Kommis irgendeines reichen Kaufhauses spreizte sich darin mit einer ›anständigen Frau‹ der Rue Vivienne.

Dieser Irrtum schlug den Baron nieder. »Wänn ich hätt mitkenommen den Schorsch (sprich Georg) und nich dich, dann hätt er kefunden die Frau,« sagte er zu dem Diener, während die Zollbeamten den Wagen visitierten. »Ach, Herr Baron, ich glaube, der Teufel saß als Heiduck hinten auf, und er hat mir diesen Wagen untergeschoben.« »Teifel, gibt nix Teifel,« sagte der Baron.

Der Baron von Nucingen gab damals sechzig Jahre zu; die Frauen waren ihm völlig gleichgültig geworden, vor allem seine eigene Frau. Er rühmte sich, nie die Liebe des Hauses hatten der Baronin zu verstehen gegeben, daß ein Mann wie Nucingen nicht unversehens sterben dürfte; seine ungeheuren Geschäfte erforderten Vorsichtsmaßregeln, man müßte unbedingt wissen, an was man sich zu halten hätte. Diese Herren wurden zu dem Diner eingeladen; ebenso der Graf von Gondreville, der Schwiegervater Franz Kellers, der Chevalier d'Espard, Des Lupeaulx, der Doktor Bianchon, derjenige unter Despleins Schülern, den er am meisten liebte, Beaudenord mit seiner Frau, der Graf und die Gräfin von Montcornet, Blondet, Fräulein Des Touches und Conti; schließlich auch Lucien von Rubempré, für den Rastignac seit fünf Jahren die lebhafteste Freundschaft empfand, wenn auch auf Befehl, wie man im Affichenstil sagt.

bannerbanner