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Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
Das Gespräch fortzusetzen war nicht möglich, aber es machte Spaß, von Zeit zu Zeit irgendetwas herauszuschreien.
Als sie eine Milizpatrouille entdeckten, rannten die Jungs lachend und Unverständliches schreiend in die Richtung der leeren Marktstände, an denen tagsüber mit allem Möglichen gehandelt wurde.
Sascha fiel auf alle viere und trank sogar ein bisschen aus einer Pfütze, in der sich sein Gesicht im Licht der Straßenlampe trübe und verzerrt spiegelte. Die vornweg stürmenden Jungs hatten Saschas Ausrutscher nicht einmal bemerkt.
Die Marktstände bestanden aus eisernen, teilweise verbeulten Ladentischen. An jedem Ladentisch waren zwei Träger samt Dach aus verrostetem Blech angeschweißt.
Während die Jungs die Markstände entlanggingen, schepperte es immer wieder, und die Ladentische wackelten, einige schwankten sogar heftig und drohten umzufallen. Sie rempelten wohl die Ladentische an, vielleicht traten sie auch dagegen.
Die Jungs trafen auf einen Mann kaukasischer Nationalität, der ihnen mit eingezogenen Schultern und gekrümmtem Rücken entgegenkam. Sie begrüßten ihn mit aufrichtiger Freude mit den Worten »Salam Aleikum« und »Allah Akbar«.
Kaukasier kontrollierten diesen Markt, das wusste Sascha. Aber jetzt, kurz vor Mitternacht, hatten sich alle offenbar mit ihren Einnahmen schon verlaufen. Hier in der Nähe befanden sich übrigens zwei oder drei Bars und außerdem ein Kasino, in dem sich junge Menschen vergnügten, die guttural und laut sprachen, kleingewachsen waren, Lederjacken und schwarze spitze Stiefeletten trugen.
Hinter einem der Ladentische spielten die Jungs die Szene »Ein Sohn des Kaukasus verkauft eine nicht ganz ausgetrunkene Flasche Bier an russische Alkoholiker«.
Rogow, überdreht und mit rotem Kopf, stellte possierlich einen kaukasischen Händler dar, der die Vorzüge des Biers und die seltene Form der Flasche anpries. Wenja feilschte, tölpelte herum und feixte. Sascha, der trotz seines betrunkenen Zustandes an Rogow, der normalerweise nicht zu Scherzen neigte, dessen Sinn für Humor bemerkte, half Wenja beim Feilschen; er fuchtelte mit den Armen, schrie herum und ließ in Sekundenschnelle die Zigarette aus dem Mund fallen, die er bei jemanden, bei wem, konnte er sich nicht mehr erinnern, geschnorrt hatte. Und selbst Negativ, der sich eine halbe Flasche Bier genehmigt hatte, verzog die Lippen und zwang sich zu lächeln. Im Widerschein des blinkenden Schilds der nicht weit entfernten Bar war zu erkennen, dass Negativs Augen weicher geworden waren.
»Sie ist doch … halbleer«, sagte Wenja und schnippte mit seinem gebogenen Finger gegen die Flasche.
»He-e, was bist du für einer? He-e …«, antwortete Rogow kopfschüttelnd. »Ich will ja nur den Einsatz von dir.«
»Und Kappe gibt’s keine …«
»Was brauchst du eine Kappe, he? Willst du trinken oder mit der Kappe spielen?«
Niemand hatte bemerkt, wie sie aufgetaucht waren, die weißen Zähne bleckend[107], schwarz, ungefähr sechs Mann. Sie hatten auf den Stufen der Bar geraucht, der »Handel« hatte ihr Interesse geweckt, und sie waren ernsthaft beleidigt, als sie das Gespräch verfolgten. Einer hatte eine offene Bierflasche in der Hand. Aus irgendeinem Grund schüttelte er sie.
Sie waren alle jung. Sascha bemerkte das sogar in seinem Halbdelirium[108], hatte aber keine Kraft mehr, darüber beunruhigt zu sein. Mit Erwachsenen hätte man sich arrangieren können, das ja. Mit diesen Jungen da – nur durch Entschuldigungen und Selbsterniedrigung; das waren ihnen sofort klar.
Einige Momente lang standen sie alle schweigend da.
Sascha drehte den Kopf und spürte plötzlich, dass er wegen der heftigen Erregung ein wenig nüchterner wurde.
Er war es gewohnt, zu Beginn einer Schlägerei wenigstens einige Worte zu sagen.
»Was wollen wir denn?«, fragte er und schmiss seinen fast zu Ende gerauchten aber noch glimmenden Zigarettenstummel in den Hals einer Bierflasche; jener Bierflasche, die der Kaukasier in der Hand hielt. Sascha bemerkte sogar noch seine merkwürdig weißen, aber mit dichten schwarzen Haaren bedeckten Finger. Der Kaukasier schaute ungläubig dem Stummel im Hals der Bierflasche nach. Der Stummel gab, als er ins Bier fiel, ein leichtes Zischen von sich.
Dann ging alles sehr viel schneller.
Sascha atmete ein, warf den Kopf zurück und ließ seine Stirn gegen die Nasenwurzel des Kaukasiers donnern. Etwas zerbarst mit saftigem Klang, die Flasche fiel aus den weißen Händen und rollte davon, die Flüssigkeit lief aus. Der Kaukasier fiel auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stand nicht mehr auf.
Sascha wollte einen zweiten Kaukasier niederstrecken, erhielt aber selbst einen scharfen, wenn auch nicht sehr starken Schlag gegen das Kinn. Er sprang einige Schritte nach hinten und sah, wie Wenja die Flasche, die eben noch das Objekt ihres scherzhaften Handels gewesen war, einem der Gegner ins Gesicht warf und traf.
… Sascha fiel, fluchte heftig, er traf selten[109], bekam selbst aber auch wenig ab, weil er vor seinem Angreifer zurückwich und dabei, wie es ihm schien, immer bedrohlichere Kampfposen einnahm.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Wenja sich schon mit zwei anderen auf der Fahrbahn schlug, dass Fahrzeuge sie anhupten, während sie versuchten, an den Kämpfenden vorbeizufahren …
… außerdem bemerkte er Negativ, der auf einem zu Boden gestreckten saß und dem unter ihm Liegenden harte und offenbar sehr schmerzhafte Schläge ins Gesicht versetzte[110].
Das nächste Bild war ein Auto, das neben Wenja abgebremst hatte. Aus ihm stürzten fünf kräftige Typen, die sofort, als würden sie Beute jagen, laut in ihrem Dialekt zu brüllen begannen. Wenja sprang zurück und schwenkte ein Metallstück.
Aus der Bar kamen weitere Leute gelaufen, und sie hätten die Jungs wohl plattgemacht, hätte Rogow sie nicht aufgehalten, indem er einen, dann noch einen zweiten und dritten Ladentischumwarf.
Die Ladentische versperrten nun den Weg zwischen einer Wand auf der einen und einem Zaun auf der anderen Seite, der nicht sehr hoch war, er reichte gerade bis zur Hüfte und begrenzte die Fahrbahn. Während die aus der Bar kommenden Kaukasier über den Zaun stiegen, um die von Rogow hingeworfene Barrikade zu umlaufen, gelang es Ljoscha, Negativ am Kragen zu packen, von seinem Opfer wegzuziehen und den Mann, mit dem Sascha sich erfolglos einen Kampf lieferte, umzuwerfen.
»Wenja, hierher!«, schrie Rogow dabei.
Wenja schleuderte das Metallstück gegen seine Angreifer und sprang über den Zaun; gleich zwei Milizautos kamen von irgendwoher die Straße entlang angerast, und unter Sirenengeheul und dem Geschrei der Miliz rannten alle, die sich am Markt versammelt hatten, in verschiedene Richtungen davon.
Sascha kam es vor, als würde er allen vorweg laufen. In seiner Kehle blubberte es merkwürdig. Hinter seinem Rücken hörte er Trampeln und war überzeugt, dass es sich um Ljoscha und Negativ handelte und dass auch Wenja nicht weit entfernt sein konnte.
Es war sinnlos sich umzudrehen. Sascha fluchte, drohte gegen irgendetwas zu stoßen. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die Gesichter der hinter ihm Laufenden erkennen konnte. Er wäre gegen eine Betonwand gelaufen, hätte er nicht gehört, wie jemand gerade über sie kletterte …
Er tastete vor sich – ja, eine Wand.
Sascha sprang hinauf und kletterte hinterher.
»Der Markt!«, wurde Sascha klar, als er auf der anderen Seite hinuntersprang. »Ich bin auf dem Markt!«
Nach der Schlägerei und dem Laufen hatte sich in seinem Mund eine Unmenge Speichel angesammelt, Sascha musste ausspucken und drehte den Kopf, um etwas, das im Gesicht hängen geblieben war, abzuschütteln. Es klebte am Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel ab.
Um ihn herum erhoben sich Hallen, es gab praktisch keine Beleuchtung.
Schwer atmend tappte Sascha sinnlos im Dunkeln herum und glaubte Kisten, leeres Verpackungsmaterial zu erkennen, das übereinander gestapelt und an die Mauer der nächstgelegenen Halle gelehnt war.
Sascha wollte genau dorthin, er suchte einen Unterschlupf, in dem man sich hinter den Kisten verstecken konnte und atmen, atmen – lange und schwere Speichelfäden hingen an ihm herunter.
Völlig entkräftet von den Ereignissen und vom Alkohol, zwängte er sich zwischen den Kisten näher zur Mauer und trat auf etwas Weiches. Auf einen sitzenden Menschen.
»He«, sagte Sascha leise und ging in die Hocke, dann auf alle viere, um nicht zu fallen … spuckte noch einmal lange aus und kniff die Augen zusammen, um den Sitzenden zu erkennen. »Wer ist da? Nimm verdammt noch mal die Hände weg …«
Der vor ihm Sitzende nahm die Hände vom Gesicht. Sascha sah, dass es ein Kaukasier war, ein junger, fast noch ein Kind, aber in Lederjacke, mit spitzen Stiefeletten und in Jeans.
»Was – Scheiße noch mal – tust du hier?«, fragte Sascha heiser und beinahe naiv. Der Bursche schaute verblüfft – entweder erschrocken oder frech.
Sascha atmete nochmals tief ein, senkte den Kopf und ließ die heiße Zunge heraushängen, die ganz süß schmeckte.
»Rück zur Seite …«, sagte Sascha, setzte sich neben den Jungen und fasste ihn an der Schulter. »Scheiß dich nicht an. Wir bleiben jetzt hier sitzen und gehen dann … Wo sind meine Freunde, Scheiße nochmal … Weißt du nicht, wo meine Freunde sind?«
»Nein.«
»N-a-i-n«, äffte Sascha nach. »Wie heißt du?«, fragte er nach einer Pause.
»Sascha.«
»Ich heiße auch Sascha. Nur bist du nicht Sascha, sondern irgendein Sacha. Alchu. Aslachan. Richtig?«
Er bekam keine Antwort.
Sascha hatte die höchst russische Angewohnheit, im Suff sinnlose Gespräche zu führen.
»Woher kommst du?«
»Jerewan.«
»Oh …«, sagte Sascha unbestimmt. »Wieso habt ihr begonnen, uns zu prügeln, ha? Sacha!«
»Ich weiß nicht. Ich bin später gekommen.«
»Verspätet«, ätzte Sascha. »Ach was, sei nicht beleidigt …«, sagte er und schwieg wieder. »… wir machen Revolution, bringen alle Arschlöcher um – dann komme ich zu dir nach Almaty und wir trinken Tee auf der Veranda.«
»Ich bin aus Jerewan.«
»Wir kommen zu dir nach Teheran.« Sascha stellt sich weiter dumm, obwohl er alles verstanden hatte. »Wir werden Tee trinken auf der Veranda. Hast du eine Veranda?«
»Still … Da geht jemand …«
Eine Minute später leuchtete ihnen eine Taschenlampe ins Gesicht.
»Aufstehen«, sagte der Milizionär.
Es waren zwei Mitarbeiter des Patrouillendienstes, und zusätzlich ein Marktwächter, ein alter Mann.
Sie legten Sascha Handschellen an, Sacha auch.
Obwohl die Milizionäre bei Letzterem kurz zögerten.
»Und den?«, fragte der eine.
»Ja, was?«, antwortete der zweite ohne besonderen Nachdruck in der Stimme »Wohin mit ihm? Nehmen wir ihn auch mit.«
Sie führten die Verhafteten zum Patrouillenauto, das direkt zum Haupttor des Marktes gefahren war.
Sie öffneten die hinteren Türen der grünen Minna[111], setzten sie einander gegenüber in den Käfig hinter dem Rücksitz, dann schlugen sie fünf Mal die Tür zu, die sich nicht schließen lassen wollte.
Wenn Sascha bei Schlaglöchern hochgeschleudert wurde und in den Kurven umkippte, berührte er mit der Stirn die Stoffverkleidung des Fahrzeuges. Mit einer gewissen Nüchternheit dachte er, dass sein freies Leben jetzt beendet war.
Sie bringen ihn jetzt dorthin, und im Laufe der Überprüfung wird sich rasch herausstellen, dass er in Moskau randaliert hatte, und das würde dann das Ende sein.
Es gelang ihm nicht, ernsthaft darüber zu erschrecken.
Man brachte sie aufs Revier. Aus dem verglasten Wachzimmer, in dem ein schnauzbärtiger Milizhauptmann am Telefon sprach, während er mit einem Löffel den Tee umrührte, kam ein schläfriger, sich vor Müdigkeit streckender Milizsergeant heraus, offenbar der Assistent des Diensthabenden …
Sascha betrachtete mürrisch die violetten Wände der Abteilung, die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische[112]; wieder dachte er, dass er sich sein ganzes Leben lang daran erinnern würde.
Und außerdem dachte er, dass es noch – wie letztes Mal – die Möglichkeit gab, auszureißen, durch die offene Tür hinauszulaufen, in irgendeinen Hof zu verschwinden, irgendwohin … aber irgendwie hatte er weder Kraft noch Lust dazu.
Man nahm Sascha die Handschellen ab, und er rieb sich, wie jeder Mensch, dem man die Handschellen abnimmt, die Handgelenke.
»Auch vom Bahnhof ?«, fragte der Sergeant die vom Patrouillendienst so leise, als sei er sehr müde.
»Vom Bahnhof …«, antworteten sie.
»Haben wir Waffen, Drogen, spitze und scharfe Gegenstände?«, fragte der Sergeant Sascha und den kaukasischen Jungen.
Der Kaukasier schüttelte den Kopf.
»Hab alles bei der Verhaftung weggeworfen«, antwortete Sascha und verstand am melancholischen Gesichtsausdruck des Sergeanten, dass auch der diesen Scherz schon hunderte Male gehört hatte.
Sie mussten den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch legen. Sascha hatte nichts bei sich, der Kaukasier ein Handy und einen fetten Geldbeutel.
Sie klopften Sascha an den Seiten, Beinen und Arschbacken ab, überprüften die Ärmel, baten, die Hosenbeine anzuheben, um zu sehen, ob er nicht in den Schuhen verbotene Gegenstände bei sich trug.
Ein Riegel wurde scheppernd zurückgezogen, man schob Sascha in einen kleinen Raum, der auf drei Seiten von einer Steinmauer und an der vierten von einem Gitter begrenzt war.
Sascha sah Wenja, Negativ und Rogow sofort.
Wenja und Negativ saßen in der Hocke – es gab weder Stühle noch Bänke im Raum. Rogow stand, er lehnte sich an die grün gestrichenen Stäbe. Durch die Stäbe hindurch waren ein Tisch und ein Safe zu sehen, in das der Sergeant den Geldbeutel und das Handy des Kaukasiers legte.
»Oho, Sanja haben sie auch gefesselt!«, sagte Wenja und lächelte. Auch Rogow lächelte.
Negativ hob den Kopf und schüttelte ihn – Sascha verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Was machst du denn hier, Täubchen?«, fragte Wenja jemanden, der hinter Sascha stand.
Sascha drehte sich um und sah, dass sie nach ihm den Jungen aus dem Kaukasus hineingestoßen hatten.
Der blickte sich suchend um, wo er unterkommen könnte, so weit wie möglich entfernt von den anderen, die bereits in der Zelle waren.
Neben Saschas Genossen saß hier noch auf dem Boden, das Gesicht auf die Knie gedrückt, ein besoffener Penner mit zugeschwollener Visage und einem kraushaarigen, verdreckten Kopf.
Der Kaukasier blieb bei der Tür stehen, die mit einem Knall geschlossen wurde.
»Heißt das, sie haben nur uns erwischt?«, fragte Sascha, dem vom Anblick der Genossen gleich leichter ums Herz wurde.
»Genau das«, sagte Wenja.
»Haltet alle das Maul, wie oft soll ich das noch sagen!«, schrie plötzlich der Sergeant; das Geschrei ließ den Penner seine geschwollene Fresse mit dem Hämatom heben. Er stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand ab, stand schwerfällig auf und ging – mühsam das Gleichgewicht haltend – fast bis zum Gitter, von wo aus der Tisch und der erboste Sergeant zu sehen waren.
»Warum bin ich hier, Chef ? Mach auf, du Widerling!«, schrie der Kerl.
Der Assistent stieß einen Fluch aus, knallte die Tür zu, und ging in den benachbarten Raum, offenbar das Wachzimmer.
»Siehst Du, Sanja«, sagte Wenja und deutete in Richtung Sergeant, »entweder flüstert er oder er schreit, normal sprechen kann er nicht. Dieser Mongo.«
Der Penner schrie noch eine Weile und trat dabei gegen das Gitter.
»Setz dich, Väterchen«, bat ihn Negativ.
»Gut, aber wo sind eigentlich unsere Brüder aus dem Süden geblieben?« Sascha konnte sich nicht beruhigen.
»Sie haben sie gleich wieder freigelassen«, antwortete Rogow.
Sascha fand tatsächlich keine Worte.
Der Assistent kam mit dem Zugangsregister für Festnahmen[113] zurück, irgendwoher kamen auch die beiden von der Patrouille, die Sascha verhaftet hatten. Offenbar wollten sie das Protokoll schreiben … Alle drei wurden plötzlich von einem durchdringenden Klingeln an der Tür der Wachstube aufgeschreckt.
Zuerst ging der Sergeant – wahrscheinlich, um die Tür zu öffnen. Eine Minute später hörte Sascha deutlich gutturale Stimmen mit dem charakteristischen Akzent.
»Sascha, sie sind da, um dich rauszuholen!«, dachte er laut vor sich hin.
Tatsächlich, die Zellentür wurde rasch geöffnet und der Kaukasier hinausgeführt.
Die Jungs lachten ein wenig über alles. Ein Wort gab das andere – sie erinnerten sich an die Schlägerei; Wenja erzählte belustigt, wie er das lange Metallstück auf der Straße gefunden und damit – wie ein Verrückter die Mücken – alle von sich weggescheucht hatte.
»Sonst hätten sie dich mit ihren gekrümmten Nasen massakriert …«, feixte plötzlich der melancholische Negativ, für den Scherze absolut untypisch waren.
»Nein, jetzt überlegen wir mal!« Sascha kehrte noch einmal zu dem Thema zurück, das er noch nicht verdaut hatte. »Haben sie uns für die Schlägerei verhaftet? Aber wo ist …«
»Das Objekt unseres Rassenhasses«, setzte Rogow im selben Ton fort. Es war natürlich ein Scherz.
»Ja, wo sind sie?«, fragte Sascha. »Das heißt, wir haben uns gegenseitig verprügelt?«
»Wenja, warum hast du das Metallteil eigentlich mitten auf der Straße geschwungen?«, interessierte sich Rogow und verfiel in lyrische Ironie. »Wen wolltest du damit erschrecken?«
»Es hat die vorbeifahrenden Autos behindert, und ich wollte es entsorgen«, antwortete Wenja.
Sie hätten so bis zum Morgen weiterpalavert, aber die Tür knarrte abermals, zuerst im Schloss, dann in den ungeölten Scharnieren, und der auftauchende Sergeant sagte leise: »Zum Teufel, kommt raus!«
»Sollen wir das Väterchen da auch wecken?«, fragte Negativ und zeigte auf den Penner.
»Was ist dir der für ein Vater, dieses Wrack?«[114]
Der Kerl bewegte sich nicht. Er hatte sich auf den Boden gelegt und schlief. Alle gingen hinaus, der Typ blieb allein in der Zelle zurück.
Die Jungs standen unsicher im Vorraum der Milizstation herum.
»Ich würde diese schwarzarschigen Wanzen selbst verprügeln …«, sagte der Sergeant und öffnete die Tür zur Straße.
»Wir haben sie nicht geschlagen …«, sagte Sascha, »sie haben selbst …«
»Ja, klar, nicht geschlagen«, lachte der Sergeant und erhob plötzlich, wenn auch mit freundlicher Intonation, die Stimme. »Einem von denen wurde das halbe Gesicht wie eine Tomate zermatscht … Aber sie haben keine Anzeige gegen euch erstattet. Und es gibt auch keine Meldung wegen euch. Verschwindet. Ihr Kämpfer …«
Sascha war der familiäre Ton des Milizionärs unangenehm, auch dessen Überzeugung, dass die Jungs die Schlägerei begonnen hätten. Und außerdem war es irgendwie abstoßend, dass der Milizionär offenbar dachte, die Jungs könnten mit ihm einer Meinung sein – in Bezug auf jene, die er als »schwarzarschig« bezeichnete. Nur waren sie darin ganz und gar nicht einer Meinung …
Auf der Straße stand das Milizauto mit den Typen vom Patrouillendienst, die Sascha verhaftet hatten. Kaum waren die Jungs rausgegangen, ging im Auto das Licht aus.
»Ich glaub’s nicht, dass die da gerade Geld zählen …«, sagte Wenja.
Sie streckten sich und rieben ihre Glieder und machten sich dann auf den Weg. Sie beschlossen, bei Sascha zu übernachten.
»Und wenn sie uns abfangen, San?«, fragte Negativ.
»Wie?«, fragte Sascha nach, er zitterte vor Kälte. »Sie haben uns doch eben erst laufen lassen.«
»Ich meine es ernst.«
»Sie werden uns nicht abfangen. Irgendwo müssen wir übernachten. Richtig, Jungs?«
»Natürlich müssen wir irgendwo übernachten«, bestätigte Rogow.
»Und fressen will ich jetzt auch was …«, sagte Wenja.
Kapitel 4
In diesem Winter bestellten sie einen kleinen Autobus – die Mutter hatte beschlossen, der Vater müsste auf dem Dorf begraben werden. Dort, wo er geboren worden war.
Sascha widersprach nicht.
»Was meinst du, Söhnchen?«, fragte die Mutter in einem vollkommen neuen Ton. Bis jetzt war ein anderer Mensch an ihrer Seite gewesen, dessen Stimme alles entschieden hatte. Und jetzt war er gestorben, dieser Mensch.
»Irgendwie werden wir durchkommen«[115], antwortete Sascha, obwohl er fast überzeugt war, dass es nicht gelingen würde, durchzukommen.
In dieser ekelhaften Stadt, die Sascha immer widerwärtig gewesen war, durfte der Vater jedenfalls nicht begraben werden.
Überhaupt war es unerträglich, den Großeltern mitzuteilen, dass der Vater gestorben war, und dabei zu wissen, dass sie nicht nur nicht zum Begräbnis fahren, sondern überhaupt erst im Frühjahr zum Grab des Sohnes kommen könnten.
Dem Fahrer erklärten sie nichts Genaues, hätte er gewusst, wohin die Reise ging, er hätte es sofort abgelehnt. Stattdessen hatten sie ihm gesagt: »Aufs Land … Wir zeigen den Weg …« Er fragte nicht nach, wohin aufs Land. Es war ein bescheidener Mann, von ruhigem Gemüt, wie es zunächst schien.
Vaters Freunde kamen, um sich zu verabschieden, einige Lehrer, einige Schüler. Sascha wollte jeden, der gekommen war, um sein Beileid auszudrücken, die Treppe hinunterschmeißen[116]. Welches Beileid, zum Teufel, was versteht ihr schon … Sascha hielt sich von allen fern, er wollte niemanden sehen. Zufällig hörte er, wie die Mutter fragte: »Vielleicht fährt jemand mit zum Begräbnis?«
Es war widerwärtig, dass alle schwiegen.
Jemand sagte mit entschuldigendem Unterton: »Die Arbeit …«
»Ich werde mitkommen«, sagte eine einzige Person. Besletow.
Er kam am Morgen des nächsten Tages, stand mit Pelzjacke und Schuhen im Vorzimmer, wollte die Handschuhe nicht wirklich ablegen. Einige Male zog er sie aus und an.
Sascha begrüßte ihn nicht.
»Aleksej«, bemerkte die Mutter mit fast lebloser, verweinter Stimme, »du wirst in diesen Schuhen frieren.«
Der zog ein merkwürdig schiefes Gesicht, als wäre es ihm sehr unangenehm.[117]
»Macht nichts«, antwortete er dumpf und ging sofort hinaus.
Er stand auf der Straße. Er rauchte nicht.
Sascha schaute aus dem Fenster, sah Besletow, musterte stumpf dessen Rücken.
Die Mutter setzte sich immer wieder an den Küchentisch und begann zu weinen.
»Wie werde ich ihn denn hinbringen«, fragte sie, »was werden Mutter und Vater mir sagen? … Hast du dort angerufen, Sasch? Bei den Nachbarn?«
»Ich hab angerufen.«
»Was haben sie gesagt?«
»Sie haben gesagt, dass sie es ihnen ausrichten.«
Die Mutter begann wieder zu weinen.
Der Fahrer kam herein, er stand schweigend in der Tür.
»Fahren wir«, sagte Sascha ein wenig gereizt zur Mutter. »Worauf warten wir?«
Sie trugen den Sarg hinaus – Besletow, Sascha, der Fahrer, Nachbarn halfen.
Sie stellten ihn vor das Haus.
Nicht weit entfernt scharten sich Kinder, die von den in der Kälte aberwitzig knarrenden Schaukeln gekrochen waren. Sie schauten neugierig, kleinlaut geworden.
Sascha wollte sie auseinanderjagen.
»Los, laden wir auf …«, sagte er wütend. »Was stehen wir hier …«
»Lass die Leute sich verabschieden …«, sagte die Mutter
»Welche Leute?«, schimpfte Sascha.
Außer den Kindern versammelten sich noch einige Nachbarn – unbekannte, fremde, die trotzdem ihre Köpfe schüttelten.
»Geh zum Auto«, sagte er zur Mutter. »Los, hört ihr?«, wandte er sich an die Männer und zeigte auf den Sarg.
Sascha setzte sich zum Fahrer. Besletow auf den Rücksitz.
Sie schlossen den Sarg.
Sascha nannte dem Fahrer einen Ort auf halbem Weg – »… von dort noch ein bisschen weiter …«, murrte er unbestimmt.
Sascha drehte sich um und sah, wie die Mutter, die beim Kopf des Vaters saß, manchmal den Sargdeckel hob und die eisige Stirn des Verstorbenen berührte.
Es war nicht auszuhalten.
Es fing an zu schneien, grauer Schnee fiel. Die Scheibenwischer arbeiteten unablässig.
An der Stadtausfahrt kamen sie in einen Stau.
Sascha steckte den Kopf zum Fenster raus und zündete eine Zigarette an.
Auf den Dächern der Autos türmte sich rasch Schnee auf.
Das Warten war bedrückend.
»Wohin hast du es so eilig …«, dachte Sascha angeekelt, und gab sich selbst einen Ruck. »Hast du es so eilig, den Vater zu begraben? Und dann? Du begräbst ihn – und wohin läufst du dann?«
Sie standen mindestens eine halbe Stunde. Der Fahrer schaltete immer wieder den Motor aus, worauf hin es in der Kabine schnell kalt zu werden begann.
»Hinten ist es wahrscheinlich kalt?«, fragte Sascha. Die Stimme klang heiser.
»Die Heizung funktioniert dort nicht. Und man sollte dort jetzt auch nicht heizen«, sagte der Fahrer vorsichtig und schielte zu Sascha hinüber.
»Die Mutter friert sicher«, dachte Sascha, ohne zu antworten.
Er drehte sich um und sah, wie sie sich die Beine rieb. Er sah auch, wie Besletow – den Kopf eingezogen – durch das Fenster auf die stehenden Autos schaute.