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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)

»Sie ist erbaulich,« sagte die Oberin, indem sie ihr die Stirn küßte. Dieses wesentlich katholische Wort sagt alles.

Während der Erholungsstunden fragte Esther ihre Gefährtinnen maßvoll nach den einfachsten Dingen der großen Welt aus, und sie weckten in ihr etwas wie das erste Staunen eines Kindes über das Leben. Als sie erfuhr, daß sie am Tage ihrer Taufe und ihrer ersten Kommunion weißgekleidet gehen würde, daß sie ein Stirnband aus weißem Satin, weiße Bänder, weiße Schuhe und weiße Handschuhe erhalten und weiße Schleifen im Haar tragen sollte, da brach sie mitten unter ihren erstaunten Gefährtinnen in Tränen aus. Es war das Gegenteil der Szene Jephthas auf dem Berge. Die Kurtisane fürchtete, durchschaut zu werden; sie schob ihre furchtbare Melancholie auf die Freude, die dieses Schauspiel ihr schon im voraus bereitete. Da es sicherlich ebensoweit ist von den Sitten, die sie aufgab, bis zu den Sitten, die sie annahm, wie vom Zustand eines Wilden bis zur Zivilisation, so hatte sie die Anmut, die Naivität und Tiefe, die die wunderbare Heldin der Puritaner von Amerika auszeichnen. Sie trug auch, ohne es zu wissen, eine Liebe im Herzen, die an ihr nagte, eine seltsame Liebe, ein Verlangen, heftiger bei ihr, die alles wußte, als es je bei einer Jungfrau ist, die nichts weiß, um diesen Kampf des Dämons mit dem Engel. Wenn die Oberin sie schalt, weil sie künstlicher frisiert war, als die Regel es wollte, so veränderte sie ihre Frisur mit anbetungswürdigem und schnellem Gehorsam; sie wäre bereit gewesen, sich das Haar abzuschneiden, wenn die Mutter es ihr befohlen hätte. Dieses Heimweh hatte bei einem Mädchen, das lieber umgekommen wäre als zurückgekehrt in die unreinen Lande, eine rührende Anmut. Sie wurde blaß, verwandelte sich, wurde mager. Die Oberin verkürzte ihren Unterricht und zog das interessante Geschöpf in ihre Nähe, um sie auszufragen. Esther war glücklich; es gefiel ihr unendlich unter ihren Gefährtinnen; sie fühlte sich in keinem vitalen Teil angegriffen, aber ihre Vitalität selber war angegriffen. Sie sehnte sich nach nichts zurück; sie wünschte nichts. Die Oberin war erstaunt über die Antworten ihrer Zöglingin, und sie wußte nicht, was sie von ihr denken sollte, als sie sie einer verzehrenden Sehnsucht zur Beute fallen sah. Man rief den Arzt, als der Zustand des jungen Mädchens ernst zu werden schien, aber dieser Arzt kannte Esthers Vorleben nicht und konnte sie nicht beargwöhnen: er fand überall Leben, das Leiden war nirgends. Die Krankheit warf alle Hypothesen um. Es blieb noch eine Art und Weise, die Zweifel des Gelehrten, der sich an einen furchtbaren Gedanken klammerte, aufzuklären: Esther weigerte sich hartnäckig, sich der Untersuchung des Arztes zu unterwerfen. In dieser Gefahr appellierte die Oberin an den Abbé Herrera. Der Spanier kam, sah Esthers verzweifelten Zustand und plauderte einen Augenblick abseits mit dem Arzt. Nach diesem Gespräch erklärte der Mann der Wissenschaft dem Mann des Glaubens, das einzige Mittel sei eine Reise nach Italien. Der Abbé wollte nicht, daß diese Reise vor Esthers Taufe und erster Kommunion stattfände.

»Wieviel Zeit brauchen Sie noch?« fragte der Arzt. »Einen Monat,« erwiderte die Oberin. »Dann ist sie tot,« versetzte der Doktor. »Ja, aber im Stand der Gnade und als Gerettete,« sagte der Abbé.

Die Frage der Religion beherrscht in Spanien die Fragen der Politik, des bürgerlichen und physischen Lebens; der Arzt gab also dem Spanier keine Antwort, er wandte sich zu der Oberin; aber der furchtbare Abbé ergriff ihn am Arm, um ihn zu hindern. »Kein Wort, Herr Doktor!« sagte er.

Der Arzt warf, obwohl er religiös und monarchisch gesinnt war, einen Blick voll zärtlichen Mitleids auf Esther. Dieses Mädchen war schön wie eine Lilie, die sich auf ihren Stengel neigt. »Wie Gott will, also,« sagte er und ging.

Noch am Tage dieser Konsultation wurde Esther von ihrem Gönner in den Rocher de Cancale geführt, denn der Wunsch, sie zu retten, hatte diesem Priester die seltsamsten Auskunftsmittel eingegeben; er versuchte es mit zwei Ausschweifungen: einem ausgezeichneten Diner, das das arme Mädchen an seine Orgien erinnern konnte, und der Oper, die ihr einige weltliche Bilder bot. Es bedurfte seiner überwältigenden Autorität, um die junge Heilige zu solchen Entweihungen zu überreden. Herrera verkleidete sich so vollkommen als Offizier, daß Esther ihn nur mit Mühe erkannte; er ließ seine Gefährtin einen Schleier nehmen und setzte sie in eine Loge, wo sie allen Blicken verborgen bleiben konnte. Dieses Linderungsmittel, das für eine so ernstlich zurückgewonnene Unschuld ungefährlich war, verlor bald seine Kraft. Die Zöglingin wurde von Ekel vor den Diners ihres Gönners, von religiösem Widerwillen gegen das Theater gepackt und sank in ihre Melancholie zurück.

›Sie stirbt vor Liebe zu Lucien,‹ sagte Herrera sich; er wollte die Tiefe dieser Seele sondieren und wissen, was man von ihr verlangen konnte.

Es kam also ein Augenblick, in dem dieses Mädchen nur noch durch seine moralische Kraft aufrechterhalten wurde und in dem der Körper versagen mußte. Der Priester berechnete diesen Augenblick mit dem grauenhaften Scharfsinn, den ehedem die Folterknechte entfalteten, wenn es galt, das Verhör zu beginnen. Er fand sein Mündel im Garten, wo sie am Gitter, das die Aprilsonne liebkoste, auf einer Bank saß; sie schien zu frieren und sich dort zu wärmen; ihre Gefährtinnen sahen voll Interesse auf diese Bleichheit welken Grases, auf diese Augen einer sterbenden Gazelle und auf ihre melancholische Haltung. Esther erhob sich und ging dem Spanier entgegen, und zwar mit einer Bewegung, die bewies, wie wenig Leben sie nur noch in sich hatte, und auch, sagen wir es, wie wenig Freude am Leben. Dieses arme Bohèmegeschöpf, diese verwundete wilde Schwalbe erregte zum zweitenmal Carlos Herreras Mitleid. Der düstere Priester, den Gott nur zur Erfüllung seiner Rache hätte verwenden dürfen, empfing die Kranke mit einem Lächeln, das ebensoviel Bitterkeit wie Süße enthielt, ebensoviel Rachsucht wie Erbarmen. Esther war seit ihrem nahezu klösterlichen Leben an das Nachdenken gewöhnt, an die Einkehr in sich selber, und jetzt empfand sie zum zweitenmal ein Gefühl des Mißtrauens beim Anblick ihres Gönners; aber wie beim erstenmal wurde sie von seinen Worten auf der Stelle beruhigt.

»Nun, mein liebes Kind,« sagte er, »weshalb haben Sie mir nie von Lucien gesprochen?« »Ich hatte Ihnen versprochen,« erwiderte sie, während sie in krampfhafter Bewegung vom Kopf bis zu den Füßen erbebte, »ich hatte Ihnen geschworen, diesen Namen nicht mehr auszusprechen.« »Trotzdem aber haben Sie nicht aufgehört, an ihn zu denken.« »Das ist mein einziger Fehler. In jeder Stunde denke ich an ihn; als Sie sich zeigten, sagte ich diesen Namen vor mich hin.« »Die Trennung tötet Sie?«

Statt aller Antwort neigte Esther den Kopf, wie es die Kranken tun, die schon die Grabesluft riechen. »Ihn wiedersehen?« fragte er. »Das wäre das Leben,« erwiderte sie. »Denken Sie nur mit der Seele an ihn?« »Ach, die Liebe läßt sich nicht teilen.« »Tochter des verfluchten Geschlechts! Ich habe alles getan, um dich zu retten; ich überlasse dich deinem Schicksal: du sollst ihn wiedersehen!« »Weshalb sollten Sie mein Glück schmähen? Kann ich nicht Lucien lieben und doch die Tugend üben, die ich ebensosehr liebe wie ihn? Bin ich nicht bereit, hier für sie zu sterben, wie ich bereit wäre, für ihn zu sterben? Will ich nicht umkommen in diesem doppelten Fanatismus: für die Tugend, die mich seiner würdig machte, für ihn, der mich der Tugend in die Arme warf? Ja, bereit zu sterben, ohne ihn wiederzusehen; bereit zu leben, wenn ich ihn wiedersehe. Gott wird mich richten.« Ihre Farbe war zurückgekehrt; ihre Blässe hatte einen goldigen Ton angenommen. Esther wurde noch einmal begnadigt.

»Am Tage, nach dem Sie im Wasser der Taufe gebadet werden, sollen Sie Lucien wiedersehen, und wenn Sie glauben, tugendhaft leben zu können, indem Sie für ihn leben, so sollen Sie sich nicht mehr trennen.«

Der Priester mußte Esther aufheben, da ihr die Knie versagten. Das arme Mädchen war gestürzt, als hätte der Boden unter ihren Füßen nachgegeben; der Abbé setzte sie auf die Bank, und als sie die Sprache wiederfand, sagte sie: »Weshalb nicht heute?« »Wollen Sie Seiner Hochwürden den Triumph Ihrer Taufe und Bekehrung rauben? Sie sind Lucien zu nah, um Gott nicht fern zu sein.« »Ja, ich dachte an nichts mehr!« »Sie werden nie irgendeiner Religion angehören,« sagte der Priester mit einer Regung tiefer Ironie. »Gott ist gut,« erwiderte sie; »er liest in meinem Herzen.«

Besiegt von der entzückenden Naivität, die in Esthers Stimme, Blick, Gesten und Haltung durchbrach, küßte Herrera sie zum erstenmal auf die Stirn. »Die Wüstlinge hatten dir mit Recht deinen Namen gegeben: du würdest Gott, den Vater, verführen. Noch ein paar Tage, es ist nötig, und nachher sollt ihr alle beide frei sein.« »Alle beide!« wiederholte sie in ekstatischer Freude.

Diese aus der Ferne gesehene Szene setzte die Zöglinginnen und die Oberinnen in Erstaunen; sie glaubten einer Zauberverwandlung beizuwohnen, als sie Esther mit ihrem früheren Selbst verglichen. Das völlig verwandelte Kind lebte jetzt. Sie zeigte sich in ihrer wahren Liebesnatur, zierlich, kokett, lockend und lustig: kurz, sie war auferweckt.

Herrera wohnte in der Rue Cassette, dicht bei Saint-Sulpice, der Kirche, der er sich angeschlossen hatte. Dieser Bau sagte dem Spanier mit seinem harten und trockenen Stil zu, denn seine Religion hatte viel von der der Dominikaner. Als ein verlorener Posten der verschlagenen Politik Ferdinands VII. leistete er der konstitutionellen Sache schlimme Dienste, obwohl er wußte, daß diese Ergebenheit niemals ihren Lohn finden konnte, es sei denn bei einer Wiedereinsetzung des Rey netto. Und Carlos Herrera hatte sich in dem Augenblick, als es schien, daß die Cortes nicht mehr zu stürzen waren, mit Leib und Seele der Camarilla ergeben. Für die Welt verriet dieses Verhalten eine überlegene Seele. Der Feldzug des Herzogs von Angoulême war erfolgt, König Ferdinand herrschte, und Carlos Herrera ging nicht nach Madrid, um sich den Preis für seine Dienste zu holen. Gegen die Neugier verteidigte ihn ein diplomatisches Schweigen, und als Grund seines Aufenthalts in Paris führte er seine lebhafte Neigung zu Lucien von Rubempré an, der der junge Mann bereits die Ordonnanz des Königs über seinen Namenswechsel verdankte. Herrera lebte übrigens, wie der Tradition nach alle Priester leben, die in geheimen Missionen Verwendung sein würde. Diese Fragen derer, die einen Blick auf den lange verheimlichten Bund werfen konnten, strebten danach, ein furchtbares Geheimnis zu durchschauen, das auch Lucien erst seit wenigen Tagen kannte. Carlos war für zwei ehrgeizig; das zeigte sein Verhalten denen, die ihn kannten und die alle glaubten, Lucien sei ein natürliches Kind dieses Priesters.

Fünfzehn Monate nach seinem Erfolg in der Oper, der ihn zu früh in eine Gesellschaft hineinwarf, in der der Abbé ihn erst sehen wollte, wenn er ihn durchaus gegen die Welt gewaffnet hätte, standen drei schöne Pferde in Luciens Stall, ein Coupé für den Abend, ein Kabriolett und ein Tilbury für den Vormittag. Er aß in der Stadt. Herreras Ahnungen hatten sich erfüllt: ein Leben der Zerstreuungen hatte sich seines Schülers bemächtigt; aber er hatte es notwendig gefunden, der sinnlosen Liebe, die dieser junge Mann für Esther im Herzen bewahrte, Ablenkung zu verschaffen. Nachdem er etwa vierzigtausend Franken ausgegeben hatte, hatte jede Torheit Lucien nur um so lebhafter zu der Torpille zurückgeführt, die er hartnäckig suchte; und da er sie nicht fand, so wurde sie für ihn das, was das Wild für den Jäger ist. Konnte Herrera wissen, welcher Art die Liebe eines Dichters ist? Hat sich einem dieser großen kleinen Leute diese Empfindung einmal in den Kopf gesetzt, wie sie das Herz versengt und die Sinne durchdrungen hat, so wird der Dichter der Menschheit ebensosehr durch seine Liebe überlegen, wie er es durch die Macht seiner Phantasie ist. Da er einer Laune der intellektuellen Zeugung die seltene Fähigkeit verdankt, die Natur durch Bilder auszudrücken, denen er zugleich Empfindung und Gedanken aufprägt, leiht er seiner Liebe die Flügel seines Geistes; er empfindet und er malt, er handelt und denkt, er vervielfältigt seine Empfindungen durch sein Denken, er verdreifacht die gegenwärtige Seligkeit durch stets weiß, beflügelt, rein und geheimnisvoll, wie sie für ihn geworden war, da sie erriet, daß er sie so wollte.

Gegen Ende des Mai 1825 hatte Lucien seine ganze Lebhaftigkeit eingebüßt; er ging nicht mehr aus, er speiste mit Herrera, war nachdenklich, arbeitete, las die Sammlung diplomatischer Traktate, saß nach türkischer Weise auf einem Diwan und rauchte am Tage drei oder vier Hukas. Sein Groom hatte mehr damit zu tun, die Schläuche dieses schönen Werkzeugs zu reinigen und zu parfümieren, als das Fell der Pferde zu striegeln und sie für die Ausfahrten im Bois mit Rosen zu schmücken. An dem Tage, als der Spanier Luciens Stirn bleich sah, als er in den Torheiten der unterdrückten Liebe die Spuren der Krankheit erkannte, wollte er dieses Menschenherz ergründen, auf das er sein Leben gebaut hatte.

Eines schönen Abends, als Lucien, in einem Sessel liegend, mechanisch durch die Bäume des Gartens dem Sonnenuntergang zusah, indem er, wie es gedankenverlorene Raucher tun, in langen und gleichmäßigen Wolken den Schleier seines parfümierten Rauches ausbreitete, zog ihn ein tiefer Seufzer aus seiner Träumerei. Er wandte sich um und sah den Abbé mit untergeschlagenen Armen dastehen.

»Du hast dagestanden?« sagte der Dichter. »Seit langem,« sagte der Priester; »meine Gedanken sind dem Flug der deinen gefolgt … « Lucien verstand dieses Wort. »Ich habe mich nie für eine eherne Natur ausgegeben, wie du es bist. Für mich ist das Leben abwechselnd ein Paradies und eine Hölle; aber wenn es gerade einmal weder das eine noch das andere ist, so langweilt es mich; und ich langweile mich … « »Wie kann man sich langweilen, wenn man so viele großartige Hoffnungen vor sich hat? … « »Wenn man an diese Hoffnungen nicht glaubt, oder wenn sie zu verschleiert sind … « »Keine Dummheiten!« sagte der du klein bist; aber du darfst nicht den Prägstock zerbrechen, mit dem wir Geld münzen. Ich erlaube dir alles, ausgenommen die Fehler, die deine Zukunft zertrümmern würden. Wenn ich dir die Salons des Faubourg Saint-Germain öffne, so verbiete ich dir, dich in der Gosse zu wälzen. Lucien, ich werde in deinem Interesse wie eine Eisenschranke sein; ich will alles von dir, für dich erdulden. Und deshalb habe ich deinen Mangel an Fühlung mit dem Spiel des Lebens in die Finesse eines gewandten Spielers verwandelt … «

Lucien hob in einer Bewegung wütender Schroffheit den Kopf. »Ich habe die Torpille entführt!« »Du?« schrie Lucien auf. In einem Anfall tierischer Wut sprang der Dichter empor und warf dem Priester, den er so heftig zurückstieß, daß er den Athleten zu Boden schleuderte, das Bocchinetto aus Gold und Edelsteinen ins Gesicht. »Ich,« sagte der Spanier, indem er sich erhob und ohne seine furchtbare Würde zu verlieren.

Die schwarze Perücke war gefallen. Ein Schädel, blank wie ein Totenkopf, gab diesem Manne seine wahre Physiognomie zurück; sie war grauenhaft. Lucien lag mit hängenden Armen und überwältigt auf seinem Diwan und starrte den Abbé mit stumpfer Miene an.

»Ich habe sie entführt,« wiederholte der Priester. »Was hast du aus ihr gemacht? Du hast sie am Morgen nach dem Maskenball entführt … « »Ja, am Morgen nach dem Tage, als ich sah, wie ein Wesen, das dir gehörte, von Schelmen beschimpft wurde, denen ich nicht den Fuß in den … « »Schelmen?« sagte Lucien, indem er ihn unterbrach, »sag Ungeheuern, neben denen die, die man guillotiniert, Engel sind. Weißt du, was die Torpille für drei unter ihnen getan hat? Einer von ihnen war zwei Monate lang ihr Liebhaber. Sie war arm und suchte sich ihr Brot in der Gosse; er hatte keinen Heller, er war wie ich, als du mir begegnetest, dem Fluß recht nahe; mein Bürschchen stand nachts auf und ging zu dem Schrank, in dem die Reste der Mittagsmahlzeit dieses Mädchens waren, und aß sie auf; sie entdeckte schließlich diese Kniffe und begriff die Scham; sie sorgte dafür, daß viele Reste übrig blieben, und sie war glücklich; sie hat das niemandem als mir gesagt, in ihrem Fiaker, als wir aus der Oper kamen. Der zweite hatte gestohlen; aber ehe man den Diebstahl bemerken konnte, lieh sie ihm die Summe, die er wieder hinlegen konnte; und er hat stets vergessen, sie dem armen Mädchen zurückzugeben. Für den dritten hat sie sein Glück gemacht, indem sie eine Komödie spielte, in der sich Figaros Genie zeigte: sie hat sich für seine Frau ausgegeben und ist die Geliebte eines allmächtigen Mannes geworden, der sie für die naivste der Bürgerfrauen hielt. Dem einen das Leben, dem andern die Ehre, dem letzten sein Vermögen, und das bedeutet heute all jenes! Und so wird es ihr von ihnen gelohnt … « »Willst du, daß sie sterben?« sagte Herrera, dem eine Träne in die Augen trat. »Nun, da bist du! Jetzt erkenne ich dich … « »Nein, erfahre alles, rasender Dichter,« sagte der Priester: »die Torpille lebt nicht mehr.«

Lucien warf sich so kräftig auf Herrera, um ihn an der Kehle zu packen, daß jeder andere gestürzt wäre; aber der Arm des Spaniers hielt den Dichter zurück.

»Höre doch zu,« sagte er kühl. »Ich habe eine keusche, reine, wohlerzogene, fromme Frau aus ihr gemacht, eine anständige Frau; sie ist auf dem Wege der Bildung. Sie kann, sie muß, unter der Herrschaft deiner Liebe, eine Ninon, eine Marion Delorme, eine Dubarry werden, wie dieser Journalist in der Oper sagte. Du wirst sie als deine Geliebte anerkennen oder hinter dem Vorhang deiner Schöpfung verborgen bleiben, was verständiger ist! Das eine wie das andere wird dir Vorteil und Ruhm, Genuß und Fortschritt eintragen. Aber wenn du ein ebenso großer Politiker wie Dichter bist, so wird dir Esther nur eine Dirne sein; denn später wird sie uns vielleicht aus der Verlegenheit ziehen, sie ist ihr Gewicht in Gold wert. Trinke, aber berausche dich nicht. Wenn ich deiner Leidenschaft nicht in die Zügel gefallen wäre, wo wärst du da heute? Du hättest dich mit der Torpille im Schlamm des Elends gewälzt, aus dem ich dich herausgezogen habe … Da, lies!« sagte Herrera so einfach wie Talma im ›Manli us‹, den er nie gesehen hatte.

Dem Dichter fiel ein Papier auf die Knie und entriß ihn der ekstatischen Verwunderung, in die ihn diese beängstigende Antwort gestürzt hatte; er nahm es und las den ersten je von Fräulein Esther geschriebenen Brief:

»An den Abbé Carlos Herrera.

Mein teurer Gönner! Werden Sie nicht glauben, daß bei mir die Dankbarkeit den Vortritt vor der Liebe hat, wenn Sie sehen, daß ich die Fähigkeit, meine Gedanken schriftlich auszudrücken, zuerst dazu benutze, Ihnen zu danken, statt eine Liebe zu schildern, die Lucien vielleicht vergessen hat? Aber ich werde Ihnen sagen, göttlicher Mann, was ich ihm zu sagen nicht wagen würde, obwohl er zu meinem Glück noch auf der Erde steht. Die gestrige Zeremonie hat Schätze der Gnade in mein Inneres gegossen, und also lege ich mein Schicksal in Ihre Hand. Müßte ich sterben, indem ich meinem Geliebten fernbleibe, so werde ich gereinigt sterben wie Magdalena, und meine Seele wird für ihn die Nebenbuhlerin seines Schutzengels werden. Werde ich je das gestrige Fest vergessen? Wie sollte ich dem glorreichen Thron entsagen, auf den ich gestiegen bin? Gestern habe ich all meine Besudelungen im Wasser der Taufe abgewaschen, und ich habe den heiligen Leib unseres Heilandes empfangen; ich bin zu einem seiner Tabernakel geworden. In jenem Augenblick habe ich den Gesang der Engel gehört, ich war mehr als eine Frau, ich wurde einem Leben des Lichts geboren, mitten unter den Zurufen der Erde, von der Welt bewundert, in einem Gewölk des Weihrauchs und der Gebete, das berauschte, geschmückt wie eine Jungfrau für einen himmlischen Gatten. Als ich mich, was ich niemals hoffen konnte, Luciens würdig fand, habe ich jede unreine Liebe abgeschworen, und ich will nicht mehr auf andern Wegen als denen der Tugend wandeln. Wenn mein Leib schwächer ist als meine Seele, so möge er zugrunde gehen! Seien Sie Richter über mein Schicksal, und wenn ich sterbe, so sagen Sie Lucien, daß ich für ihn gestorben bin, indem ich für Gott geboren wurde. Sonntag Abend.«

Lucien hob seine tränenfeuchten Augen.

»Du kennst die Wohnung der dicken Caroline Bellefeuille, in der Rue Taitbout,« fuhr der Spanier fort. »Dieses Mädchen war, als sie von ihrem Richter verlassen wurde, in furchtbarer Not, sie sollte gepfändet werden; ich habe ihre Wohnung in Bausch und Bogen kaufen lassen, sie ist mit ihren Sachen ausgezogen. Esther, dieser Engel, der zum Himmel steigen wollte, ist dort niedergestiegen und wartet auf dich.«

In diesem Augenblick hörte Lucien im Hof seine stampfenden Pferde; er hatte nicht die Kraft, seine Bewunderung für eine Ergebenheit auszusprechen, die nur er zu würdigen wußte: er warf sich dem Menschen, den er beschimpft hatte, in die Arme und machte alles durch einen einzigen Blick und seine überströmende Empfindung wieder gut; dann eilte er die Treppe hinunter, warf seinem Groom Esthers Adresse ins Ohr, und die Pferde flogen davon, als belebte die Leidenschaft ihres Herrn ihre Beine.

Am folgenden Tage ging ein Mann, den die Vorübergehenden nach seiner Kleidung hätten für einen verkleideten Gendarmen halten können, in der Rue Taitbout einem Hause gegenüber auf und ab, als wartete er, daß jemand herauskäme; sein Schritt war der erregter Leute. Man wird in Paris oft solche leidenschaftlichen Spaziergänger treffen, echte Gendarmen, die einen widerspenstigen Nationalgardisten belauern, Gerichtsdiener, die ihre Maßnahmen für eine Verhaftung treffen, Gläubiger, die darauf sinnen, ihren Schuldnern einen Schimpf anzutun, wenn sie sich eingeschlossen halten, eifersüchtige und argwöhnische Liebhaber oder Ehemänner, oder schließlich Freunde, die für Freunde Posten stehen; aber recht selten wird man einem Gesicht begegnen, das von den wilden, rauhen Gedanken entflammt ist, wie sie das Gesicht des düstern Athleten belebten, der unter den Fenstern Fräulein Esthers mit der gedankenverlorenen Eile eines Bären im Käfig hin und her ging. Gegen Mittag tat sich ein Fenster auf, um die Hand einer Kammerfrau hinauszulassen, die die mit einer Polsterfütterung versehenen Läden aufstieß. Ein paar Augenblicke darauf trat Esther im Negligé vor, um frische Luft zu schöpfen; sie stützte sich auf Lucien. Wer sie gesehen hätte, hätte sie für das Original einer anmutigen englischen Vignette gehalten. Esther bemerkte sofort die Basiliskenaugen des spanischen Priesters, und wie von einer Kugel getroffen, stieß das arme Geschöpf einen furchtbaren Schrei aus.

»Da ist der schreckliche Priester,« sagte sie, indem sie ihn Lucien zeigte. »Der!« sagte er lächelnd, »der ist so wenig Priester wie du … « »Was ist er denn?« fragte sie beängstigt. »Nun, ein alter Schuft, der nur an den Teufel glaubt,« sagte Lucien.

Wäre dieser Lichtstrahl, der auf die Geheimnisse des falschen Priesters fiel, von einem weniger ergebenen Wesen aufgefangen worden, als Esther es war, so hätte er Lucien auf immer vernichten können. Als die beiden Liebenden vom Fenster ihres Schlafzimmers in das Eßzimmer hinübergingen, wo ihnen eben das Frühstück serviert worden war, begegneten sie Carlos Herrera.

ein Mädchen aus gutem Hause heiraten, zu deren Gunsten der König uns diese Gnade erweisen wird. Dieser Bund wird Lucien in die Welt des Hofes einführen. Dieses Kind, aus dem ich einen Mann zu machen verstanden habe, wird zunächst Gesandtschaftssekretär werden; später wird er an einem deutschen Hofe Botschafter, und mit Gottes oder meiner Hilfe – und meine ist mehr wert – wird er sich eines Tages auf die Bänke der Pairs setzen … « »Oder auf die Bänke … « sagte Lucien, indem er diesen Menschen unterbrach. »Schweig!« rief Carlos, indem er Lucien mit seiner breiten Hand den Mund zuhielt. »Ein solches Geheimnis einer Frau! … « flüsterte er ihm ins Ohr. »Esther eine Frau!« rief der Verfasser der ›Margueriten‹. »Immer noch Sonette?« sagte der Spanier, »oder besser Albernheiten! All diese Engel werden früher oder später wieder zu Frauen; nun hat die Frau immer Augenblicke, in denen sie zugleich Affe und Kind ist: zwei Wesen, die uns töten, weil sie lachen wollen … Esther, mein Juwel,« sagte er zu der entsetzten jungen Zöglingin, »ich habe Ihnen zur Kammerfrau ein Geschöpf gesucht, das mir ergeben ist, als wäre es meine Tochter. Zur Köchin werden Sie eine Mulattin haben; das gibt einem Hause einen stolzen Ton. Mit Europa und Asien werden Sie hier für einen Tausendfrankenschein monatlich, alles eingeschlossen, wie eine Königin … des Theaters leben können. Europa ist Schneiderin, Modistin und Statistin gewesen; Asien hat einem Lord und Feinschmecker gedient. Diese beiden Geschöpfe werden für Sie zwei Feen sein.«

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