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Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
Die Karte wurde gebracht. Sascha hob das erste Blatt des in Leder gebundenen Heftes mit dem Zeigefinger an und wusste schon, dass er nichts bestellen würde.
»Ich habe noch Geld«, sagte Rogow. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber die Frage hing in der Luft. Natürlich hob sich bei allen die Stimmung.
»Ein Bier?«, fragte Rogow.
»Ich nicht«, sagte Negativ.
»Tee?«
»Ich will nichts.« Negativ verstand es, so abzulehnen, dass niemand mehr etwas vorschlug.
Alle begannen zu rauchen und sahen sich um.
Besletow kam bald, streng, in einer kurzen Jacke, mit einer Aktentasche.
Als er die Jacke auszog, bemerkte Sascha Besletows beginnenden Bauchansatz.
Er setzte sich schweigend, stellte die Aktentasche neben den Stuhl, nahm seine Zigaretten raus.
»Er hat keine Bartstoppeln«, fiel Sascha plötzlich auf – »ein weißes Gesicht. Ein kluges und vermutlich schönes Gesicht. … Und wie er die Brauen zusammenzog …«
Ohne dass man ihr Kommen gehört hätte, stand die Kellnerin vor ihnen, Besletow bestellte Kaffee.
Die Pause zog sich in die Länge.
Sascha schwieg absichtlich – ihm gefiel das ganze Treffen schon nicht, als sie noch in der Universität waren.
»Was schaut er so?«, dachte er und sah in Besletows Gesicht. »Hab ich etwa Geld von ihm geliehen?«
»Macht ihr immer noch Radau?«, fragte Besletow, der seine Zigarette angezündet hatte und Saschas eindringlichen Blick spürte.
»Was bleibt sonst übrig?«, antwortete Sascha rhetorisch. Er hatte sofort verstanden, dass es um die Moskauer Krawalle ging.
Besletow zog kräftig an der Zigarette und dankte – den Rauch dabei anhaltend – mit leicht gepresster Stimme der Kellnerin für den Kaffee.
»Denkt ihr, dass das, was ihr da angefangen habt, gut ist? Richtig?«
»Gut und richtig«, antwortete Sascha. Besletow zuckte mit den Schultern.
»Und welchen Sinn hat das?«
»Das ist eine sehr lange Frage.«
»Es ist eine geradezu kurze Frage … Gut, ihr verlangt: ›Gebt uns eine nationale Idee…‹«
»Wie der jetzt redet…«, dachte Sascha schnell und unterbrach Besletow sofort.
»Wir bitten um nichts. Ich bitte um nichts. Ich bin Russe. Das reicht. Ich brauche keine Ideen.«
»Ich bin Russe«, äffte Besletow düster nach. »Und was macht ihr mit den Nicht-Russen?«
»Hören Sie, Aleksej Konstantinowitsch, verdrehen Sie hier nichts[92] … Niemand wird die Nicht-Russen irgendwo hintun[93], Sie wissen das ganz genau.«
»Und warum, Sascha, beginnst du dann sofort mit den Worten ›Ich bin Russe‹?«
»So ist das also«, dachte Sascha abermals, »er ist mit mir per Du, aber ich mit ihm …«
»Ich beginne nicht …«, erwiderte Sascha. »Ich sage nur, dass ich keine nationalen Ideen brauche. Verstehen Sie? Ich brauche weder eine ästhetische noch eine moralische Begründung dafür, meine Mutter zu lieben oder mich an meinen Vater zu erinnern …«
»Ich verstehe. Aber warum bist du dann in diese … in eure Partei eingetreten?«
»Sie braucht auch keine Ideen. Und keine Heimat.«
»Ach nein, alle diese Wörter, mal ›Russe‹, mal ›Heimat‹. Bitte nicht.«
»Den Namen nicht beschmutzen, nicht wahr?«, sagte Sascha versöhnlich. »Ich bin einverstanden.«
»Was heißt zum Teufel ›nicht beschmutzen‹?« Besletow wurde wütend. »Ihr habt doch gar keine Beziehung zur Heimat. Und die Heimat keine zu euch. Es gibt keine Heimat mehr. Es ist vorbei, sie hat sich aufgelöst! Und noch viel weniger zahlt es sich aus, irgendjemand mit allen euren Widerwärtigkeiten zu provozieren, mit dem Zertrümmern von Fenstern, irgendwelcher Visagen und was ihr noch so zerschlagt …«
»Besser, leise zur Seite treten[94]«, antwortete Sascha in Besletows Ton, nur um einen Halbton tiefer.
»Besser, leise zur Seite treten, als sich der Niedertracht hinzugeben.«
»Besser leise in eine andere Welt hinübergehen«, sagte Sascha.
»Ja, stell dir vor. Das ist besser. Vor Gott ist das besser. Alle eure Demonstrationen und euer Fahnenschwenken – das hat schon lange keinen Sinn mehr. Ihr werdet gar nichts ändern. Aber wenn ihr damit anfangt, Blut zu vergießen … wenn ihr nicht schon damit begonnen habt…« – hier erhob Besletow abermals seine Stimme, »dann …«
Besletow zog an der Zigarette und drückte sie dann wütend aus, als wollte er einen ekligen Wurm zermalmen.
Alle saßen stumm da. Wenja bohrte mit einem Zahnstocher Löcher in die Zigarettenpackung, Negativ schaute zum Fernseher. Rogow sah auf die Tischplatte und wippte unter dem Tisch mit dem Bein.
»Und Ihnen, Ihnen gefällt das alles?«, fragte Sascha, der äußerst ruhig geworden war, in den Rhythmus des Gespräches gefunden hatte und Besletow interessiert musterte.
»Du willst nicht verstehen, Sascha. Hier gibt es nichts mehr, was einem gefallen könnte. Hier ist nur noch eine Leerstelle. Hier gibt’s nicht mal einen ›Boden‹. Kein Vaterland, kein Land, an dem der Staat – wie es jetzt so modern heißt – geo-po-li-tisch interessiert wäre. Und einen Staat gibt es auch nicht.
»Auf diesem Boden lebt aber das Volk«, sagte Sascha, der keinen Streit sondern verstehen wollte, wovon Besletow sprach.
»Dein Volk« – er sprach das Wort »Volk« in die Länge gezogen aus – »ist unzurechnungsfähig[95]. Um sich davon zu überzeugen, reicht es, sich ein beliebiges Gespräch in einem öffentlichen Verkehrsmittel anzuhören … Denkst du, dass dieses Volk, das zur Hälfte aus Rentnern und zur andern aus Alkoholikern besteht, einen Boden braucht?«
»Die am Leben sind, brauchen ihn.«
»Es gibt nicht genug Lebende für diesen Boden.«
»Genug.«
Besletow schaute Sascha ironisch an, bewegte sich nicht, um Wenja vorbeizulassen, der offenbar zur Toilette wollte; kaum hatte sich Wenja vorbeigedrängt, sagte er: »Lieber Sascha, darum geht es nicht.«
Sascha fiel auf, dass sich Besletows Tonfall unablässig änderte – von Gereiztheit zu Beflissenheit und leicht herablassender Milde. Im Übrigen waren diese Wechsel ziemlich artistisch, geradezu fließende Übergänge.
»Es geht darum, dass man gar nichts tun muss. Man muss nichts tun. Denn solange die R-u-s-s-e-n leise vor sich hin saufen[96] und ihnen alles scheißegal ist, geht alles seinen Gang[97]. Der Wodka wird gekühlt, die Kartoffeln werden gebraten. Und sobald die R-u-s-s-e-n anfangen, sich an ihre verlorengegangene Größe und an das Schicksal der Heimat zu erinnern, an … oder worüber sprecht ihr die ganze Zeit eigentlich? … dann fangt ihr an, euch gegenseitig abzustechen. Und ihr werdet so viel Blut fließen lassen, dass der halbe Kontinent damit überzogen wird. Das ist unausweichlich, Sascha. Ich denke natürlich, dass sie euch schon davor niedermetzeln. Und wenn man das Blut einfach zynisch in Litern misst, dann ist das natürlich richtiger. Richtiger und weniger blutig.«
»Aber dieses Land wird es bald nicht mehr geben, Aleksej …« Sascha schnitt den Vatersnamen von Besletows Vornamen ab, weil er »Konstantinowitsch« nicht aussprechen wollte.
»Ich sagte dir doch, dass es schon jetzt nicht mehr existiert«, antwortete Besletow schnell.
»Lasst die Menschen ruhig in ihren Winkeln leben. Gebt diesen Russen, um die ihr so besorgt seid, die Möglichkeit, ihr Leben r-u-h-i-g zu Ende zu leben. Ihr werdet ihnen nichts Gutes tun, versteht das doch. Ihr werdet ihnen stattdessen nur noch mehr Unglück bringen. Außerdem hofft ihr vergeblich auf sie. Sie sind genau solche Russen wie … die heutigen Griechen im Vergleich zu den alten. Wie assyrische Krieger im Vergleich zu den assyrischen Schuhputzern in Moskau.«
Sascha trank sein Bier aus und blickte auch zum Fernseher, dessen Bild Negativ so angezogen hatte. Die Motorradfahrer fuhren weiterhin im Kreis. Dann schaute er auf Rogow, der den Kopf im Takt zu etwas bewegte, das in ihm selbst vor sich ging.
»Verstehst du, Sascha«, Besletow senkte abermals die Stimme: »Mir war das, was ihr macht, sympathisch. Es war ein ästhetisches Projekt, das gerade vor dem Hintergrund der herrschenden Schwermut und Wirren interessant war. Aber ihr habt die Grenze überschritten. Nun beginnt etwas, von dem ihr nicht mehr zurückkönnt. Hört jetzt auf. Macht das, was ihr früher gemacht habt. Das war äußerst lebendig – eure Flugblätter, eure Reden, eure Schreie in der Öffentlichkeit, die Fahnen. Eure Mädchen sind natürlich und haben feine Gesichter … Das ist nicht ganz russisch, entspricht nicht unserer Tradition, aber trotzdem lebendig. Überhaupt ist das Russisch-Sein heutzutage nicht allen eigen…« Besletow wurde mit dem Lauf seiner Gedanken immer angeregter: »Die R-u-s-s-e-n haben ihr Russisch-Sein verloren. Erhalten hat es sich noch bei einigen wenigen Menschen, als ein durchaus spirituelles Prinzip, und so, so Gott will, wird es noch einige Zeit erhalten bleiben. Vielleicht einige Jahrhunderte.«
»Wo ist es noch erhalten?« Sascha war aufrichtig verwundert. »In einem Land, das in dreißig Jahren ausstirbt und von Chinesen und Tschetschenen besiedelt sein wird?«
»Nein, natürlich nicht. Aber die Juden haben ihr Judentum im Laufe von zweitausend Jahren auch irgendwie erhalten. Russische Gemeinden leben auf der ganzen Welt, niemand stört sie. Die noch immer lebendige Kultur ist der wichtigste und – ja, der einzige Faktor russischen Geistes. Der Geist lebt schon fast nirgendwo mehr – nur in einzelnen Menschen, die Bilder malen oder Bücher schreiben, oder … na ja, unwichtig. Das Volk ist nicht mehr Träger des Geistes und daher auch zu nichts imstande. Alles, was wir der Welt noch geben können, ist, das Leben unseres Geistes darzustellen.«
»Im Moment des Zerfalls dieses Geistes …«, fügte Sascha müde hinzu.
»Sascha, alles hängt von euch selbst ab. Wenn ihr das blutige Chaos, das ihr euch wünscht, tatsächlich anrichtet, wird der Zerfall nur beschleunigt. Ruft nicht die bösen Geister an. Ruft die Engel!« Besletow lächelte sanftmütig wegen des Pathos seiner Aussage und schwächte damit dessen Beigeschmack ein wenig ab. »Wirkliche Ereignisse geschehen in der Welt des Geistes, Sascha. Der wahrhafte russische Mensch ist ›Geist‹«. Bei jeder Wiederholung verstärkte er seine Stimme: »Der wahrhaft russische Mensch ist jener Mensch, der die Wahrheit sucht. Russland«, schloss er, »muss in eine geistige Dimension eintreten. So wird es besser sein.«
»Und wo sollen wir hingehen?«, fragte Wenja, der zurückgekommen war und plötzlich hinter Besletow stand.
Besletow drehte sich halb um, ohne Wenja richtig anzusehen, und wandte sich sofort wieder seiner Tasse Kaffee zu. Er trank aus, blickte auf den Tassenboden, schwenkte die Tasse und stellte sie auf den Tisch, ließ auf dem Tisch einen frischen Geldschein, die Bezahlung für den Kaffee plus Trinkgeld, und ging nach einer raschen Verabschiedung hinaus.
Niemand sagte ein Wort. Negativ schaute nach wie vor auf den Fernseher.
»Wie hat euch das … Gespräch gefallen?«, fragte Sascha auf der Straße. Sascha ging neben Negativ, der als erster antworten musste.
»Mir egal«, antwortete Negativ. »Ich verstehe nur nicht, warum zum Teufel du uns hierher gebracht hast?«
»Zum Teufel mit ihm«, meinte Wenja.
Rogow schwieg.
»Ljosch!«, rief Sascha.
»Und hast du was Neues gehört?«, antwortete Rogow, der ganz offenkundig gerade irgendwelche Gedanken, denen er nachgehangen war, abschüttelte.
Sascha zuckte mit den Schultern.
»Vor zehn Jahren«, sagte Rogow, »war er sicherlich ein Liberaler und forderte … all das, was sie damals verlangt haben … den Sklaven bis auf den letzten Tropfen aus sich zu vertreiben … die Sühne, all das andere …«
»Ja«, stimmte Sascha zu, der sich ehrlich freute, dass Besletows Worte den wie immer ruhigen Rogow nicht im Geringsten berührt hatten.
»Und damals hat er sich vermutlich nicht von jenen Ideen leiten lassen, die er jetzt verkündet. Davon, dass man sich distanzieren muss. Und dass ein schwerer chirurgischer Eingriff nicht gerade gottgewollt ist[98]. Sie haben ja überhaupt immer gleich so gern den lieben Gott ins Spiel gebracht … Als sie damals mit stumpfem Messer am lebendigen Leib herumschnippelten, da kam er ihnen sehr gelegen, und jetzt auch. Alles was sie je gemacht haben … Denen wurde Gott offenbar als Lauf bursche für alles und jedes abgestellt …«
Rogow blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an.
»Und dann, hast du das bemerkt, Sascha, der hält dich und uns alle doch für assyrische Schuhputzer, sich selbst aber für den Hüter des russischen Geistes … Na ja, soll er …«
»Wohin gehen wir?«, fragte Wenja, der von der ganzen Diskussion gelangweilt war.
»Wir mischen uns unters Volk. Wodka trinken«, antwortete Rogow. »Folgende Bedingungen: Der Raum muss warm sein und der Wodka billig. Wo gibt es bei euch den billigsten Wodka?«
»Am Bahnhof«, antwortete Sascha. »Das ist ganz in der Nähe.«
Die Fleischfüllung der Pelmeni war – dem Geschmack nach zu schließen – durch gut zerkautes Papier, vermutlich Löschpapier, ersetzt worden. Die Mayonnaise, die wie graublauer Aufstrich am Tellerrand klebte, war sauer.
»Das Brot ist feucht …«, sagte Rogow angewidert und schob das Stück Roggenbrot, das wie teurer Fisch fast durchsichtig war (und auch nach Fisch roch), beiseite; Negativ hingegen schnappte sich das Brot und legte es mitten in die Mayonnaise auf seinem Teller.
Sascha hatte ordentlichen Appetit – nach den auf drei hohe, geschliffene Gläser[99] aufgeteilten hundert Gramm Wodka schienen auch die Pelmeni durchaus essbar. Ja, und dann erst recht mit dem Bier …
Die Imbissstube beim Bahnhof war gefüllt mit lauten, scheußlich gekleideten Menschen vorwiegend männlichen Geschlechts. Auf ihren Tischen war kein Essen zu sehen – nur Wodka. Sie tranken die Gläser in einem Zug aus[100], bewegten dabei ihre bläulichen, angesengt wirkenden Adamsäpfel, und schauten dann lange grübelnd ins Glas.
Ein unrasierter und düsterer Mann unbestimmten Alters in einem schmutzigen Tarnanzug stach aus der Menge hervor. Anscheinend fehlte ihm ein Arm.
Sascha und Wenja bemerkten nicht, dass sie nach dem dritten Glas laut zu sprechen begonnen hatten und dabei heftig gestikulierten. Negativ schwieg wie immer und kaute sorgfältig an Brot und Pelmeni. Sascha bemerkte, dass immer, wenn er selbst ein Lokal betrat, er sich mehrmals umschaute, um zu sehen, welche Leute sich in seiner Umgebung befanden, Negativ hingegen sich überhaupt nicht dafür interessierte, wer da trinkt und isst. Es schien, als wäre Negativ zu sich nach Hause gekommen, wo er alles seit Langem kennt. Rogow machte keinen Lärm und wurde nicht betrunken, lediglich in seinem Gesicht bildeten sich rosafarbene, klar abgegrenzte Flecken. Sascha sah Rogow an und bemerkte mit betrunkenem Erstaunen: Würde man den Fleck auf der linken Wange umranden, dann ergäbe das den Umriss von Afrika. Sascha reckte mehrmals den Hals, um die Form des Flecks auf Rogows rechter Wange zu beäugen, bis Ljoscha ihn fragend anschaute.
Sascha schüttelte den Kopf: »Nichts.«
Rogow lächelte sanft.
»Ljosch, erzähl weiter über dieses Gespräch«, bat Sascha. »Es ist gut, was Du sagst.«
»Was gibt’s da zu sagen …« Rogow war abermals ehrlich verwundert. »Ist leichter, sich hinzulegen und zu sterben, als diesem Typ zuzuhören. Die Russen sollen sich nach seiner Logik überhaupt alle hundert Jahre hinlegen und sterben. Sobald sie nur anfangen, ›Blut zu vergießen‹. Ich sehe keinen Unterschied zwischen heute und dem, was war … vor langer Zeit. Ich sehe auch keinen Unterschied zwischen mir und meinem Großvater.«
Rogow sprach langsam, als würde er jedes Wort durch einen Fleischwolf drehen.
»Nein, Ljosch, warte, was ist mit ›Blut vergießen‹? Wird das wirklich geschehen?«
»Alle tun das …«
»Besletow würde sagen, dass alle das Blut der anderen vergießen, wir aber vergießen das unserer eigenen Leute.«
»Besletow ist sein Familienname?«, fragte Rogow nach und sagte, ohne auf eine Antwort zu warten: »Na und, ist das schlecht? Es ist ehrlicher, die Eigenen niederzumetzeln, als in benachbarten Ländern herumzutrampeln.«
»Sind wir dort etwa nicht herumgetrampelt?«
»Also, es ist eine Sache, einen Viehwaggon mit Balten* auf die Kamtschatka zu transportieren, die vor Hitler ihre Beine breit gemacht hätten, wäre nicht der Rotarmist mit der Uschanka gekommen[101]; etwas anderes ist es, eine Bombe auf eine Stadt mit Kindern zu werfen und alle sofort zu töten. Besteht da ein Unterschied?«
»Ja.«
»Wir bringen einander um, weil in Russland die einen die Wahrheit so, die anderen anders verstehen. Das ist sowohl Blutbad als auch Erkenntnis.«
»Eine Erkenntnis, ja«, wiederholte Sascha, »so eine Erkenntnis, dass…«
»Ja, genau so eine.«
Die Jungs gingen zum Pissen nach draußen, Negativ blieb, um den noch nicht getrunkenen Wodka und die restlichen, kalt gewordenen Pelmeni zu bewachen.
Der Platz zum Austreten[102] befand sich direkt hinter dem Café und war wegen des beißenden Gestanks leicht zu finden.
Sie traten nicht in den Matsch, sondern stellten sich zu dritt an die graue Mauer irgendeines Gebäudes neben dem Café. Sie standen einer kleinen Erhöhung gegenüber und alles floss zu ihnen zurück. Der Urin der Jungs rann perlend zu einem Bach zusammen.
Erleichtert, frisch und gut gelaunt kamen sie zurück.
»Noch ein Bier?«, schlug Sascha vor.
»Na klar«, antwortete Wenja. Rogow nickte.
Als Sascha mit den Flaschen zurückkam, stand der unrasierte Mann im Kampfanzug bereits am Tisch und – schwieg. Der linke Ärmel seiner Jacke hing herab, tatsächlich fehlte ihm ein Arm.
»Ich hab gehört, ihr redet da …« Er artikulierte mühsam, schwieg, stockte.
»Sehr richtig«, setzte Sascha fort. Im Rausch[103] wurde er streitsüchtig.
Wenja lachte. Am Rand von Rogows Lippen hing ein Lächeln. Negativ blieb undurchschaubar.
»Ihr habt gesagt, dass wir nie irgendwo eingedrungen sind, ihr Grünschnäbel[104]. Und was ist mit Afghanistan? – Fahrer des einhundertsechsundsiebzigsten motorisierten Gebirgsjägerregiments. Vierzehn Mal unter Beschuss. Zwei Verwundungen, ihr Grünschnäbel.«
»Ihr Grünschnäbel«, sagte er ohne beleidigenden Unterton – einfach wie »Jungs«.
Der Afghanistanveteran sah Sascha, der ihm mit einer offenen Bierflasche in der Hand direkt gegenüber stand, in die Augen. Sascha verstand plötzlich, dass der Mann fast nüchtern war.
»Ich höre, ihr sprecht da über irgendeine Partei. Über Politik. Was versteht ihr Grünschnäbel denn von Politik? Diese Affen in Anzügen warten nur darauf, uns in irgendeine Scheiße einzutunken … Hat jemand was zu rauchen?«
Sascha überlegte und gab dem Afghanistanveteranen eine Zigarette.
»Hier ist Rauchen verboten«, warnte er grinsend.
»Ich rauche überall. Ihr seid doch aus einer Partei, oder?«, fragte er weiter.
»Aus einer Partei«, antwortete Sascha. »Sojus Sosidajuschtschich«.
»Ach, ›Sojusnitschki‹. Herr Kostenko und Genossen.« Der Afghanistanveteran grinste tierisch. »Ihr wundert euch, dass ich euch kenne? Ihr habt geglaubt, da schnorrt irgendein Bahnhofspenner Wodka? Ich trinke gar nicht. Ich schaue mir hier die Leute an. Sie rennen den ganzen Tag herum und keiner weiß, wie …« Er musterte sie alle plötzlich mit düsterem Blick: »… wie man die Arschbacken zusammenkneift, wenn eine Granate durch die Gegend fliegt. Das weiß ja keiner, dass man vor Angst nicht zittert, sondern kotzt. Die wissen das nicht, und ich fühl mich deshalb manchmal gut, auch wenn’s mitunter schmerzt.«
»Hör mal, Kumpel«, sagte Wenja, »geh wieder. Wir sitzen hier unter Freunden.«
»Nein, warte, was ich noch sagen möchte …« Der Afghanistanveteran schob Wenjas Hand, die auf seiner Schulter lag, mit einer feindseligen Bewegung weg. Ich halte euch nicht für ›SSler‹. Eure Fahne schaut aus wie die der Faschisten, aber das ist alles Schwachsinn. Ihr wollt die Regierung stürzen, auch ich möchte diese Leute zertreten. Die, die unsere Truppen nach Afghanistangeschickt haben, und die, die sie dann abgezogen haben. Sowohl die, die die Armee nach Tschetschenien geschickt haben, als auch die, die sie zurückholten. Und die, die sie schon wieder dorthin geschickt haben. Und die Tschetschenen dazu. Nur, was ich nicht verstehe – all diese Eier, die ihr da schmeißt, ist das euer Scheißernst? Mir fehlt zwar ein Arm, aber ich bin sofort bereit, eure Fahne auf dem Kreml zu hissen … Ich kann auch mit einer Hand jemanden erwürgen, und noch besser kann ich schießen. Nur werde ich das nicht tun, weil ihr Clowns seid. Alles klar, ihr Grünschnäbel?«
Rogow aß währenddessen die Pelmeni auf. Negativ drehte den Kopf hin und her – es sah aus, als suchte er einen Fernseher. Nur Wenja sah die Jungs fröhlich an und fragte Sascha leise und mit leisem Lächeln mitten im Monolog des Afghanen.
»Sollen wir ihn nicht doch lieber verdreschen?«
»Warte …«, entgegnete Sascha flüsternd.
»Wieso schweigt ihr?« Der Afghanistanveteran erhob die Stimme.
»Was hast du gefragt?«, antwortete Rogow, der alles, was noch auf dem Teller war, aufaß und gequält mit Bier hinunterspülte.
»Ich, ein Grünschnabel …«
»Nenn mich nicht so«, bat Rogow fast liebevoll. Afrika auf seiner Wange bekam heiße, hellrosa Schattierungen.
»Ich frage: Was könnt ihr mir anbieten?« Der Afghanistanveteran starrte Rogow an. »Ja – mir! Ihr, die ›Sojusniki‹?«
In den Mundwinkeln des Afghanzen* klebten weiße Speichelreste.
»Ich habe bei Herat* dem Rekruten Chasin Michail die Gedärme in den Bauch hineingestopft. Und danach soll ich mit euch Eier werfen gehen? Hast du irgendwem die Gedärme zurückgestopft?«
Rogow schaute den Afghanzen an. Sascha – Rogow.
»Du wirst es mir nicht glauben«, sagte Rogow, »aber Eier werfen ist fürchterlicher als Gedärme zurückzustopfen.«
Der Afghanistanveteran verkniff sich ein Grinsen.
»Hast du das gemacht?«
»Ja, und zwar viele Male. Herausgenommen, hineingestopft. Därme und Lungen, Leber, Magen.«
»Spaß-vo-gel?«[105] Der Afghanistanveteran zog die Silben auseinander.
»Ich bin kein Spaßvogel. Ich bin Pathologe.«
Der Afghanistanveteran öffnete den Mund, um eine weitere Bosheit von sich zu geben, doch Rogow fiel ihm, ohne dabei seine Stimme zu erheben, ins Wort.
»Ich war nicht bei Herat, aber ich war an anderen Orten unter Beschuss, und sage dir nochmals: Eine Tomate auf den Premier zu schmeißen ist mindestens so fürchterlich wie eine Granate zu werfen. Verstehst du? Wenn du eine Granate wirfst, kannst du getötet werden. Wenn du eine Tomate wirfst, brechen sie dir aber ganz sicher den Kiefer und die Rippen, und danach hat keiner von denen etwas dagegen einzuwenden, dass du in der Zelle auch noch gefickt wirst. Was ist für dich schlimmer – gefickt oder getötet zu werden?«
»Du Kind …«
»Und noch etwas: Wenn du statt einer Tomate eine Granate werfen willst – nur zu. Wir werden es zu schätzen wissen[106]. Ich werde es zu schätzen wissen. Wenn du nicht willst – musst du nicht. Gut möglich, dass du es ja doch noch willst – soweit ich verstehe, ist es für dich wichtig, dass rundherum geschossen wird; dann ist es auch für dich leichter, damit anzufangen. Du brauchst die Menge, richtig? Ich hoffe, dass du sie bekommst.«
Jetzt grinste Rogow.
»Dawaj, Landsmann!« Ljoschka klopfte dem Afghanistanveteranen auf die Schulter. »Alles Gute. Bis bald. Bis bald, bis bald. Na, dann.«
Alle drehten sich von dem Afghanzen weg, obwohl er noch da stand, nur einen Schritt vom Tisch entfernt.
»Gehen wir mal rauchen?«, fragte Wenja.
Sie gingen auf die Straße hinaus, vorbei an dem Afghanzen, der zu Boden blickte und den Kopf schüttelte.
Sascha zog die letzte Zigarette heraus und warf die leere Packung weg. Er zündete sie an und spürte sofort, dass er sehr betrunken war.
»Ist da noch was übrig geblieben?«, fragte Sascha, hauptsächlich, um seine eigene Stimme zu hören und einzuschätzen, wie klar sie noch war.
»Das Bier hab ich mitgenommen.« Wenja hob zwei angefangene Flaschen Bier in die Höhe: »Den Rest haben wir ausgetrunken.«
Sascha freute sich, dass die Frage verstanden worden war.
Er bewegte die Lippen und kommandierte grinsend: »Kehrt um, Marsch!«
Sie nahmen noch Bier mit und dazu irgendwelches Zeug. Sascha hatte schon das Stadium erreicht, in dem man nicht mehr trinkt, sondern nachfüllt. Man füllt seine Existenz mit geschmackloser Flüssigkeit an.
Irgendwo fand sich noch Wodka – und dazu mussten sie getrockneten Tintenfisch essen, ein getrocknetes Schwänzchen zu dritt. Die Jungs verzehrten das Stück fein säuberlich, mit sehr ernstem, wenn auch ein wenig dämlichem Gesichtsausdruck.
Sie betraten den Bahnsteig, lauschten, wie die Frachtzüge vorbeiratterten, und von diesem Gepolter wurde Sascha endgültig blöde im Kopf.
Der Bahnhof verschwamm, und nur für Momente tauchte vor den Augen überraschend klar eine helle Tafel auf, irgendjemandes Gesicht, eine nervige Absperrung, die überwunden werden musste, was den Gleichgewichtssinn überforderte.