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Im Reiche des silbernen L?wen IV
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Im Reiche des silbernen L?wen IV

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Im Reiche des silbernen Löwen IV
Karl May

Karl May

IM REICHE DES SILBERNEN LÖWEN IV

Erstes Kapitel: Im Grabe

Es war eine eigenartige Stimmung, in welcher ich mich befand, als mich der Ustad hinauf nach der mir zugedachten Wohnung führte. Es war nicht Spannung, noch viel weniger Neugierde. Ich hatte das Gefühl, als ob eine schon längst in mir lebende und doch niemals ganz in das Bewußtsein getretene Sehnsucht nun in Erfüllung gehen werde, als ob mir ein Glück bevorstehe, auf welches ich schon längst, aber ohne mein Wissen, vorbereitet worden sei. Warum war ich dabei so ernst, als ob auf jeder der Stufen, welche wir emporstiegen, eine Gestalt aus vergangenen Tagen stehe und stumm mahnend die Hand erhebe?

Als wir oben vor der Wohnung des Ustad angekommen waren, sah ich eine zweite Treppe. Auf ihrer Biegung stand ein brennendes Licht. Er zeigte hinauf und sagte:

»Du wirst da über mir wohnen. Und doch so tief, so tief, wie ich heut nicht mehr wohnen möchte!«

Ich sah ihn fragend an. Da legte er mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort:

»Effendi, fürchtest du dich vor Gespenstern?«

»Nein,« antwortete ich.

»Oder vor Gräbern?«

»Nein.«

»So gehe hinauf, und schaue dich um! Ich lasse dich für kurze Zeit allein, komme dir aber dann nach oben nach. Ich könnte wohl noch besser sagen: nach unten, denn, mein Freund, du wirst bei Leichen wohnen. Du bist der Erste und gewiß auch der Letzte, also der Einzige, der jene Gruft betreten darf, welche ich den Verstorbenen aus den verflossenen Tagen meines Lebens baute. Ich spreche in dunklen Worten; aber grad dieses Dunkel werde dir zum Licht! Das ist mein Herzenswunsch!«

Er öffnete seine Wohnung, nickte mir mit wehmütigem Lächeln zu und verschwand dann hinter der Thür. Ich ging weiter.

Indem ich dies that, kehrte Alles, was ich bisher aus seinem Munde gehört hatte, zu mir zurück. Wie tief, wie bedeutungsvoll war jedes Wort gewesen! Aus welcher Höhe schaute jeder Gedanke dieses Mannes auf die Oberflächlichkeit gewöhnlicher Menschen nieder! »Freund« hatte er mich genannt. Wie alles so ungewöhnlich war, so durfte ich auch dieses Wort nicht in der umgangsüblichen Bedeutung nehmen. Er meinte es ganz zweifellos nicht leer, sondern voll. Ich konnte überzeugt sein, daß ich seinen Inhalt auch in mir selbst zu suchen und zu finden haben werde.

Die zweite Treppe stieg in das Innere des Felsens hinein, an welchen sich die oberste Etage des »hohen Hauses« lehnte. Ich sah nur eine einzige Thür. Sie stand offen. Gedämpfter Lichtschein fiel heraus. Ich trat ein. Welch eine Ueberraschung, diese »Gruft«!

Das war doch allem Anscheine nach das Studierzimmer eines europäischen Gelehrten! Es sah ganz so aus, als ob der letztere soeben erst den Raum verlassen habe, um aber gleich wieder zurückzukehren. War er Geograph? Ethnolog? Den Fußboden bedeckten die Felle wilder Tiere, denen die präparierten Köpfe, Klauen und Krallen gelassen worden waren. An den Wänden hingen neben den Kriegswaffen verschiedener Völker auch allerlei friedliche, aber interessante Gebrauchsgegenstände derselben. Neben einem höchst bequemen persischen Diwan stand ein indischer Perlmuttertisch, auf welchem einige aufgeschlagene Bücher lagen, als ob vor ganz Kurzem noch in ihnen gelesen worden sei. Ich trat hin, um nachzuschauen. Ein geöffnetes neues Testament! Ein mit Tinte unterstrichener Vers: »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten!« Daneben ein beschriebenes, nicht losblätteriges, sondern eingebundenes Manuskript. Da, wo der Verfasser aufgehört hatte, lautete der Satz: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr!«

Auf dem Schreibtische brannte eine Lampe, deren Licht durch einen grünen Schirm gemildert wurde. Der letztere war von feinster Seide, von Frauenhand gestickt. Arabische Schriftzeichen, doch wohlbekannte Worte: »Die Liebe hört nimmer auf!« Als ich den Schirm emporhob, um diesen Wahrheitsspruch zu lesen, sah ich, daß es eine sogenannte Astrallampe war. Astral! Das erweckte eigentümlicherweise eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit in mir. Ich hatte in einem alten Buche gelesen, daß es Astralgeister gebe, welche die uns unbekannten Sterne bewohnen. Meine kindliche Phantasie gab sich die größte Mühe, diesen Geistern Gestalt und Farbe zu erteilen, wobei sie natürlich zu den sonderbarsten Resultaten kam. Da hörte ich, daß der Rektor für seine Studierstube eine Astrallampe als Geburtstagsgeschenk bekommen habe. Ich ging augenblicklich hin und bat um die Erlaubnis zu einer Exkursion auf dieses geisterhafte Gebiet. Man kann sich denken, wie enttäuscht ich war, als sich bei der sehr eingehend vorgenommenen Okularinspektion keine einzige meiner sehr hoch gespannten Erwartungen erfüllte! Der Herr Rektor sah mir meine Betrübnis an und fragte nach dem Grunde. Ich teilte ihm denselben aufrichtig mit. Da lachte er und sagte: »Mein lieber Junge, das wirkliche Astrallicht strahlt von Stern zu Stern durch den ganzen Himmelsraum, damit es alle Welt im Geiste des Herrn erleuchte. Der Name dieses irdischen Lämpchens aber wurde vom Himmel herabgestohlen, damit der Klempner die Herrlichkeit Gottes zwingen könne, sich für ihn und seinesgleichen in ein gutes, einträgliches Geschäft zu verwandeln.« Da fiel ihm ein, daß meine Fassungskraft doch nicht der seinigen gleiche. Darum fuhr er fort: »Wenn du im Leben die Augen auch fernerhin so offen hältst wie jetzt, so wirst du das, was ich jetzt sagte, begreifen lernen. Dieser Klempner ist nicht der einzige Mensch, dem der Herrgott ruhig herzuhalten hat. Es giebt noch ganz andere Kostgänger, die von dem wohlgedeckten Tische des Himmels speisen, obgleich ihre Berechtigung dazu nur eine angemaßte ist. Im göttlichen Astrallichte wandeln nur erhabene Geister. Im Lichte dieser Lampen aber sonnen sich meist nur die winzig kleinen Geisterlein, welche sich bei dem Oele des Rübsamens und des Rapses einbilden, von ihrem Tische aus das ganze All ergründen zu können. Und wenn sich ja einmal ein bedeutender Mann an diesem Tische niedergelassen haben sollte, so stehen tausende der Kleinen auf der Lauer, ihm selbst auch diese Lampe auszublasen!«

Ich verstand dieses Letztere ebensowenig wie das Vorhergehende; aber das Leben hat mich dann gelehrt, den alten, erfahrenen Rektor zu begreifen. Und als ich nun hier im hohen Hause vor der Lampe des Ustad stand, da war es mir, als ob es ein vielgestaltiges Weben von lauter, lauter Geisterwinzigkeiten um mich her gebe und als ob eine unsichtbare, hundertstimmige Schadenfreude mir in die Ohren raune: »Da steht sie noch, die wir ihm ausgeblasen haben. Wir dulden Geister, aber keinen Geist!«

Ich nahm sie vom Tische weg, um die beiden Nebenräume anzusehen, welche rechts und links an dieses Zimmer stießen. Der eine war zum Schlafen bestimmt. Ein weiß überzogenes Bett. Ich fühlte das Leinen an und war geneigt, es für europäisches zu halten. Die Wände zeigten keinen andern Schmuck als nur ein einziges, primitiv eingerahmtes Bild von sehr bescheidener Größe. Es hing der Fensterseite gegenüber. Als ich die Lampe hoch hielt, um es zu betrachten, sah ich, daß es eine mit großer Liebe ausgeführte Federzeichnung war und eine auf Bergeshöhe stehende kleine Dorfkirche vorstellte. Es handelte sich hier augenscheinlich nicht um ein Werk der Phantasie, sondern dieses Gotteshäuschen war ohne allen Zweifel hier nach der Wirklichkeit wiedergegeben. Unter dem Bilde standen einige geschriebene Zeilen. Ich las:

»Kirchlein mein, Kirchlein klein,

Könnt so fromm wie du ich sein!

Deine Höhe zu erreichen,

Will ich dir an Demut gleichen.

Kirchlein mein, Kirchlein klein

So wie du will stets ich sein!«

Wer hatte das geschrieben? Und für wen war es geschrieben worden? Wenn der Schreiber ein Dichter war, so hatte es ihm hier sehr fern gelegen, mit seinem Geiste zu prahlen. Wo gäbe es wohl einen Menschen, der einem gottgeweihten Hause gegenüber sich nicht klein zu fühlen hätte! Selbst der größte der Dichter würde wissen, daß er dem prunkenden Reime zu entsagen habe, falls er im Geiste zur Kirche gehen wolle. Der wirklich Größeste wird hier am kleinsten sein.

Der Raum, den ich nun betrat, war die Bibliothek. Ihr Vorhandensein konnte mich nicht überraschen, obgleich nicht anzunehmen war, daß Pekala, die von den Büchern des Ustad gesprochen hatte, hier oben nach Belieben schalten und walten dürfe. An allen vier Wänden gab es hohe Stellagen, welche mit Büchern, Karten und wohlumschnürten Paketen gefüllt waren. Diese letzteren lagen nach Jahren und Monaten geordnet, und ihre Aufschriften sagten mir, daß sie Briefe enthielten. Es gab auch mehrere am Boden stehende, offene Kästen, welche bis an den Rand mit Briefen oder Zeitungen gefüllt waren. In der Mitte des Zimmers stand ein ungewöhnlich großer Tisch. Er war mit Büchern, Karten und Skripturen belegt und sehr bequem für einen geistig arbeitenden Mann, der es liebt, viel Platz zu haben.

Die Fenster der ganzen Wohnung waren hoch und breit, um möglichst viel Licht einzulassen. Aus dem mittelsten Gemache, welches ich zuerst betreten hatte, führte eine Thür hinaus ins Freie. Ich öffnete sie, um mich draußen umzusehen. Wie froh überrascht war ich, als ich sah, daß ich mich auf einem platten Dache befand, unter welchem jedenfalls die Wohnung des Ustad lag. Hier oben gab es nichts als nur die von mir beschriebenen drei Stuben. Sie waren von der Vorderfront des Hauses so weit zurückgesetzt, daß man diesen schönen Vorplatz gewonnen hatte, welcher mir die allerfreieste Aussicht nach Norden, Osten und Süden bot, während auf der Westseite der Weg hinauf nach der Glockenhöhle an mir vorüberführte.

Es ist eine meiner Eigenheiten, so viel wie möglich im Freien zu arbeiten, selbst auch des Abends und des Nachts. Ich kann sagen, daß ich meine glücklichsten, geistig belebtesten und fruchtbarsten Zeiten auf den platten Dächern des Morgenlandes verlebt habe. Wer des Nachts unter funkelndem Sternenhimmel von den Dächern Siuts hinauf nach der Höhe des Stabl Antar, von Jerusalem hinüber nach Mar Eljas, von Tiberias über den Genezareth, vom herrlichen Brummana des Libanon hinunter auf die Lichter und den Hafen von Berut geschaut hat, dem werden diese Stunden lebenslang im Gedächtnisse bleiben. Und nun auch hier vom hohen Hause aus der unbeschreiblich schöne Blick hinaus und hinein in die orientalische Nacht, die nicht so wie die abendländische nur vom Abend nach dem Morgen schreitet, sondern vom Paradiese nach dem Paradiese wandelt!

Da hörte ich ein Geräusch. Ich schaute mich um und sah den Ustad, welcher bei mir eingetreten war. Er bemerkte, daß ich mich auf dem Vorplatze befand, und kam heraus. Ich lehnte an der Brüstung. Er sagte nichts. Die Hände auf die Steine vor uns legend, schaute er still auf den See hinab. Ich hörte seinen Atem leise gehen. Da, nach einer kleinen Weile, wendete er sich mir halb zu und sprach, nach unten deutend:

»Der See denkt jetzt in tiefer Andacht nach,

Was er vom Herrn wohl mit der Sonne sprach.

Sie schaute ihm dabei ins Herz hinein.

Woher mag wohl der Blick gewesen sein?

Und sieht er, daß in seiner klaren Flut

Das Bild des ganzen, ganzen Himmels ruht,

So sendet er der Sonne Blick und Licht

Auch mir ins Herz als Lob- und Dankgedicht!«

Wie seltsam! Soeben waren ganz ähnliche Gedanken in mir aufgestiegen! Doch sagte ich nichts. Ich konnte kein Wort finden, welches wert gewesen wäre, jetzt gesprochen zu werden. Dieses Gedicht war im jetzigen Augenblick in ihm entstanden. Daß er es sofort in laute Worte gefaßt hatte, war mir ganz selbstverständlich. Jeder Dichter pflegt das zu thun. Er wendete sich wieder ab und sagte nach kurzer Pause, an seine letzten Worte anknüpfend:

»Es war ja heut ein Tag des Lobes und des Dankes. Er ist für mich noch nicht vorüber; er hallt noch in mir nach. Du warst dem leiblichen Sterben nahe, bist aber noch vor dem Tode wieder auferstanden. Darum zogen wir hinauf zu unserm Haus des Herrn.«

»So laß mich dafür danken, daß auch du jetzt wieder lebst,« sagte ich.

»Ich?« fragte er schnell.

»Ja. Ich war dem Tode nahe; du aber bist gestorben.«

»Wer hat es gesagt? Wer hat es dir gesagt?«

»Pekala. Durfte sie es nicht?«

»Sie weiß, daß ich vor dir kein Geheimnis haben will. Aber sie hat dir falsch berichtet.«

»Hast du ihr nicht gesagt, daß dein Sterbetag gewesen sei? Hast du nicht auch zu mir vorhin von deiner Gruft gesprochen?«

»Allerdings. Aber ich bin von euch beiden falsch verstanden worden. Meine Gruft ist nicht mein Grab.

Nur das, was in mir abgestorben ist, liegt da begraben. Mein Sterbetag war der, an dem es starb.«

»So wünsche ich dir von ganzem Herzen, daß du recht haben mögest! Ist es schon so traurig, Liebes in sich sterben zu fühlen, so muß es ja entsetzlich sein, sich zwar körperlich noch am Leben, aber als geistig vollendete Individualität bereits gestorben und begraben zu wissen!«

Er schaute mir in das Gesicht, längere Zeit. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, als ob er etwas von dort zu entfernen habe, und sprach:

»Ich kann mir allerdings nichts Furchtbareres denken, als das, was du soeben sagtest. Aber trotz allem, was in mir gestorben ist, ich selbst bin mit dem, was du meine geistige Individualität nennst, noch heut bei vollem Leben.«

»Gott gebe es!«

Der Ton, den ich unwillkürlich diesen drei Worten gab, machte, daß der Ustad sein Gesicht mir abermals zukehrte. Der Ausdruck desselben war fast der eines milden Erstaunens. Dann fragte er:

»Hältst du den Tod einer vollen, vielleicht bedeutenden oder sogar großen geistigen Persönlichkeit überhaupt für möglich?«

»Ja.«

»Woran soll sie sterben?«

»An einem plötzlichen, scheinbar wohlbegründeten Entschlusse. Oder auch an einer selbstverschuldeten, langsamen Verzehrung. In beiden Fällen liegt Selbstmord vor, falls der Geist vorher gesund gewesen ist.«

»Effendi, weißt du, wie hart du sprichst?«

»Wir sprechen vom Geiste. Darum mag der Geist zum Geiste reden. Der Geist aber ist hart, vielleicht härter als alles, was wir hart zu nennen pflegen. Du wolltest meine Ansicht über den Tod hören; diese ist nicht Herzenssache. Sobald du mein Herz fragst, wird es sprechen, und zwar so gern, so gern!«

Da faltete er die Hände, hob die Augen empor und sagte: »Sollte ich ein Selbstmörder sein?! Chodeh, ich bitte dich, verhüte es!«

»Chodeh ist allmächtig; aber selbst seiner Allmacht ist es nicht möglich, etwas zu verhüten, was bereits geschehen ist.«

»So will ich mich prüfen. Ich will wissen, was ich gethan habe und ob ich etwa anders hätte handeln können oder handeln sollen.«

»Hältst du dich für einen unparteiischen Richter über dich?«

»Nein. Aber du sollst mich richten.«

»Ich? Das ist unmöglich, denn ich liebe dich.«

»So wollen wir beide es vereinigt sein. Wir wollen einander beaufsichtigen, damit das Urteil ein gerechtes werde. Ich will anfangs der Dritte sein, der Zeuge, der dir und mir der vollen Wahrheit gemäß erzählt, wie es zugegangen ist, daß die Hand des Todes mir in mein Inneres griff. Ich sage dir aufrichtig, daß ich dich hier heraufgeführt habe, um dir eine Liebe zu erweisen. Vielleicht bist du es, der sie mir erweist. Ich glaubte, dich nicht nur von dem einen, sondern auch noch von dem andern Tode erretten zu müssen. Nun werde ich zu fragen haben, ob nicht im Gegenteile dir die Aufgabe zufällt, mir zu zeigen, daß ein Toter einen noch Lebenden nicht vor dem Tode bewahren kann.«

Unser Gespräch wurde in diesem Augenblicke unterbrochen. Wir hörten Stimmen, welche vom Vorplatze heraufklangen, und die schlürfenden Schritte langsam durch das Thor kommender Kameele. Zwei Männer sprachen miteinander. Der eine war Tifl, der andere ein Fremder. Dann kam der Pedehr dazu. Dieser schien einige Fragen auszusprechen, die wir nicht verstanden; dann hörten wir deutlich, daß er sagte:

»Steigt ab, und seid willkommen! Ich werde deinen Wunsch unserm Ustad melden.«

Da beugte sich der letztere über die Brüstung vor und rief hinab:

»Wer ist es, mit dem du sprichst, Pedehr?«

»Agha Sibil und sein Enkelkind aus Isphahan,« antwortete der Gefragte herauf. »Er ist den Bluträchern begegnet und bringt uns eine wichtige Kunde.«

»Er sei unser Gast. Ich komme sogleich hinab.«

Hierauf entschuldigte er sich in einigen Worten bei mir, daß er sich für kurze Zeit entfernen müsse, und wollte gehen.

»Erlaube nur einen Augenblick,« sagte ich. »Wer ist der Angekommene?«

»Ein Kaufmann aus Isphahan, welcher von dort aus einen bedeutenden Handel nach dem Innern des Landes treibt. Er versorgt viele der freien Stämme mit allem, was sie brauchen, und ist der Hauptabnehmer auch unserer Erzeugnisse. Seine Leute sind fast immerfort mit Waren unterwegs. Zur Abrechnung aber pflegt er selbst zu kommen.«

Als er mir diese Auskunft erteilt hatte, verließ er mich. Er hatte angenommen, daß meine Erkundigung nur deshalb ausgesprochen worden sei, weil es sich um eine Nachricht von dem Multasim handelte. Ich hatte aber auch noch einen zweiten Grund. Nämlich mein Wirt in Bagdad, der nach Halefs Ausdruck »früher Bimbaschi gewesene und dann Mir Alai gewordene« Offizier Dozorca, hatte mir, wie man sich erinnern wird[1 - Siehe Band I.], die Namen seiner Familienmitglieder genannt und dabei gesagt, daß sein Schwiegervater Mirza Sibil oder auch Agha Sibil heiße und ein persischer Handelsmann gewesen sei. Nun war ein Kaufmann dieses Namens aus Isphahan hier angekommen. Da mußte ich natürlich sofort an die vermeintlichen Toten denken, welche mein armer Wirt so lange Zeit betrauert hatte. Es lag mir fern, gleich etwas Gewisses anzunehmen; aber dieser Agha Sibil hatte einen Enkel mit, nicht etwa einen Sohn, und dieser Umstand machte den Gedanken in mir rege, daß sich hier in diesem wunderbaren »hohen Hause« gar wohl auch noch eine dritte Art von Auferstehung ereignen könne, nämlich eine Wiederkehr aus dem Lande der Totgeglaubten. Ich war darum gewillt, womöglich mit diesem Kaufmann selbst zu sprechen.

Zunächst aber war meine Zeit für den Ustad in Beschlag genommen, über dessen Vergangenheit ich jetzt einen Bericht zu erwarten hatte, der für mich so wichtig werden sollte, wie ich es jetzt, in diesem Augenblicke, gar nicht ahnte. Wir kurzsichtigen, unwissenden Menschen, die wir auf ganz verkehrten anthroposophischen Wegen wandeln, sind vollständig blind und taub gegen die große Wahrheit, daß der eine sich in dem andern zu erkennen habe. Der Gesamtmensch ist jedem einzelnen derart eigen, daß nicht nur die körperlichen und geistigen Gesichtszüge, sondern auch die Lebensführungen von Personen, die uns bei oberflächlicher Betrachtung als sehr verschieden erscheinen, doch mit absoluter Notwendigkeit große innerliche Aehnlichkeiten, ja oft sogar Gleichheiten besitzen müssen, durch welche die Menschenkenntnis ganz unbedingt zur Selbsterkenntnis werden müßte, wenn wir nicht die fatale Eigenheit besäßen, uns mehr nach bösen als nach guten Menschen umzuschauen und den Zusammenhang mit der Menschheit nur in unser eigenes Belieben zu stellen. Wie sich der Kreislauf des Blutes durch Millionen Körper auf ganz dieselbe Weise vollzieht, so pulsiert in diesen Millionen auch der Geist durch gleiche Adern, und wenn diese letzteren sichtbar vor unsern Augen lägen, so würden wir gar wohl bemerken, daß unter tausend auf den Seciertisch gelegten Geistern es nicht einen einzigen gäbe, der sich sowohl anatomisch als auch in Beziehung auf seinen Vitalismus und das, was ich vorhin Lebensführung nannte, derart von den andern unterschiede, daß es dem Professor nicht mehr möglich wäre, an ihm allein in aller Ausführlichkeit zu demonstrieren, warum alle übrigen nun jetzt mit ihm das gleiche Schicksal haben.

Wer hat jetzt noch Lust, dem kühnen oder vielleicht auch staarkranken Sprachgebrauche zu folgen und Geister zu distinguieren? Während der eine Mensch durch eine ebenso mühevolle wie langweilige Addition selbst bei einem achtzigjährigen Leben nicht dazu kommt, die Summe zu erreichen, wird der andere schon in seinem zwanzigsten Jahre durch eine schnelle Multiplikation zu dieser Summe geführt. Aber jeder einzelne der treu und gewissenhaft zusammengestellten Summanden des ersteren wiegt vor den Augen des höchsten und gerechtesten aller Geister mehr als das ganze durch eine bequemere Rechnungsart vollständig mühelos gefundene Produkt des letzteren. Der kleinste Geist kann groß trotz seiner Kleinheit, der größeste aber klein trotz seiner Größe sein. Unter den Geisterlein und sonst noch spukenden Winzigkeiten, welche mich vorhin bei der Lampe des Ustad belästigten, hat sich wahrscheinlich manche Längstvergessenheit befunden, welche damals, als man sie ihm auszublasen begann, zu den Geistesgrößen gerechnet wurde. Jetzt nun haben diese aus dem Leben geschwundenen Größen in der »Gruft« des »hohen Hauses« traurige Wache zu halten, daß die Lampe ja nicht wieder angebrannt werde!

Es ist mir im Vorhergehenden nicht eingefallen, anzudeuten, daß ich nicht an Geistesgrößen glaube. Sie waren da, sie sind da, und sie werden immer vorhanden sein; aber sie waren und sind es nur für die Menschen, doch nicht für den, der alle Nieren prüft. Er sendet die Jahrhunderte, in deren Verlaufe sich ihre Größe zu bewähren hat, und wenn sie vorüber sind, so waren sie wie ein Tag der heut vergangen ist. Für die nie versiechende Fülle der Ewigkeiten hat dann jeder, selbst der berühmteste Menschenname doch nur diesen einen Tag gelebt. Aber der Segen, den ein Menschenkind dem andern brachte, reißt sich vom Namen los, und wohl dereinst dann dem, dem es vergönnt ist, aus seiner irdischen Berühmtheit emporzusteigen, um dort in diesem Sinne namenlos zu werden!

Woher diese Gedanken? Umwehte mich hier auf dem freien Platze vor der »Gruft« eine jener geistigen Atmosphären, welche sich aus solchen namenlos gewordenen Bestandteilen zusammensetzen? Kamen die vom Staube befreiten Gedanken guter, edler, hoher Abgeschiedenen hier zusammen, und sich da oben im Alabasterzelte zur Fahrt gen Himmel zu vereinigen? Ich konnte mich nicht länger mit ihnen beschäftigen, denn der Ustad kam jetzt zurück und bat mich, mit ihm in die Bibliothek zu gehen. Er griff nach der Lampe, um sie mitzunehmen. Als er sah, daß mein Blick an der Schrift des Schirmes hängen blieb, sagte er:

»Die Liebe hört nimmer auf! Jawohl, die göttliche! Aber diese hier, sie ging für mich zu Ende. Oder hatte sie überhaupt niemals bestanden? Waren diese herrlichen Worte nicht mit dem Herzen, sondern nur mit der Hand gestickt worden? Mit dem kleinen, zarten, schönen Händchen, welches für mich zur Kralle wurde, obgleich ich es so oft, so oft an meine wahrheitstreuen Lippen gedrückt hatte?«

Hierauf trat er zu dem Perlmuttertischchen, zeigte auf das Testament und fuhr fort:

»Gott ist ein Geist! Ich suchte diesen Geist. Ich glaubte, daß er, der alles belebt, auch den Körper der Menschheit beseele. Darum forschte ich in ihr nach ihm. Ich beobachtete sie, wenn sie wachte, wenn sie schlief und wenn sie betete. Im Wachen war sie ihr eigener Gott. Im Schlafen träumte sie nur von sich allein. Und im Beten lag sie vor sich selbst auf allen Knieen! Da stand der Geist des Herrn im Morgenlande auf und ging als Hirt, der seine Herde suchte, von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Herz zu Herz. Ueberall, wohin er kam, rief man ihm Hosiannah zu; dann wurde er verworfen und gekreuzigt. Allüberall, auf jedem Golgatha, sah man den Leib des Herrn an seinem Kreuze hängen. Wo aber blieb der Geist? Der Geist, von dem wir uns in alle Wahrheit leiten lassen sollten? Wo wurde dieser Geist in dieser Wahrheit angebetet? Ich fragte hier auf Erden hin und her. Ich fand wohl manchen Stall und manche Krippe, wo Engel lobgesungen und Hirten, Könige und Weise angebetet hatten. Auch fand ich noch den Duft des Weihrauchs und der Myrrhen, die man dem Geist der Liebe dargebracht; er aber selbst, er hatte sich geflüchtet, dem Haß und seiner Waffe zu entgehen. Wohin? Man sagte: nach Egyptenland.«

Nun berührte er das Manuskript mit seiner Hand, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob er etwas Häßliches oder gar Feindliches berührt habe, und sprach:

»Hier liegt der Leib des Geistes, mit dem ich nach dem Geiste suchen ging. Er starb und ward begraben. Er hörte auf, zu leben, als ich dieses letztgeschriebene Wort vernahm, daß des Menschen Gedanken nicht die Gedanken Gottes seien. Warum sollte ich mit den Gedanken meines Geistes noch fernerhin nach jener Wahrheit suchen, die ich mit ihnen niemals finden kann, weil sie ganz andere als die göttlichen sind!«

Er schaute mich an, als ob er eine Zustimmung von mir erwarte. Ich aber schüttelte leise den Kopf und sagte:

»Du hättest mit diesem Worte nicht aufhören, sondern mit ihm beginnen sollen. Es mußte dir sagen, daß nicht mit der Schärfe des Geistes, sondern mit dem vertrauenden Blicke des Glaubens zu suchen sei. Wärest du mit seinen offenen Augen so, wie du sagtest, »hier auf der Erde hin und her gegangen,« so hättest du gewiß nicht leere Krippen gefunden, aus denen der Herr vor Herodes geflohen ist, sondern so manches freundliche Bethanien und so manches liebe Emmahus, wo er vor und nach der Kreuzigung bei den Seinen weilte, um mit ihnen das Brot zu brechen. Meinst du, weil du den Geist des Herrn nicht fandest, können auch andere ihn nicht gefunden haben?«

»Ich fand ihn doch! Oeffne diese Leiche, und lies das erste Wort!«

Als ich die vordere Seite des Manuskriptes aufschlug, sah ich die groß geschriebene Ueberschrift: »Der Glaube ist es, der die Welt überwindet!«

»Nun?« fragte er. »Habe ich nicht gethan, was du sagtest? Bin ich nicht mit dem Glauben suchen gegangen? War er nicht das Alpha dieses Buches? Warum bin ich nicht auf diesem Wege, sondern auf einem anderen zum Omega gekommen?«

»Dein Alphaweg war der Hosiannahweg. Du gingst vom Glauben aus, um den Herrn zu finden. Doch da trat jener Geist zu dir, der den Messias einst versuchte. Dieser siegte; du aber bist unterlegen. Es war nicht Gottes Geist, sondern dein eigener, nach dessen Ruhm du fortan suchen gingst. Du fandest ihn, den gleißnerischen, falschen. Man rief dir Hosiannah zu, obgleich es nur ein Esel war, auf welchem du durch die schreiende Menge rittest. Er trat mit seinen Hufen die Palmenzweige deines Ruhmes nieder. Sie waren es auch wert! Denn schon begannen Stimmen hinter dir das »Kreuzige« zu rufen – – —«

»Effendi!« unterbrach er mich erstaunt. »Du weißt es, was geschah? Wie kannst denn du es wissen?!«

»Nur ich? Das weiß doch jedermann! Wer nach der Wahrheit strebt, hat durch den Jubel sogenannter Freunde hinauf nach Golgatha zu steigen, um von ihnen verlassen, von den Feinden aber gezwungen zu werden, seinen Geist aufzugeben.«

»Seinen – – Geist – – aufzugeben!« wiederholte er. »Wie wahr, wie wahr das ist! Sage mir: Hat man es zu thun? Muß man es thun?«

»Warum fragst du mich, den Sterblichen? Frage den, der uns noch heut dadurch erlöst, daß er uns vorangestorben ist! »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« so rief er aus, indem er von seinen Leiden Abschied nahm. Sag mir, o Ustad, hast du dieses sein Beispiel befolgt? Hast du, als man dich deines Geistes wegen marterte, ihn so, wie er den seinen, dem Herrn befohlen? Hier liegt die Leiche; so sagtest du. Wohin aber ist ihr Geist gegangen? Hast du dich zwingen lassen, ihn aufzugeben? Hättest du ihn in die Hände seines Herrn gelegt, so würde er in diesem seinem Leibe wieder auferstehen können, wie einst Isa Ben Marryam in ganz demselben Leibe auferstanden ist!«

Da setzte der Herr des »hohen Hauses« die Lampe langsam, langsam wieder auf den Tisch.

»Warte, Effendi!« sagte er.

Dann ging er hinaus ins Freie, Schritt um Schritt, als ob er plötzlich eine schwere Last zu tragen habe. Als er schon draußen war, drehte er sich noch einmal um.