banner banner banner
Im Reiche des silbernen L?wen IV
Im Reiche des silbernen L?wen IV
Оценить:
Рейтинг: 0

Полная версия:

Im Reiche des silbernen L?wen IV

скачать книгу бесплатно


»Glaubst du an eine Auferstehung solcher Toten?« fragte er.

»Ja!« antwortete ich.

»Wirklich?«

»Ich glaube nicht nur an sie, sondern ich kenne sie sogar!«

»Du?«

»Ja, ich!«

»So wollte ich, ich wäre du!«

»Du kannst und darfst es sein; du brauchst es nur zu wollen!«

»Effendi, Effendi! Für wen wurde hier diese Lampe wieder angebrannt? Für dich? Für mich? Für uns beide? Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr! Warte! Laß mir Zeit!«

Während er nun draußen vor der Thür verschwand, nahm ich das noch offen vor mir liegende Manuskript, um es zuzuschlagen. Es fiel mir der Titel in die Augen. »Geist und Wahrheit« lautete er. Da setzte ich mich nieder, das Buch in der Hand behaltend. Es war mir, als sei ich plötzlich müd, sehr müd geworden. War es eine wirkliche, körperliche Schwäche, die mich überkommen hatte, oder mußte ich mich unter der intellektuellen Wucht dieser beiden Worte niedersetzen? Wer ist der Mensch, daß er es wagt, trotz allem, was ihm dazu fehlt, an eine solche Arbeit zu treten?! Dieses Buch war ganz gewiß in jener Zeit der Jugend begonnen worden, für welche das Land der Möglichkeit fast ohne Grenzen ist. Wenn dann das Alter alles, was unter größter Kraftanstrengung für die Unmöglichkeit geleistet wurde, als unbrauchbar vernichten soll, so geschieht dies fast nie, sondern es wird in allen Winkeln aufgestapelt, um dann irgendeinem infallibeln Pessimisten als Beweis dafür zu dienen, daß auf der Erde alles, alles eitel sei.

Es verlangte mich, dieses Manuskript lesen zu dürfen, und doch wäre ich wohl kaum mit Lust an diese Arbeit gegangen, weil ich mir ja sagen mußte, daß ich nicht damit einverstanden sein könne. So saß ich lange Zeit in beinahe trüben Gedanken da, bis der Ustad wieder hereinkam und mich abermals bat, mit ihm in die Bibliothek zu gehen.

Ich stand auf und ließ unwillkürlich einen forschenden Blick an seiner Gestalt niedergleiten. War er ein anderer geworden? Es hatte sich weder an seiner Figur noch überhaupt an seinem sichtbaren Menschen etwas verändert. Und doch war es mir, als ob er nicht mehr so vor mir stehe, wie er mir unten an meinem Lager erschienen war. Es wollte mich eine Art von Beschämung über diese meine Undankbarkeit beschleichen; aber gegen dieses Gefühl stand in mir etwas auf, was mächtiger und, wie ich jetzt weiß, auch richtiger und gerechter war und mich aufforderte: »Schmeichle nicht dir selbst, indem du ihn zu schonen scheinst. Die Sonde, welche du an ihn legst, muß dich so wie ihn schmerzen!« Er sah diesen meinen Blick auf sich ruhen und fragte mich:

»Du schaust mich an. Du hast mein Werk da in der Hand. Lasest du vielleicht darin.«

»Nur den Titel!«

»Und darum dieser dein Blick?«

»Ja.«

»Ich verstehe dich. Geist und Wahrheit! Vielleicht hätte es besser geheißen: Geist oder Wahrheit!«

»Auch das nicht.«

»Also weder »und« noch »oder«!«

»Glaubtest du, dem Geiste, der Wahrheit durch Konjunktionen oder zufällige Konjunkturen nahetreten zu können? Indem du diesen Titel schriebst, hattest du das Werk geschrieben. Du brauchtest es gar nicht zu beginnen. Es mußte unvollendet bleiben. Aber der Geist, der sich an diese Aufgabe wagte, durfte trotz Kaiphas und Pilatus nicht von dir aufgegeben werden. Ich bin überzeugt, daß er Besseres, Edleres und Höheres erreicht hätte als alles, alles das, was hier auf diesen beschriebenen Blättern zu lesen ist. Möchte er doch nicht gestorben sein, sondern nur schlafen, um wieder erwachen zu können!«

»Ob er tot ist oder nur schläft, das wünsche ich, jetzt mit dir erfahren zu können. Ich will dir erzählen, wie er entstand und wie er von mir ging. Es wird keine lustige Geschichte sein.«

»Geschichte? Auf keinen Fall! Ist er tot, so hältst du seine Leichenrede. Gleicht er aber jenem Nichtverstorbenen, von welchem Christus sagte: unser Freund schläft, so wird es keine Erzählung, sondern eine Auferweckung sein. Da stehen wir vor der Thür des Raumes, in welchem du erzählen willst. Mir ist, als ob in mir jene Stimme klinge, welcher im Besitze des Höchsten, der da lebte, die Macht über den Tod gegeben war: Lazare, komm heraus!«

Da legte er seinen linken Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. Ich schlang meinen rechten warm um ihn, und so traten wir beide hinein, innig vereint, als ob wir eine und dieselbe Person bedeuteten.

Er stellte die Lampe auf den großen Tisch, führte mich zu einem Sitze, auf den ich mich niederließ, schob die beiden Hände in die Gürtelschnur und ging dann eine ganze Weile schweigend auf und ab. Hierauf lehnte er sich mit dem Rücken an den Tisch, so daß der Lichtschein sein Gesicht nicht traf, und sagte:

»Höre meine Einleitung, Effendi!«

Ich nickte. Da begann er:

»Die Geschichte einer jeden Anbetungsform hat eine Zeit des Martyriums, der Verfolgung um des Glaubens willen, aufzuweisen. Ich meine hier die Verfolgung mit der Todeswaffe. Wenn dem Religionshasse diese Waffe entzogen worden ist, zieht er sich, rachsüchtig grollend, in den Schutz seiner Lehrsätze zurück, um aus ihnen heraus, die er für uneinnehmbare Mauern hält, auch fernerhin die Andersgläubigen nach Möglichkeit zu schädigen. Es giebt wohl nur wenige Breitengrade der festen Gotteserde, welche nicht die Spuren davon tragen, daß der Mensch keine andere Verehrung Gottes, als nur die seinige dulden will, obgleich es doch wohl allein Gottes Sache wäre, zu bestimmen, in welcher Weise der Mensch zu ihm zu sprechen habe. Dieser aber ist so verwegen, dem Herrn vorzuschreiben, was er zu dulden oder nicht zu dulden habe, und wenn die Berechtigung zu dieser Vorschrift von irgend einem andern angezweifelt wird, so ist man schleunigst mit der Behauptung da, daß sie ja Gottes eigene Offenbarung sei. Im Besitze dieser Offenbarung gebärdet man sich, als ob man den Himmel mit seiner ganzen Seligkeit in Pacht genommen habe und nun ganz nach eigenem Gutdünken am Eingange zu demselben eine Warnungstafel anbringen müsse, auf welcher in den drohendsten Worten zu lesen ist: »Der Zutritt ist nur solchen bevorzugten Personen gestattet, welche mit einer eigenhändig unterschriebenen Erlaubniskarte seiner Pächterlichen Hochgnaden versehen sind. Wer ohne diese Bescheinigung hier einzudringen wagt, der wird augenblicklich mit dem leiblichen, geistlichen und ewigen Tode bestraft!« – – – Hast du gegen diese meine Ausführung etwas einzuwenden, Effendi?«

»Soll ich aufrichtig sein?« fragte ich.

»Ich fordere es von dir!«

»So wisse: Du stehst als Personifikation deines Lebens, von dem du jetzt erzählen willst, vor mir. Es ist ein individuelles Leben. Deine Ansichten sind die Ergebnisse desselben. Ich habe sie also als individuelle Meinungen zu betrachten, nicht aber als Gottesbotschaften, die für mich maßgebend sein sollen. Ich bin, wie ich hoffe, ein vernünftiger Mensch. Als solcher habe ich nicht nur den ernsten Fleiß zu achten, mit welchem du nach Erkenntnis strebtest, sondern auch die Früchte dieses Fleißes, die du so aufrichtig bist, mir vorzulegen. Ich weiß, daß du mich nicht zwingen willst, sie zu genießen, und habe also nicht den geringsten Grund zu einem Lobe oder Tadel. Sprich also ruhig weiter!«

Wahrscheinlich hatte er eine andere Antwort erwartet. Er sagte es aber nicht, sondern fuhr gleich fort:

»Hast du vielleicht einen solchen angeblich von Gott gepachteten Himmel kennen gelernt? Ich nicht nur mehrere, sondern viele. Wie sonderbar, daß sie einander alle so außerordentlich ähnlich sind! Und weißt du, was so ein allgewaltiger Vertreter Gottes für den Pacht bezahlt? Was von dem ihm gebrachten Weihrauche übrig bleibt, das schickt er dem Herrn hinauf. Weiter nichts! Und nachdem er sämtliche Verneigungen und Verbeugungen für sich hingenommen hat, ist er so gütig, nun auch seinerseits Gott einen Knicks zu machen. Weiter nichts! Denn dieser Gott ist so ganz ewige Liebe, Gnade, Geduld und Gutmütigkeit, daß der Usurpator seines Himmels gar nicht an einen Tag der Abrechnung zu denken hat, an welchem er sicher der erste aller derer ist, die hinausgeworfen werden! Da wirst du mich fragen, wie es sich mit der ewigen Gerechtigkeit verträgt, solchen übermütigen Himmelspächter so lange, lange Zeit im Paradiese sitzen zu lassen. Mein Freund, es ist ja gar nicht der Himmel, in dem er sich festgesetzt hat, sondern jene einstige, herrliche, nun aber zur Wüste gewordene Gedankenwelt, in welcher jedes folgende Kameel genau in die Stapfen des vorangehenden zu treten hat, wenn es nicht von dem Führer gezwungen werden will, auf die Vorderbeine zu fallen, um die Peitsche zu bekommen.«

Ich wollte hier eine berichtigende oder wenigstens mildernde Bemerkung machen. Er wies sie aber durch eine rasche und energische Bewegung seiner Hand zurück und sprach weiter:

»Ich weiß alles, was du sagen willst, alles! Du hast gemeint, ich wolle als Personifikation meines Lebens vor dir stehen, als Individuum. Nun lasse es mich auch sein! Ich hatte die Absicht, anders zu sprechen. Ich wollte mit der Stimme der Menschheit reden. Du aber hast mich darauf gebracht, als Einzelwesen mich jener Zunge zu bedienen, mit welcher mich Haß und Neid aus den Straßen des Lebens hierher in diese meine Einsamkeit verwiesen. Ich danke dir, daß du mir dies ermöglicht hast! Ich werde nicht die Unwahrheit sagen, auch nicht übertreiben, sondern alles bei dem rechten Namen nennen. Aber fordere nicht von mir, zu schweigen oder gar zu beschönigen und mißzuloben, wo man gegen mich nicht einmal Nachsicht hatte. Der Gemarterte hat keine andern Töne als die, welche ihm der Schmerz erpreßt. Und wenn ich jetzt in der Erinnerung von meinen Bergen aus zurück nach jenen Gegenden steige, in denen ich die größten Qualen erduldete, die ein Mensch erleiden kann, so wundere dich nicht, daß ich nicht im Tone eines Mannes erzähle, der seine Feinde vergessen hat!«

»Ich würde es dennoch thun!« warf ich ein.

»Du? Wirklich?«

»Ja.«

»Ich glaube es dir. Christus sprach ja: Liebet eure Feinde! Aber er war der Gottmensch, und du hast mich auf das Individuum, auf meine spezielle Persönlichkeit zurückgeführt, und so soll sie es sein, welche ich jetzt sprechen lasse. Ich fordere dich auf, dich als die Gesamtheit meiner Feinde zu betrachten. Zu ihr will ich weiter reden, nicht zu dir, dem das Leben nur Sonnenschein und die Menschheit gewiß nur freundschaftliche Anerkennung gegeben hat!«

Da war ich still! Ich sagte kein Wort, kein einziges! Aber mein Gesicht schien nicht ganz so verschwiegen zu sein, wie ich es wünschte, denn er fragte:

»Was hast du für ein eigenartiges Lächeln, Effendi? Gilt es mir?«

»Nein. Bitte, sprich weiter! Du sagtest, daß du viele jener gepachteten Himmel kennen gelernt habest?«

»Ja. Indem ich dir einen von ihnen beschreibe, lernst du mit ihm auch alle anderen kennen. Also höre! Ich kam auf meinem Pferde Imtichat[2 - Die Prüfungen.] vom Dschebel Din[3 - Berg des Glaubens.] herab in ebenliegendes Menschenland. Da kehrte ich ein und erfuhr, daß hier der Weg zum nahen Paradiese sei. Ich ließ mir diesen Weg zeigen und folgte ihm. Die Leute, welche mir begegneten, schienen alle sehr fromm zu sein. Sie hielten die Hände gefaltet und schlugen die Augen ganz anders auf, als man für gewöhnlich thut. Bewohnte Zelte und Häuser gab es gar nicht mehr, dafür aber lauter Gebäude, welche Allah geweiht waren, wenn auch unter anderen Namen. Ich sah Moscheen neben hochfensterigen Bauten, an denen Türme standen, indische Tempel und chinesische Pagoden, malayische Götterhäuser und amerikanische Medizinzelte, hottentottische Götzenhütten und die in die Erde gegrabenen Andachtslöcher der Australen. Viele, viele Menschen strömten vor mir her. Sie alle wollten in den Himmel. Aber fast ebenso viele kamen traurig zurück, weil sie nicht hineingedurft hatten. Ich fragte sie, warum, und erfuhr, daß sie nicht im Besitze von Erlaubnisscheinen gewesen seien. Da ritt ich weiter. Das Gewühl wurde immer größer, bis ich das Thor des Himmels vor mir sah. Da hielt die Menge an, weil sich quer über den Weg das Chabl el Milal[4 - Seil der Konfessionen.] spannte. Ich war nicht da, um schon jetzt in den Himmel zu kommen und dort zu bleiben, sondern nur, um ihn zu prüfen. Darum ging mich dieses Seil nichts an. Ich spornte mein Pferd, und es sprang darüber weg. Nun befand ich mich auf dem freien Platze vor dem Thore des Paradieses. An der sehr, sehr hohen Mauer standen herrliche Palmen, Bäume und Sträucher, welche prächtig zu blühen schienen. Aber da ich keinen Duft bemerkte, schaute ich schärfer hin, und da sah ich denn, daß es keine wirklichen, sondern nur gemalte waren. Nur ein einziger von allen war ein wirklicher Baum, aber ein höchst sonderbarer. Er war sehr niedrig, doch unendlich breit. Blüten und Früchte trug er nicht, aber Tausende von eigentümlichen Blättern, welche die Form menschlicher Köpfe hatten, die lebendig zu sein schienen, denn sie bewegten die Augen immerfort, wobei sie mit den nie schweigenden Lippen plapperten. Ich drehte mich um und fragte einen der Dastehenden, was das für eine seltsame Pflanze sei.

»Das ist der Baum El Dscharanil,« wurde mir geantwortet. »Kennst du ihn nicht? Er wurde hierher gepflanzt, weil der Baum der Erkenntnis, der einst mitten im Paradiese stand, abgestorben ist. Seitdem muß man die Blätter des El Dscharanil fragen, wenn man wissen will, ob man das Wohlgefallen Allahs besitze oder nicht. Denn nur sie allein sind es, denen er alle Geheimnisse seines Ratschlusses anvertraut, sonst niemandem weiter auf der ganzen Erde.«

Kaum hatte ich dies erfahren, so wurde ich von einigen der Blätter gesehen. Es erhob sich erst ein unverständliches Flüstern. Dieses wurde immer lauter, je mehr Augen sich auf mich richteten, bis sich endlich alle Lippen bewegten und meinen Namen riefen. Infolge dieses vereinten Geschreies thaten sich alle in der Nähe liegenden Thüren auf, und über mich ergoß sich eine Menge von Gestalten, von denen ich erdrückt worden wäre, wenn ich nicht hoch auf dem Pferde gesessen hätte. Ich spornte es zu einigen Seitensprüngen an, so daß ich freien Raum gewann, und fragte, was man wolle. Die Antwort erklang in allen Sprachen, die es auf der Erde giebt. Die mich Umringenden waren ja auch in die Trachten aller Völker gekleidet. Jeder von ihnen hatte etwas in der Hand, was er sein »heiliges Buch« nannte, und jeder von ihnen versicherte, daß er der einzig und allein berechtigte Aussteller der hier vorzuzeigenden Erlaubniskarte sei. Ich aber machte kurzen Prozeß mit ihnen allen und verlangte die Unterschrift dessen zu sehen, von dem man diesen Himmel gepachtet habe. Das hatte noch niemand gethan, und darum waren sie von dieser meiner Forderung so verblüfft, daß sie alle wieder in ihren Thüren verschwanden. Ich konnte also ungehindert durch das Thor des Paradieses reiten. Doch als ich an dem Baum der Neugierde und Geschwätzigkeit El Dscharanil vorüberkam, riefen alle seine Köpfe in einem und demselben Tone:

»Er kommt zwar hinein, doch niemals wieder heraus. Wer dieses Himmelreich betritt, der ist verloren. Dafür haben wir gesorgt, wir, die Gottesstimmen!«

Hier machte der Ustad eine Pause. Welch ein Bild er mir da vor die Augen stellte! Fremdartig, aber nicht ganz unwahr. Was ich als gerecht denkender Beobachter dagegen zu sagen hatte, das hob ich mir für später auf, weil sein Gedankengang zu interessant war, als daß ich ihn in demselben hätte stören mögen. Er sprach auch sehr bald weiter:

»Sobald ich das Thor hinter mir hatte, blieb ich, mich umschauend, halten. Wie groß war mein Erstaunen, als ich nichts, aber auch gar nichts zu entdecken vermochte, was ich hätte himmlisch oder paradiesisch nennen können! Ich befand mich in einer unbeschreiblich kahlen, öden, leblosen Traurigkeit. Man hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, die Innenseite der Mauer ebenso zu bemalen wie die äußere. Die Malereien da draußen waren angebracht worden, durch die mit ihnen bezweckte Täuschung die kurzsichtigen und vertrauensseligen Gläubigen anzulocken. Da man aber keinen, der das Chabl el Milal hinter sich hatte, wieder zurückkehren ließ, so hielt man es nicht für nötig, diese Beschönigungen dann im Paradiese fortzusetzen. Ich sah weder Baum noch Strauch. Kein Wasser floß. Kein Weg war zu erkennen. Nichts als verwehte Spuren im ausgetrockneten, unfruchtbaren Sande, so lag vor meinen Augen das sogenannte Eden, von welchem die »Erleuchteten des Herrn« in hundert Zungen der Verzückung sprachen! Es mußte jedem Fuße grauen, einen Vorwärtsschritt in diese wüste Hoffnungslosigkeit zu wagen. Und doch schien man es für ganz selbstverständlich zu halten, daß jeder Angekommene diese ihn ganz unvermeidlich packende Angst zu überwinden habe. Es war dafür gesorgt, daß kein am Eingang Stehengebliebener den Nachfolgenden diese seine Bangigkeit verraten konnte. Es gab hier schnellbereite Wesen, welche ihn sofort wegzuschaffen hatten. Sie standen zu beiden Seiten des Thores, um, hinter der Mauer versteckt, bei jeder neuen Ankunft als vorzüglich auf den Mann dressierte Kameele und Esel schnell herbeizueilen, damit niemand Zeit finde, bedenklich zu werden. Auch als ich erschien, rührten sie augenblicklich die Beine. Da aber sahen sie mein Pferd. Das war genug für sie, mir fern zu bleiben. Wie bei den Menschen alles Unedle von dem Edlen abgestoßen wird, so auch hier bei diesen Tieren. Ich nahm mir Zeit, sie zu betrachten. Die Esel waren alle von tiefdunkelster Farbe, klein, fast winzig, doch mit so hochgehendem Sattelgestell, daß der Hinaufgekletterte sich wohl sehr erhaben vorkommen konnte. Anstatt des gebräuchlichen Riemenzeuges gab es nur eine kurze Aufsatzleine, welche das Maul des Esels so in die Höhe zog, daß die Augen nichts mehr von der Erde, sondern nur noch den Himmel sehen konnten. Das war so tierquälerisch, daß ich den Kopf über den Unverstand schütteln mußte, der zu dem zwange, zu allem immer nur »Ja« sagen zu müssen, auch noch diese »Köpfe-hoch-Dressur« zu fügen weiß! Aber dieses Zuviel für das Tier hatte man durch ein Zuwenig für den Reiter ausgleichen zu müssen gemeint: Es gab für ihn keinen Zügel, um den Esel zu lenken. Er mußte einfach dorthin, wohin der letztere abgerichtet worden war.«

Der Ustad hatte während dieser Beschreibung mit gebeugtem Kopfe nur in sich hineingeschaut. Jetzt sah er mich an und fragte:

»Hast du mich verstanden, Effendi?«

»Ja,« nickte ich.

»Willst du etwas dazu bemerken?«

»Jetzt nicht, sondern später, wenn du fertig bist. Ich könnte ja nicht ganz und voll antworten, wenn ich dich nur halb sprechen ließe. Also bitte, weiter!«

»Ja weiter: die Kamele! Du kennst die edlen, herrlichen Bischarihn-Hedschihn, welche für Geld fast nie zu haben sind. Ihre Vornehmheit wird durch Stammbäume nachgewiesen. Du kennst auch das unvergleichlich nützliche bucharische oder turkistanische Kamel, ohne welches es in jenen Gegenden der Erde weder Leben noch Bewegung geben könnte. Doch kennst du auch jene tief verkommene Art des Kameles, welche bei euch in ungesunden, lichtlosen Ställen gezogen wird, um in Gesellschaft von Bären, Stachelschweinen und Murmeltieren dressierte Affen durch die Welt zu tragen? Als ich noch Knabe war, fand ich sie sehr belustigend. Seitdem ich aber edle Rasse kenne, thut mir der Anblick solcher Tiere wehe. Man sagt, daß diese Zucht vorzugsweise von Italien ausgehe. Wenigstens pflegen die Führer solcher Sehenswürdigkeiten, welche fast immer Virtuosen auf der Sackpfeife sind, nach welcher Bär und Affe tanzen müssen, meist italienischen Geblütes zu sein. Nun denke dir ein solches, im tiefsten Schmutze geborenes und mit der Peitsche erzogenes Kamel, mit Dornen und Disteln gefüttert und mit schmutzigem Wasser getränkt, nie vom Ungeziefer gereinigt, ein vom Hunger und Elend gefügig gemachtes Skelett mit haarlos geschundener Haut und wundem Gehufe, so hast du ein Bild der Kamele, die hier in dem Himmelreich standen, von fettreichen Pächtern entmagert, für die sie die Qualen zu dulden und sich schweigend zu opfern hatten! Ihre tiefhängenden Köpfe waren mit Doppelstricken an beide Kniee gefesselt, so daß sie nie den Himmel, sondern nur die Erde in den Augen hatten. Zum Kniebeugen reichten diese Stricke aus, doch nicht dazu, das Haupt emporzuheben. Und einen weiten, freien Schritt zu thun, auch das litt diese ihre Fessel nicht. Sie konnten nur behutsam vorwärtsschleichen und hatten nichts zu thun als das, was die Dressur befahl. An ihren Mäulern hingen Lippenkörbe, damit sie gegen Züchtigungen sich ja nicht wehren könnten und ja nicht von den giftigen Kräutern fräßen, an denen zwar sogar Kameele sterben, die aber für die Zwecke solcher Paradiese besonders wertvoll sind. Die Sättel waren hohe Throngestelle, mit farbenreichem Teppichwerk belegt, mit Fransen- und mit Federschmuck behangen, so daß der Reiter, falls es ihm gelang, sich auf der stolzen Höhe festzusetzen, und wenn er jene Phantasie besaß, die leidenschaftlich gern auf Höckern reitet, sich leicht als Allahs Liebling dünken konnte. – – – Hast du auch dieses Bild verstanden, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich. »Es ist ja deutlicher, als ich es geben möchte. Ich bitte dich, dein Pferd nun abzuwenden!«

»Ich habe es gethan. Ich ritt davon, mit offenem Auge in dieses vielgerühmte Himmelreich hinein. Fragst du mich vielleicht, wie lange es dauerte, bis ich es kennen gelernt hatte? Ein ganzes, ganzes Menschenelend lang! Soll ich beschreiben, was ich sah, was ich entdeckte? Wer kann Unbeschreibliches beschreiben! Schon gleich am ersten Tage blieb ich nicht allein. Der Menschheitsjammer kam zu mir und weinte mir aus tiefen Augenhöhlen zu. Er hat mich nicht verlassen bis zum letzten Schritt. Das Erdenweh gesellte sich zu mir. Es kroch zu mir aufs Pferd und schlang die Arme fest um meine Hüften. Des Lebens Elend faßte meinen Bügel und schleppte sich an meiner Seite weiter. Es kam die Not gerannt und griff in die Kandare, um mich in meiner Richtung zu beirren. Wenn sich die Dämmerung senkte, tanzten die Schatten des Verbrechens vor mir her, und in der stillen Nacht begannen Schuld und Strafe hinter mir zu heulen. Ich ritt wochenlang durch Trümmerstätten, in denen mich der hohnlachende Menschenwahn als Gespenst der Vernichtung begrüßte. Ich kam über schier endlose Gräberfelder, aus deren Höhlen das irre Gekicher der Unduldsamkeit schrillte. Ich sah Tempelruinen, in denen der Unverstand im tiefsten Stumpfsinne hockte. Um die zerbrochenen Säulen einstiger Heiligtümer schlug die Narrheit ihre widerlichen Capriolen. An ausgetrockneten Quellen träumte die Gleichgültigkeit in Lumpen, die ihre Blöße kaum bedecken konnten. Die Scheinheiligkeit andächtelte vor eingestürzten Kapellen, für deren Erhaltung sie keine Hand gerührt hatte. Zuweilen tauchte am Horizonte einer jener Reiter auf, welche Einlaßkarten besessen hatten; aber sein Tier wendete sich sofort zur Flucht, sobald es sah, daß ich kein Kamel und keinen Esel ritt. Und wenn sich irgendwo noch ein anderes Wesen in diesem starren Himmelreiche zeigte, so hatte ich entweder einen listigen Fennek[5 - Wüstenfuchs.] gesehen, der mit Lammesaugenaufschlag schnell verschwand, oder es war ein fraßgieriger Dibb[6 - Hyäne.], welcher mit eingezogenem Schwanze und heuchlerisch gesenktem Kopfe von weitem an mir vorüberschlich.«

Hier ließ der Ustad eine weitere Pause eintreten. Ich war ihm mit großem Interesse gefolgt. Nun fühlte ich eine Lücke in seiner Darstellung. Darum fragte ich:

»Aber alle die Unzähligen, welche Einlaß bekommen haben? Sie können dir doch nicht so einzeln erschienen und gleich wieder verschwunden sein!«

»Nein,« antwortete er. »Ich kann sie dir leider nicht ersparen. Meinst du vielleicht, dieses Paradies sei von einer himmlisch friedfertigen, sich gegenseitig liebenden und stützenden Bevölkerung bewohnt? Glaubst du, dorteinen Hirten und eine Herde zu finden? Ich kenne so gut wie du das verheißende Wort: »Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das wird von Gott bereitet denen, die ihn lieben.« Welche unbeschreiblichen Glückseligkeiten aber waren es, welche ich zu sehen und zu hören bekam? Höre und staune! Hast du schon einmal vernommen, daß es unter den wilden Tieren welche giebt, die sich von ihresgleichen zurückgezogen haben und sie so grimmig hassen, daß sie jedes, welches in ihren Bereich kommt, sofort zerreißen oder sonst vernichten?«

»Ja. Dies ist besonders bei den Elefanten, Nashörnern, Löwen, Tigern und andern Raubtieren der Fall. Man pflegt solche Exemplare »Einsiedler« zu nennen.«

»Nun, so wisse, daß es in diesem Himmel keine andern Bewohner als nur solche »Exemplare« giebt! Sie wohnen nicht zusammen, sondern als Einsiedler, weil keiner dem andern traut. Jeder ist an einer besondern Kluft oder Höhle von seinem Esel oder Kamele gestiegen. Dort wohnt er nun und verteidigt sie bis auf das Blut gegen jeden, der nicht seiner Meinung über den Himmel ist. Da es aber der Meinungen so viele und so verschiedene giebt, wie Individuen vorhanden sind, so herrscht zwischen ihnen allen eine Feindseligkeit, vor welcher wir selbst im Erdenleben erzittern würden. Jede Kluft und jede Höhle ist ein Götzentempel, in welcher der Bewohner sich selbst als seinen eigenen Fetisch verehrt. Er behauptet zwar, Gott anzubeten, zwingt aber diesem Gott seine eigenen Gedanken auf und setzt sich also über ihn. Die Folge dieser Selbstübergötterung ist, daß sich keiner dieser Götter an den andern wagt, weil er sonst von ihm herausgebissen wird. Das, Effendi, das ist dieser Himmel! Ueber ihm brennt die ewig glühende Sonne der alles verdorrenden Selbstgerechtigkeit, die auf Raub ausgeht wie jener listige Fuchs und jene heimtückische Hyäne, welche selbst hier im Paradiese nur niedere Lurche oder erdfarbige Kerbtiere zum Fressen finden. Wie froh war ich, als ich meine Wanderung vollendet hatte! Ich fühlte mich wahrhaft selig, diese falsche Seligkeit verlassen zu können. Als ich das Thor wieder erreichte, warfen uns die dort stehenden Esel und Kamele Blicke des unendlichsten Neides zu, daß wir es uns gestatten durften, dieses entsetzliche Elend zu verlassen. Die Pächter aber strömten herbei, um mich ihr Paradies preisen zu hören. Ich teilte ihnen aber mit, daß ich den Menschen die volle Wahrheit sagen werde. Da erhoben sie ein lautes Wutgeschrei. Im Baume El Dscharanil begann es zu rauschen. Alle seine Augen waren drohend auf mich gerichtet. Die Köpfe schüttelten sich, und von den Lippen ertönte ein Geheul, daß das Seil El Milal vor mir zersprang. Die Esel und Kamele jenseits des Thores stimmten jammernd ein. Ich aber ritt davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen, gleichviel, ob ich für feig gehalten wurde oder nicht. Wer sich aus einem solchen Himmel herauszuretten weiß, der muß wohl Mut besitzen!«

Er schlug bei diesen Worten die Hände zusammen, als ob er jetzt noch froh über diesen glücklichen Ausgang sei. Hierauf ging er einige Male in langsamen Schritten durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und fragte:

»Hast du jemals geahnt, daß es so ein Paradies giebt, Effendi?«

»Es giebt dieser Paradiese viele,« antwortete ich, mein Auge zu ihm erhebend. »Warum hast du damals nach keinem anderen gesucht?«

»Welche Frage! Ich verstehe dich nicht!«

»Du erzähltest mir ja, daß du vom Dschebel Din herab in ebenes Menschenland gekommen seist. Warum hast du deinen »Berg des Glaubens« überhaupt verlassen? Mußtest du das? Und wenn du es mußtest oder wolltest, was bewog dich da, das geistige Tiefland, die Ebene, die Wüste aufzusuchen, wo kein Gedanke in die Höhe strebt, sondern nur darnach, sich über die Fläche auszubreiten?«

»Maschallah!« rief er erstaunt aus. »So, also so betrachtest du das, was ich erzählte?«

»Natürlich! Wie anders denn?«

»Ich habe von Menschen gesprochen!«

»Gewiß! Aber besteht der Mensch nur aus seinem Körper? Sprechen wir einmal nicht von der Seele, sondern sagen wir, daß der Mensch aus Leib und Geist bestehe. Der Leib wird sterben, der Geist aber nicht. So lange wir sowohl auf den Körper als auch auf den Geist Rücksicht nehmen, leben wir das wohlbekannte Erdenleben, welches ich als »das erste« bezeichnen will. Wer aber so stark gewesen ist, alle Rücksicht auf den Leib und seinen Zusammenhang mit dem Menschheitskörper zu überwinden und hinter sich zu werfen und sich nur noch als Geist zu betrachten, während der Leib für ihn gestorben ist, der lebt schon hier vor der Auflösung dieses letzteren ein anderes, neues, höheres Leben, welches ich einstweilen, aber auch nur einstweilen »das zweite« nennen will. Denn es giebt Menschen, deren Geist sich nicht zur Individualität gestaltet. Wenn diese Stufe für mich auch ein Leben ist, so muß ich sie das »erste« Leben nennen und die vorhin erwähnten beiden Stufen als »zweites« und »drittes Leben« bezeichnen. Nun sage mir, o Ustad, von welcher dieser Stufen aus, auf der du dich befindest, hast du mir jetzt soeben den allerniedrigsten Himmel beschrieben, den ich mir nur denken kann? Ich wollte, ich dürfte dir einmal einen andern Himmel, vielleicht den meinigen, beschreiben!«

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja. Ganz so, wie du den von dir beschriebenen! Vor meinem Himmel giebt es kein Seil El Milal, keinen Baum El Dscharanil und keine Wandmalereien. Ihn hat sich auch kein Pächter angemaßt, und an der Straße, die zu ihm führt, stehen keine Götzenhäuser. Auch giebt es keine Mauer und kein Thor. Es führen so viel Wege hinein, wie es Menschen giebt. Er steht ihnen allen offen, wenn sie nur kommen wollen. In diesem meinem Gedankenparadiese ist nichts versunken, vernichtet und vergessen. Da ragen die Gottesideen vergangener Jahrtausende noch so hoch wie damals im Morgenrot empor. Und in der Abendröte erglänzen die neuen, hohen Ideale zukünftiger Jahrhunderte, um zu Wirklichkeiten zu werden, wenn die Menschheit morgen oder übermorgen sagt:

Was sprachst du von Ruinen und Gräberfeldern? Dem Geiste sind sie unbekannt! Was er einst mit der Hand des Körpers baute, war für den Körper, aber nicht für ihn. Es war ja nur das Erdenabbild dessen, was er für sich im Geisterreich gebaut. Und dieser hochgelegene Bau ist ewig. Sein Abbild mag zerfallen, das Urbild aber trifft kein Zahn der Erdenzeit. Wenn du mit deinen körperlichen Augen dein Paradies in Trümmern und im Tode liegen sahst, so breitet sich in Himmelshöhe über ihm das meine aus, und alles, was bei dir in Schutt zerfallen ist, das blieb im Originale des Meisters mir erhalten. Und so, wie jedes Werk in meinem Himmel edler ist als in dem deinigen, so sind auch alle Menschen besser als die deinen. Du richtest sie. Ich habe nichts zu richten. Vielleicht verzeihst du ihnen. Doch ich verzeihe nicht. Warum? Man hat mir nichts gethan! Vor meinem Paradiese steht jede Feindschaft still. Sie wagt sich nicht herein. Und weil sie mich also nicht treffen kann, so giebt es für mich nichts, was ich verzeihen dürfte, so gern ich es auch möchte.«

»So hat es ganz gewiß den Baum El Dscharanil für dich niemals gegeben!«

»Ich kenne ihn! Du hast ihn an das Paradies der Selbstgerechtigkeit gesetzt; das heißt, an seine rechte Stelle. Auch ich habe ihn dort stehen sehen, diesen Baum der sehenden und sprechenden Blätter, der Zeitungen, der öffentlichen Presse. Doch schaute ich ihn anders an als du. Das Reich des Geistes hat die größte Aehnlichkeit mit dem Reiche der sichtbaren Natur. Es giebt hier wie dort keine Entwicklung, die nicht von unten nach oben zu gehen hätte. Ihre Aufgabe ist die Trennung von der niederen Materie und die Gestaltung zum selbständigen, sich frei bewegenden Einzelwesen. Lächle nicht, wenn ich dir sage, daß jedes, aber auch jedes geistige Gebiet sein Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich besitzt! – Du wirst das sofort und überall erkennen, wenn du nur die richtigen Augen dafür öffnest.«

»Also auch das Gebiet der öffentlichen Presse?« fragte er schnell, indem sein Gesicht den Ausdruck gespannter Erwartung annahm.

»Ja, auch dieses! Der Boden, also die Materie ist gegeben. Es existiert keine Felsen- oder Gesteinsformation und keine Erdbeschaffenheit, die nicht auch hier in diesem geistigen Reiche vorhanden wäre. Oder hörst du nicht die sogenannte öffentliche Stimme von den Spitzen hoher Berge, aus den tiefsten Thälern, aus finstern Schluchten, aus sandiger Oede, auf sonniger Flur und aber auch aus häßlichen Sümpfen erklingen? Giebt es nicht zahllose Blätter, in denen nur die Materie zu sprechen hat und nur der Stoff zum Worte kommt? Aber bald regt sich das Leben, zunächst das niedrige, welches durch sämtliche Ordnungen zu steigen hat, um sich von dem Stoffe zu erlösen. Du siehst geistige Flechten und Moose erscheinen, dann Farne, deren Gestalt auf spätere Palmen hoffen läßt, freundliche Gräser und Kräuter, duftend blühende Sträucher und früchtetragende Bäume. Diese alle aber, so lieb, so gut, so nützlich sie auch sein mögen, sie haben es doch nicht vermocht, den Boden zu verlassen, auf dem das Blatt, die Zeitung, gegründet worden war. Sie klammern sich mit ihren Wurzeln in ihm fest und müssen das ja auch thun, weil es die Absicht des Verlegers ist, grad diesen Boden für sich zu kultivieren.«

»Und aber die Zoologie der Presse?« fragte der Ustad.

»Sie kann und darf nicht fehlen, denn nur in ihren Erscheinungen schreitet die Befreiung von der Materie in rapider Weise fort. Auch hier beginnt die Entwicklung mit den niederen Lebewesen. Ich sehe winzige Goldkäferchen ihre geistige Nahrung aus Blumenkelchen ziehen und leuchtende Glühflügler um urweltliche Gedanken schwirren. Freundliche Schmetterlinge gaukeln von Leserin zu Leserin. Ein niemals ruhender Ameisenfluß trägt Wort um Wort und Satz um Satz zusammen, und Bienen summen überall, um Honig heimzutragen. In den Quellen und Bächen der Tagesereignisse schießen schnelle Flossenträger hin und her. Und wenn nun gar beim Morgen- oder Abendsonnenschein des Frühlings Odem durch die Blätter weht, da erzählen tausend süße, frohe Stimmen, daß grad die liebsten und die besten Sänger zur oft verkannten »Feder«-Welt gehören! Ich kenne manchen edlen Geist, der wie in Adlersferne hoch über der Gemeinheit horstet, und manchen scharfen Denker, der, gleich dem Albatros, den Staub der Erde nie berührt. Ist dir der Ackergaul bekannt, der für wenig Hafer, aber viel Häcksel täglich seine Furchenzeilen zu ziehen und sich am Ende jeder Reihe wieder umzudrehen hat, damit er ja nicht etwa auf fremde Gedanken komme?«

»Ich habe ihn gesehen, wie oft, wie oft!« antwortete er. »Aber du hast deine Beispiele nur von der einen, von der guten Seite genommen; der Ackergaul bringt mich auf die andere hinüber. Du warst so aufrichtig, auch von Sümpfen zu sprechen. Warum hast du die Giftpflanzen, die Dornen, Quecken und anderen Wucherungen nicht erwähnt? Das Ungeziefer unter den Insekten? Die Raubfische? – Die täglich auf den Blättern ihrer Schlammpflanzen nur von ihrer eigenen Weisheit quakenden Frösche? Die Giftschlangen? Die lästigen Sperlinge? Die Käuze und Eulen, deren lichtscheuer Mordhunger nur des Nachts auf Beute ausgeht? Die aaslüsternen Geier? Die Neuntöter, welche ihre Opfer erst am Stachel quälen, ehe sie verschlungen werden? Die Falken und Stößer, die sich selbst am hellen Tag nicht scheuen, auf Fraß auszugehen. Die Mäuse, Ratten, Hamster und anderen Schmarotzer auf geistigem Gebiet? Die kläffenden oder gar bissigen Hunde, die jedem in die Waden fahren, der es wagt, an einem ihrer Gedanken auch nur vorüberzugehen? Die ganze Unzahl der reißenden Fleischfresser, die Jeden, der nicht ganz vollständig ihresgleichen ist, mit ihren Klauen packen? Die große Schar der kreischenden Quadrumanen, von der zänkischen und rachsüchtigen Meerkatze bis zum menschengefährlichen Gorilla hinauf? Warum hast du nicht von ihnen gesprochen? Soll ich dir zutrauen, daß du beschönigen willst?«

»Das liegt mir fern. Wir sprechen ja von deinem und von meinem Gedankenparadiese. Das deinige ist traurig, das meine ideal. Die gegenwärtige Wahrheit wird zwischen beiden liegen, muß aber nach ewig geltenden Gesetzen nicht deiner Wüste, sondern meinem Eden immer näher kommen. Wir addieren leider auf ganz verschiedene Weise. Dein Pessimismus zieht nach altem Brauche die Summe, indem er abwärts rechnet. Mein Optimismus aber hat gefunden, daß es besser sei, aufwärts zu gehen. Du bist, unten angekommen, mit deinem Leben fertig. Du machst den großen Strich und schreibst als die so erreichte Summe deine kahle Geisteswüste hin. Bei mir aber giebt es oben keinen Strich, denn mein Paradies sendet mir ununterbrochen neue Summanden hinzu. Sie wachsen in die Ewigkeit hinauf.

Und wenn mein Körper dieser Rechnungsweise nicht mehr folgen kann, so wird mein Geist dort einst gewiß die Summe finden.«

Er trat an das offene Fenster und schaute hinaus.

»– – – dort einst gewiß die Summe finden!« wiederholte er meine Worte.

Es war für einige Zeit still zwischen uns. Ich störte ihn nicht. Dann drehte er sich zu mir um und fragte:

»Bist du mit deinen geistigen Naturreichen der Presse schon zu Ende, Effendi?«

»Nein,« sagte ich.

»Du gingst auch hier von unten nach oben. Das scheint bei dir in allen Dingen der Fall zu sein! Kommt jetzt nun noch der Mensch?«

»Ja. Im Tiere hat sich die Befreiung vom geistigen Erdboden vollzogen, und das Streben nach der Individualität tritt immer mehr hervor. Doch erreicht kann diese letztere nur vom Menschen werden.«

»Von allen?«

»Nein. Sie sollte es, wird es aber leider nicht. Es giebt so viele, welche entweder durch tausend Rücksichten aller Art noch mit dem Boden in Verbindung bleiben, oder sich durch ganz dieselben und ähnliche Bedenken derart von andern beeinflussen lassen, daß sie es nicht zur intellektuellen Selbständigkeit, zur geistigen Freiheit, zur vollen Selbstbestimmung und Selbstbewegung bringen. Tritt in die Redaktionen, und frage, welche Rücksichten die dort bestimmenden und doch so angefesselten Geister zu nehmen haben! Aber ich habe auch vollendete Persönlichkeiten gefunden, zuweilen da, wo ich es gar nicht erwartete. Wie groß war da meine Freude! Und wie gern und aufrichtig habe ich ihnen meine Anerkennung gezollt! Ein solcher Geist weiß nichts von materiellen Banden. Er hat alle Fesseln zerrissen und sie der menschlichen Selbstsucht und geistigen Kurzsichtigkeit vor die Füße geworfen. Er kennt weder Parteiinteressen noch gesellschaftliche Sondergefälligkeiten. Für ihn giebt es keine Körper, sondern nur noch Geister. Darum wird er nie ein Urteil fällen, welches aus niedrigen Erwägungen gezogen ist und mit den auf ihn gerichteten Blicken der Körperwelt liebäugelt. Es kann ihm niemals beikommen, auch nur einen einzigen Menschen zu verdammen, denn er weiß, daß dieser Mensch, geistig betrachtet, ein ganz anderer ist, als ihn die gehässigen Augen der Fama sehen, die ihre Richtersprüche nur im Erdenschmutze züchtet. Er hat den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen begriffen und weiß, daß der Erstere nicht aus dem Letzteren gerissen werden kann, um ausgestoßen und von der geistigen Feindseligkeit abgethan zu werden. Er kennt die Strömungen und Gegenströmungen der übersinnlichen Atmosphäre, die frei von den Ausdünstungen egokranker Menschenkörper sind, und hebt jeden seiner Nächsten, bevor er ihn betrachtet, zu dieser durchsichtig klaren, reinen, keine Mißgunst kennenden Höhe empor.«

»Aber was dann, wenn es geschieht, daß er selbst einmal angegriffen, befeindet, verleumdet und verurteilt wird?« fragte der Ustad.

»So thut er eben das, was ich jetzt sagte: Er hebt die Angreifer aus ihrer Tiefe zu sich empor, um sie zu durchschauen. Da fällt der ganze Schmutz und alles, was sie sonst noch gewichtig gemacht hat, von ihnen ab. Sie werden leicht, so über oder vielmehr unter alle Maßen leicht, daß sie vor seinen Augen nach und nach in nichts zerfließen. Sie sind ja ganz nur Schmutz und ohne jede Spur von Geist gewesen, und so versteht es sich ja ganz von selbst, daß, sobald der Unflat abgefallen ist, für ihn von ihrer ganzen Existenz nichts mehr vorhanden sein kann.«

»Aber er wird doch antworten? Sich verteidigen?«

»Welch eine Frage! Ich habe dir doch soeben gesagt, daß sie für ihn in Nichts zerflossen seien. Wem soll er antworten? Diesem Nichts? Das wäre ja doch Widersinn! Oder dem Schmutze? Der geht ihn gar nichts an. Er ist der ihrige! Dem Geiste, den es bei ihnen gar nicht giebt? Ich begreife dich nicht! Würdest etwa du antworten?«

Da that er einige rasche Schritte auf mich zu und rief aus:

»Effendi, ich habe es gethan. Ich habe geantwortet – – – leider, leider, leider!«

»Dem Schmutze?«

»Ja.«

»Dem Nichts?«

»Nein. Ich stand ja, wie ich jetzt, erst jetzt einsehe, nicht so hoch über meinen Feinden, daß sie mir in ein Nichts zerfließen mußten. Und nun erkenne ich, daß auch ich nicht frei von Schmutz gewesen sein kann. Denn hätte er nicht auch an mir gehaftet, so wäre mein Verhalten ganz das jenes hohen, freien Geistes gewesen, von welchem du gesprochen hast. Mir scheint, ich habe Fehler einzugestehen, die mir bis zur gegenwärtigen Stunde keinesweges als Fehler erschienen sind. Du hast heut da drüben bei unserm Beit-y-Chodeh dem Pedehr gebeichtet. Ich war tief im Herzen gerührt davon. Deine mutvolle Aufrichtigkeit imponierte mir. Nun bist du rein und frei von allem, was dir angehangen hat. Ich glaubte nicht, daß auch ich mich zu reinigen haben werde. Jetzt aber weiß ich, daß es doch so ist. Ich werde denselben Mut besitzen, den du besessen hast. Auch ich werde beichten, dir, wie du dem Pedehr. Und wenn ich dann aus deinem Munde höre, daß mir verziehen werden könne, so werde ich mich für berechtigt halten dürfen, diese Verzeihung als ausgesprochen, als geschehen anzunehmen. Ich war über das hinaus, was du das »erste Leben« nanntest. Ich stand im »zweiten Leben«, denn ich fühlte, daß sich meine geistige Individualität in mir gestalten wollte. Aber es gelang mir nicht, das »dritte« zu erreichen. Warum? Wir werden nach den Gründen suchen, du und ich. Und ich ahne, daß ich in diesen Gründen meine mir bisher unbekannten Fehler entdecken werde.«