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»Warum bleibst du still?« fragte er.
»Sind Schatten es wert, daß man von ihnen spricht?« antwortete ich.
Er sah mich erstaunt, ja fast betroffen an. Da fuhr ich fort:
»Wenn sie Nichtse sind, wie du behauptest, warum so viele Worte über sie? Für Nichtse giebt es eben nichts. Sie scheinen dir also doch mehr als nichts gewesen zu sein !«
»Das war in der Vergangenheit. Das ist vorüber!« behauptete er.
»Vorüber? – Wirklich?«
»Ja!«
»Und doch erregt dich der Gedanke an sie noch heut in einer solchen Weise, daß du soeben an der Luft gewesen bist, um dich zu beruhigen! Ustad, Ustad! Du sagtest: »Und ich ging, um das Licht ohne Schatten zu finden«! Hast du es gefunden?«
Er trat einige Schritte zurück, schüttelte leise den Kopf, warf ihn dann schnell zurück und fragte mich:
»Etwa du, Effendi?«
»Von mir ist jetzt nicht die Rede, sondern von dir!«
»Es war von dir die Rede, von deinen Schatten! Du hast jedenfalls gar nicht gewußt, daß du welche hattest!«
Da stand nun auch ich auf.
»Mein Freund,« sagte ich, »mein armer Freund! Mir scheint, du hast das Leben ganz verkehrt genommen. Die Nichtse waren bestimmend für dich, nicht aber die inhaltsvolle Wirklichkeit. Du wolltest diese Wirklichkeit beherrschen, wurdest aber leider selbst nur von leeren Schatten regiert. Darum standest du machtlos vor dem Leben, als es sein Turnier mit dir begann, und wurdest von ihm in den Sand gestreckt! Du hattest es vielleicht wohl gar herausgefordert. Du dünktest dich, ein starker Geist zu sein, und wolltest kämpfen gegen andre Geister. Weißt du, was da das Leben that, das riesenstarke, mitleidskluge Leben?«
Er schaute mich fragend an, antwortete aber nicht.
»Es kannte dich. Was wäre wohl geworden, wenn es deine Forderung für Ernst genommen hätte! Es fiel ihm gar nicht ein, sich vor dir im Harnisch aufzustellen.
Es schob dir einen seiner Schatten hin, die du ja selbst jetzt nur Phantome nennst. Was thatest du? Du warfst dein Leben, deinen Geist und deine ganze Rüstung hin, ergriffst die Flucht und gingst in diese Berge, um dich hier in der »Gruft«, in diesem Grabe deines Jugendmutes, und hinter einem fremden Namen zu verstecken! Vor wem? Etwa vor dem Leben, welches dich gar nicht angegriffen hat? Nein, sondern vor jenem Nichtse, das für dich bald ein »Erdengott« und bald ein nichtiges Phantasma ist!«
Ich hatte in wohl ernstem Tone gesprochen. Da griff er sich mit den Händen nach dem Kopfe, schaute vor sich nieder, ließ die Arme wieder sinken, holte tief, tief Atem und sagte:
»Effendi, du schonst mich wahrlich nicht! Ich sehe und ich höre, du bist mein Freund, mein wirklicher! Solche Klarheit, wie du mir giebst, ist mir noch nie geworden! Willst du mich vernichten, um mich als einen anderen wieder aufzurichten? Wohlan, thue es! Doch erlaube mir, mich in deine Klarheit hineinzufinden! Sie kommt zu plötzlich über mich! Ein Nichts und doch ein »Erdengott«! Ja, ich habe Beides gesagt und mit Beidem dieselbe Person gemeint. Konnte sie beides sein, beides?«
»Ja; sie konnte es. Aber ich bitte dich: Denke nicht an konkrete Personen, niemals, nie! Sondern abstrahiere! Der Bauer reißt die Giftpflanzen aus der Erde und wirft sie auf den Dünger. Der Chemiker aber zieht auch aus ihnen wohlthätige Extrakte. Auch ich kenne sogenannte »Erdengötter«. Ich meine da nicht etwa die wirklich großen Menschen, sondern eben die »Götter« der Denkfaulheit und Urteilslosigkeit. Für mich aber sind sie nur wie jene Pflanzen: Ich koche ihre Seelen für mich aus, damit die meinige an diesem Trank sich stärke. Andere Gründe ihrer Existenz kenne ich nicht. Sie gedeihen nie im geistigen Sonnenscheine, sondern immer nur da, wo das Reich der Schatten eine seiner Provinzen errichtet hat. Dort sind sie Herr und Meister! Dort giebt es keine Persönlichkeit, kein Wollen und kein Dürfen. Die kleinen Schattlein haben ja alle in den großen zu fallen, um zu huschen und zu schleichen, so, wie er schleicht und huscht. Und wenn er einmal den Mund öffnet, weil dort im Sonnenscheine eine wirkliche Existenz den Mund geöffnet hat, so schau nur hin, was da erscheinen wird! Was dort der lebendige Odem des Geistes war, das ist hier nur der Dunst des lichtlos dunklen Bodens, auf dem der Schatten liegt und kriecht. – Ich spreche im allgemeinen, denn geistige Personen giebt es hier ja nicht. Wie ich auf die Schatten anderer sehr ruhig meine Füße setze, so mögen die andern auch ganz getrost auf den meinigen treten. Sie verletzen damit keinen wirklichen Menschen. Wer ihn aber mit Fußtritten strafen wollte, der wäre ein Thor, weil bei diesen Schemen ja überhaupt kein Stapfen haftet! So lange die Erde steht, haben diese Zerrgebilde sich unter den Füßen des menschlichen Verstandes und der denkenden Vernunft herumgetrieben, aber ich habe noch nicht gehört, daß ein Schatten durch diese Fußtritte nicht Schatten geblieben, sondern Mensch geworden sei. Darum begreife ich, o Ustad, nicht, daß die deinen eine so große Macht über dich besessen haben und heut noch zu besitzen scheinen!«
»Effendi, es waren die mythologischen Schatten, die Furien!« rief er aus.
»Wenn zehnmal und wenn tausendmal! Wer sind die Furien? Giebt es welche, oder leben sie nur in unserer Einbildung? Im letzteren Falle sind sie Geschöpfe meiner Phantasie, und ich kann sie vernichten, wann, wo und wie es mir beliebt. Im ersteren Falle aber frage ich: Wer steht höher, sie oder ich? Sie, die von meinen Fehlern und Sünden leben, oder ich, der ich sie ihnen hinwerfe, um rein oder gut zu werden? Welche Furie darf sich an mich wagen eines Fehlers wegen, den ich nicht mehr habe, weil nun sie ihn zwischen ihren Krallen hält, um sich an ihm zu mästen? Sie lebt von dem, was mir widerlich geworden ist. Sie steht so unendlich tief unter mir, daß ich es gar nicht hören oder sehen kann, wenn die Knochen meiner Sünden unter ihrem Raubgebisse krachen!«
»Aber andere hören es!« warf er ein.
»Wer?« fragte ich schnell und kurz. »Doch nur solche, die ebenso tief da unten wohnen. Die werden allerdings einen zähnefletschenden Jubel erheben, darüber, daß ihresgleichen sich abermals am Sündenaase laben kann. Aber jeder Brave, dem es bekannt würde, müßte es anerkennen, daß du nichts mehr von deinen Fehlern wissen willst. Dies letztere müßtest du ihm aber dadurch beweisen, daß du sie nicht etwa verteidigst, sondern sie den Furienkrallen schweigend überlässest. Nun sag, wie hast du dich verhalten?!«
Da setzte er sich hin, senkte den Kopf, legte die Hände zusammen und antwortete:
»Effendi, ich habe mich gewehrt, gegen diese Furien gewehrt, fast bis zum letzten Reste meiner Kraft!«
»So wundere dich nicht darüber, daß sie sogar noch heute Macht über dich besitzen! Du hast ihnen nicht erlaubt, reine Arbeit zu machen. Ich sage dir: Diese Eumeniden ruhen nicht. Sie werden nicht ohne Ursache mit kralligen Fingern, gifttriefendem Munde und hervorgestreckter Zunge abgebildet. Ihr Gift wird so lange triefen und ihre Zungen werden so lange heraushängen, bis dir der letzte und auch der allerletzte Rest von dem, was nicht hineingehört, aus dem Leibe und aus der Seele gerissen worden ist!«
Da stand er rasch wieder auf, faßte mich am Arme und sagte:
»Wie richtig Effendi! Oh, du scheinst sie doch zu kennen! Weißt du, was so eine Furie tat? Nein, du kannst es nicht wissen, nicht einmal ahnen! Du wirst es für unmöglich halten, aber es ist die volle Wahrheit; du kannst es mir glauben! Als diese Eumenide meine sogenannten öffentlichen Fehler öffentlich verzehrt hatte, war sie noch nicht satt. Sie begann nun auch nach heimlichen Sünden zu suchen. Sie war so unvorsichtig Briefe zu schreiben, in denen sie fragte, ob man vielleicht etwas gegen mich wisse. Man brachte mir solche Briefe. Wenn ich sie nicht gesehen und gelesen hätte, so würde ich heute wahrscheinlich glauben, daß es gar keine Furien gebe. Du siehst also, daß sie nicht bloß mythologische Gestalten, sondern noch jetzt lebende Wesen sind! Schatten, die unhörbar leise hinter meinem Rücken schleichen, um sogar die verborgensten Bewegungen meines Lebens aufzufangen, damit man sie selbst trotz ihrer Dunkelheit für reine, lichte Wesen halte! Glaubst du, was ich dir da erzählte, Effendi?«
Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort:
»Du hast gelächelt, und jetzt lachst du gar! Und zwar so eigentümlich! Warum? Du machst mich aufmerksam! Solltest vielleicht auch du – – du – – – du – – – —? Doch nein! In deinem frommen Christenlande kann es ja niemals solche Furien geben! Denn, würde eine entdeckt, so müßte sich die ganze Christenheit, die volle Priesterschaft an ihrer Spitze, erheben, um entrüstet nachzuweisen, daß ihre Liebes-, Gnaden- und Verzeihungsreligion unmöglich Eumeniden dulden kann! Verzeihe mir! Verzeihe mir im Namen deiner Christenheit, daß mir auch nur der Gedanke hieran kommen konnte! Ich sehe zu meinem Erstaunen, daß ich noch Schatten werfe, sogar auf dein geliebtes Abendland hinüber!«
»Beruhige dich!« bat ich ihn. »Der König des Schattenlandes, von welchem dein Märchen erzählte, hat Unterthanen überall. Auch bei uns! Doch will ein solcher Schatten einmal zur Furie werden, so behandeln wir ihn anders, als du deine Eumeniden behandelt hast. Wir lassen ihn sein trauriges Werk vollenden. Wir stören ihn nicht. Es ist ja doch wohl mehr als Strafe genug für ihn, daß er es thut! Wir sagen ihm sogar noch Dank dafür, jedoch nur öffentlich, selbst wenn er heimlich wirkt. Du siehst, wir haben sogar für die Furien nur Liebe und Verstand! Wir Christen wissen nur zu gut: Es kommt die Zeit, in der die Schatten schwinden. Was dann aus ihnen wird, das wissen wir zwar nicht, doch sagt das heilige Buch: »Ihre Werke folgen ihnen nach!« Und ich, ich möchte dereinst mit solchen Werken nichts zu thun haben. Ich habe mit den Menschen, selbst mit solchen Furien, nachsichtig zu sein, weil ich wünsche, daß Gott dann, wenn es sich um meine Abrechnung handelt, auch gnädig mit mir sein möge!«
Da sagte er in plötzlich ganz anderem Tone:
»Du sprichst von einem »Wir«. Etwa mit Ueberzeugung, Effendi? Spielen wir Komödie miteinander? Denken und handeln wirklich alle Christen so, wie du mit diesem »Wir« mich glauben machen willst?«
»Komödie?« fragte ich. »Wer hat damit begonnen, ich oder du?«
»Wieso ich?«
Jetzt war er es, welcher bei diesen zwei Worten lächelte. Dieses Lächeln verriet mir, daß es ihm ganz lieb sei, von mir verstanden worden zu sein. Doch drängte ich ihn noch weiter, indem ich sprach:
»Wie war deine Bitte um Verzeihung gemeint, Ustad?«
»Ganz so, wie du willst; ganz so, wie du sie betonst. Man kann mit genau denselben Worten Glauben oder Zweifel, Vertrauen oder Mißtrauen, Lob oder Tadel aussprechen. Es kommt auf den Ton an und auf den Willen dessen, zu dem man redet. Du bist kein Kind. Ich weiß, daß ich nicht nötig habe, gegen dich auch noch in der Betonung deutlich zu sein, wenn ich es schon in den Worten, welche ich wähle, bin. Ich könnte dir eine große Ueberraschung bereiten, wenn ich dir sagte, wer und was meine Schatten, meine Furien waren. Denke jetzt einstweilen nicht an ein bestimmtes Land! Thue das nun selbst, was du mir angeraten hast: Abstrahiere einmal! Ich werde erst später hierüber sprechen. Nur eine Mitteilung, eine einzige, will ich dir heut schon machen. Sie betrifft – – – doch nein! Auch hierzu bist du noch nicht vorbereitet! Es muß ja alles kommen, wie es kommen soll, aber scheinbar ganz von selbst. Jede Entwickelung, welche Sprünge macht, ist eine falsche. – – Bitte, kehren wir lieber und endlich, endlich wieder zu dem Briefe des Multasim zurück!«
Er hatte ihn vorhin fortgelegt. Jetzt nahm er ihn wieder in die Hand, um nun auch die Rückseite zu betrachten.
»Kein besonderes Petschaft!« sagte er. »Man hat den Brief mit einem goldenen Tuman[12 - Wert 12 Franken.] versiegelt. Das kann ein jeder thun, der ein Goldstück besitzt, ist also gleichgültig für uns.«
»Nein,« sagte ich. »In solchen Dingen hat auch der geringste Nebenumstand Wert. Ich pflege darum alles, auch das scheinbar Unbedeutende in Betracht zu ziehen.«
»Meinst du, daß dieser Tumanabdruck uns auf irgend einen Gedanken bringen könnte?«
»Er kann es nicht nur, sondern er hat es bereits gethan.«
»Bei dir?«
»Ja. Denke an die Ringe! Silberne und goldene. Das bessere Metall bedeutet einen höhern Rang. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß es in Beziehung auf den Siegelverschluß ebenso ist?«
»Das ist allerdings nicht unmöglich. Hieran hätte ich nicht gedacht!«
»Je höher der Rang des Schreibenden, ein desto wertvolleres Geldstück hat er zu nehmen. Und weiter! Warum nimmt man keine Petschaft, sondern Münzen?«
»Durch das Petschaft würde man sich unter Umständen verraten. Münzen aber können keinen Anhalt geben.«
»Sehr richtig! Hieraus aber ist darauf zu schließen, daß der Inhalt dieser Art von Briefen, falls sie in falsche Hände kommen, für den Schreiber selbst gefährlich ist. Der Tuman ist die höchste Münze. Der Verfasser dieses Schreibens steht also hoch im Range. Sie ist ferner eine persische Münze. Der Brief aber wurde unten im Irak Arabi aufgegeben, wo türkisches Geld kursiert. Was ist hieraus zu folgern?«
»Daß der Schreiber ein Perser ist, und daß er dieses Goldstück als Petschaft bei sich trägt. Oder nicht?«
»Ja. Schau, wie nun auch dir Gedanken kommen!
Der Tuman wollte dir erst als gleichgültig erscheinen, und jetzt hat er dir schon so viel gesagt!«
»Aber doch ohne Erfolg! Tuman ist Tuman. Es kann nicht ein jeder, der so ein Goldstück besitzt, der Schreiber dieses Briefes sein!«
»Allerdings. Aber bei wem man dieses findet, grad dieses, den darf man doch wohl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit für den hohen Sill halten, der ihn abgeschickt hat?«
»Gewiß! Aber von wem könnte man erfahren, daß es grad dieser Tuman, also derselbe und kein anderer sei?«
»Von dem Tuman selbst.«
»Wieso?«
»Betrachte die Siegel genau, so wirst du es wohl finden!«
Er that es, doch, wie es schien, vergeblich.
»Ich sehe nichts Besonderes an diesem Abdrucke,« sagte er dann.
»Gehe über den Rand des Goldstückes hinaus,« unterwies ich ihn. »Was siehst du da?«
»Der Lack ist dick, der Abdruck also tief. An den Rändern giebt es auch Eindrücke, kleine, die wohl zufällige sind.«
»Nein, nicht zufällig. Schau sie genau an, und zwar nicht einzeln, sondern denke sie dir zusammen! Der Tuman hängt an einem dünnen Kettchen, dessen Glieder aus den Buchstaben Sa und Lam zusammengesetzt sind. Weil bei dem Siegeln zu viel Lack genommen worden ist, haben sich einige dieser Glieder mit abgedrückt. Nun ich dir dies gesagt habe, wirst du sie wohl deutlich als die genannten Buchstaben erkennen.«
»Allerdings, allerdings,« bestätigte er. »Nun ich es weiß, sehe ich es auch. Der Tuman hängt an einem Kettchen. Er wird also getragen, um immer bei der Hand zu sein. Aber wo?«
»Suche es! Die Antwort liegt schon bereit.«
»An welchem Orte?«
»Dort auf dem Briefe.«
»Ich sehe nichts!«
»So will ich es dir sagen, damit du auch das dann siehst. Der Tuman hängt am Ringe einer Geldbörse. Das andere Ende des Kettchens ist an diesen Ring befestigt. Das Goldstück steckt stets in der Börse. Wenn er sie durch das Aufschieben des Ringes öffnet, zieht er dadurch zu gleicher Zeit den Tuman hervor. Er braucht ihn auf diese Weise nicht erst unter den andern Geldstücken hervorzusuchen und kann ihn auch nicht irrtümlicherweise ausgeben oder gar verlieren, falls er nicht etwa die Börse selbst verliert.«
»Bist du allwissend, Effendi? Ich sehe nichts von allem, was du sagst!«
»Man sieht es aber doch sofort! Wieviel Siegel hat der Brief?«
»Fünf.«
»Er wurde von rechts unten nach links oben gesiegelt. Der Lack ist ein sehr guter, weicher. Er wird nicht sofort hart. Das Kettchen ist nicht so lang wie der Brief breit ist. Als der Absender links oben das letzte Siegel machte, kam infolgedessen die Börse quer auf die drei ersten Siegel zu liegen. Indem er mit den Fingern den Tuman da oben in den Lack drückte, drückte er zu gleicher Zeit, natürlich aber ohne es zu wollen, mit dem Handballen auf die Börse. Die drei Siegel waren noch nicht ganz kalt und hart geworden, und so kam es, daß von den Maschen des Geldbeutels und von dem untern Teile des Ringes Spuren entstanden, die gar nicht schwer zu bemerken sind. Du darfst nur nicht bloß nach den Abdrücken des Tuman sehen, welche tief liegen, sondern auch die hohen, breiten Ränder des Lackes betrachten; dann wirst du ganz dasselbe bemerken wie ich.«
Er sah genauer nach, gab dann den Brief dem Pedehr und sagte:
»Schau auch du ihn an! Würdest du etwas finden, wenn du nicht gehört hättest, was der Effendi sagte? Und nun sieht man die Maschen ganz deutlich und auch die Stelle, wo der Ring gelegen hat. Und da habe ich geglaubt, sehen zu können!«
»Du konntest auch sehen, aber du dachtest und kombiniertest nicht dabei,« erklärte ich. »Es ist gar nicht so leicht, wie ihr nun vielleicht denken werdet, mit dem körperlichen Auge diese Eindrücke, mit dem geistigen dann aber auch sofort das Kettchen, die Börse und den Ring zu sehen. Nachdem ich vorwärts geschlossen und die Sache gefunden habe, ist es nun für euch nicht schwer, auf diesem meinem Wege rückwärts zu gehen und mir zu bestätigen, daß ich mich nicht geirrt habe. Dein Wunsch, Ustad, ist also erfüllt: Du weißt, wo der Tuman getragen wird.«
»Ja,« lächelte er. »Wenn ich einen Menschen sehe, an dessen Geldbeutelringe, wenn er ihn aus der Tasche zieht und öffnet, an einem Sa- und Lam-Kettchen ein persischer Goldtuman hängt, so habe ich den Verfasser dieses Briefes entdeckt! Mein lieber Effendi, habe doch die Güte, ihn mir so schnell und so sicher zu bringen, wie du uns gelehrt hast, diese Siegel zu verstehen! Kannst du zaubern?«
»Nein. Es giebt überhaupt keine Zauberei. Aber wer zur rechten Zeit und an der rechten Stelle zuzugreifen versteht, dem wird vieles gelingen, worüber andere sich dann laut verwundern. Der Schreiber dieses Briefes ist ein Perser. Wir sind in Persien. Ist es eine Unmöglichkeit, daß er uns irgendwo und irgendwann begegnet? Aber ihn dann auch wirklich sehen, ihn erkennen und – – dann rasch zugreifen! Das ist es, was wir dann zu thun hätten! Würden wir das?«
»Ich hoffe es!« antwortete der Ustad, indem er den Brief von dem Pedehr zurücknahm. »Aber das Schreiben ist ja noch gar nicht geöffnet! »Warum geöffnet! Warum nicht?«
»Weil ich nicht der Adressat bin. Verschlossene Briefe sind mir heilig.«
»Was bist du für ein Mann! War den Schatten vielleicht an dir etwas heilig? Sogar ermordet solltet ihr von ihnen werden! Und nun wagst du dich nicht an dieses armselige Papier, obwohl du weißt, daß ein Schatten es beschrieben hat und daß es höchst wahrscheinlich Dinge enthält, welche guten, ehrlichen Menschen Schaden bringen müssen! Ich werde ihn sofort öffnen!«
Er nahm ihn derart in seine beiden Hände, daß ich sah, er wolle die Siegel erbrechen.
»Halt!« rief ich ihm zu. »Nicht so!«
»Wie denn?«
»Verletze die Siegel nicht!«
»Du meinst, ich solle ihn aufschneiden?«
»Auch nicht!«
»Aber was sonst? Warum diese Einwände?«
»Weil wir Grund haben, bedachtsam zu sein! Es ist möglich, daß wir diesen Brief zu unserem Vorteile brauchen können, entweder gegen den Verfasser selbst oder gegen Ghulam, an den er gerichtet ist, vielleicht auch gegen beide.«
»Um dies zu wissen, müssen wir ihn eben öffnen und lesen!«
»Aber mit Vorsicht! Wie nun, wenn wir nach dem Oeffnen guten Grund fänden, die Schatten glauben zu machen, daß er noch unverletzt sei?«
»Maschallah! Hältst du das für möglich?«
»Gewiß! Wir haben ihn so zu öffnen, daß wir ihn genau wieder so verschließen können, wie er jetzt verschlossen ist.«
»Wer kann das thun! Ich habe kein Geschick zu solchen Dingen!«
Bei diesen Worten reichte er das Schreiben mir. Nun untersuchte ich es sorgfältiger, als ich es früher gethan hatte. Ich war der Meinung gewesen, daß es ein zusammengefaltetes Blatt sei, aus nur einem Stücke bestehend. Als ich den Brief nun gegen das Licht hielt, bemerkte ich, daß er aus zwei Teilen bestand, dem Umschlage und dem eigentlichen Schreiben, welches innen lag. Der Umschlag war kein Couvert in unserm Sinne, mit vier auf die Rückseite geschlagenen und dort zusammengeleimten Ecken, sondern einfach ein zusammengelegtes und mit den Enden ineinander gestecktes Papier, ungefähr so, wie unsere Apotheker die Papierumschläge fertigen, in denen sie ihre Pulver verkaufen. Es gab also auf der Rückseite nicht vier zusammenstoßende Ränder, sondern nur einen, der quer über die Mitte ging. Er war durch das mittelste Siegel verschlossen worden. Die andern vier Siegel erschienen also als vollständig überflüssig, obgleich anzunehmen war, daß man auch sie nicht ohne Grund angebracht hatte.
Es handelte sich also nur darum, den Mittelverschluß zu öffnen, ohne daß dies später zu entdecken war. Als ich das den beiden andern mitteilte, bat der Pedehr mich um den Brief. Er bekam ihn, hielt ihn auch gegen das Licht, griff mit dem Zeigefinger erst rechts, dann links in den Umschlag und sagte lachend:
»Wo sich Gelehrte vergeblich die Köpfe zerbrechen, da findet der ungelehrte Mutterwitz sofort das Richtige. Ich mache auf, ohne ein Siegel anzurühren!«
Er zog auf der einen Seite den nach innen geschlagenen Teil des Umschlages heraus, schob hierauf zwei Finger hinein und brachte das Schreiben hervor. Der Ustad lachte, und ich stimmte ein. Der Pedehr aber sagte ernst:
»Hier zeigt sich wieder einmal, wie wenig sich der Böse auf den Bösen verlassen kann. Und wenn der Ungerechte seine Absichten sogar fünfmal versiegelt, sie kommen trotzdem an den Tag und zwar infolge seines eigenen Leichtsinnes und seiner Unvorsichtigkeit!«