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»Hier fällt mir eine Aehnlichkeit auf,« fügte der Ustad hinzu. »Steuerpächter des Schah-in-Schah und Paradiesespächter! Hier leibliches und dort seelisches und geistiges Henkertum! Wie manchen solchen Geist- und Seelenhenker mag es geben, der seines traurigen Amtes dadurch waltet, daß er an Stelle des einfachen und ehrlichen Alphabetes, welches uns der Herr gegeben hat, ein gefälschtes setzt! Was thun wir mit den Kleidern des Gefangenen?«
»Sie mögen hier liegen bleiben, bis er sie morgen wieder bekommt. Das geschieht nicht eher, als bis ich ihm dieses Alphabet wieder in die Tasche gesteckt habe. Ich wünsche, daß er denken möge, es sei unentdeckt geblieben. Wenn eure Leute später den vierten Perser mit den Pferden bringen, so steckt ihn in ein besonderes Verließ. Der Multasim soll jetzt noch nicht wissen, daß wir auch noch diesen festgenommen haben. Und noch eins: Ich habe euch etwas zu sagen und zu zeigen. Das steckt in meiner Satteltasche. Wo befindet sich das alles, meine Sachen und die Waffen?«
»In meiner Wohnung,« antwortete der Ustad.
»Also bei dir? Ich danke dir! Das zeigt mir ja, wie wert du das Eigentum deines Gastes hältst.«
Da ging ein ganz eigenartiges Lächeln über sein Gesicht. Er machte eine den Sinn meiner Worte abwehrende Handbewegung und sagte:
»Es ist ein anderer Grund. Wenn du es erlaubst, werde ich dir ihn oben sagen. Soll auch der Pedehr mitgehen?«
»Ja.«
Der Genannte erteilte Tifl einige Weisungen in Beziehung auf den vierten Perser; dann begaben wir uns hinauf in die Wohnung des Ustad. Er führte uns nicht in die Balkonstube, sondern, nachdem er ein Licht angezündet hatte, in eine kleine, fensterlose Kammer, welche, wie es schien, für weggesetzte, unbrauchbar gewordene Gegenstände bestimmt war. Da hingen alle meine Sachen. Außer ihnen war nichts zu sehen als ein alter Kasten, dem man es ansah, daß er von Ur-Urgroßvaters Zeit herstammte. Indem der Ustad auf dieses Gerätstück zeigte, sagte er uns folgende, mir damals unverständliche Worte, die ich aber bald darauf sehr wohl begriffen habe:
»Wenn der Mensch wüßte, wie sehr ihm solche alte, anererbte Sachen schaden, die er in falscher Pietät mit sich durchs Leben schleppt! Für solche »erbliche Belastung« ist die »Rumpelkammer« noch viel zu gut! In solchen alten Gegenständen steckt ein ganzes Heer von geistig überkommenen Motten, Bohr- und Rüsselwürmern, welche, wenn man den Kasten öffnet, herausgekrochen und herausgeflogen kommen, um alles, was da Lebenswert besitzt, in zerfressenes Gerümpel und zernagte Lumpen zu verwandeln. Für solche Mottengeister giebt es nichts Heiliges, nichts unantastbar Hohes. Sie zerstören den königlichen Purpurmantel mit derselben Sicherheit, mit welcher sie den Hermelin der Wissenschaft zum kahlen Felle machen. Sie suchen das geistliche Gewand des Emir el Muminin[8 - Oberster der Gläubigen.] ebenso heim, wie sie sich in der Filzmütze der tanzenden oder heulenden Derwische eingenistet haben. Sie sitzen im Kaftan des Näbi[9 - Prophet.], im Turban des Sahibi Scheriat[10 - Gesetzgeber.] und in den Pantoffeln aller derer, die im Schatten solcher Vorschrift wandeln. Ganz außerordentliche Anziehungskraft aber hat auf sie das Papier, besonders das aus Lumpen fabrizierte. Man behauptet zwar, daß der Geruch der Druckerschwärze sie vertreibe, doch fand ich oft auch Druckpapier, aus welchem, wenn ich es zum Lesen auseinanderschlug, gleich eine ganze Wolke mich umnachten wollte!«
»Du sprichst in Rätseln,« sagte der Pedehr.
»Wohl dir, daß es für dich Rätsel, aber keine Erfahrungen sind! Du hast es glücklicherweise wohl nur mit materiellen, nicht aber mit solchen geistigen Schädlingen zu thun gehabt, welche es trotz ihrer Mottenarmseligkeit wagen, sich selbst allein für nützlich zu halten, jeden edlen, freien Geist aber zum Ungeziefer zu rechnen! Und an diese Verdrehung der wirklichen Verhältnisse glaubt der ganze, ganze Pelz, in dem die Motten sitzen!«
Sich hierauf mir zuwendend, sprach er weiter:
»Aus diesem Kasten war das Gedeck, von welchem du oben im Walde gespeist hast. Das wurde von dir vielleicht für eine besondere Ehrung gehalten; aber es war etwas anderes. Es ist mein Leichengedeck. Ich ließ es dir zu deinem eigenen Todesmahle vorlegen. So dachte ich! Vielleicht ist es durch dich mein Auferstehungsmahl geworden, zu welchem ich dich, ohne es zu ahnen, eingeladen habe. Und schau hierher! Da hängen deine Gewehre und alle deine Sachen. Warum ? Ich habe dich für gleich mit mir, für meinen geistigen Doppelgänger gehalten. Ich glaubte, du seist ganz denselben Weg gewandelt, den auch ich gegangen bin, und lebest jetzt in deiner »Hosiannazeit«. Ich sah für dich die Zeit kommen, in der du hinaufgeschleppt wirst nach Golgatha, wo die Kriegsknechte sich in dein Gewand und in deine Waffen teilen. Darum trug ich sie herauf und in diese meine Rumpelkammer, um dich zu bitten, ihnen hier freiwillig zu entsagen. Vor solchen Feinden ist‘s um jede Waffe schade! Tritt völlig ungerüstet vor sie hin! Des Geistes Harnisch ist zwar unsichtbar, doch keine Motte und kein Rüsselwurm wird sich an ihn wagen! Dies Ungeziefer sucht sich nur an solchem Kram zu ätzen, der wohl auch ohne Mottenfraß von keiner Dauer wäre. – – – So dachte ich! Doch als ich zu dir kam, hinauf in meine »Gruft«, damit du dich in mir erkennen möchtest, da hörte ich aus deinem Munde Worte, die mir aus jener Welt herüberklangen, in welche ich mich gern mit dir hinüberretten wollte. Bist du vielleicht schon drüben? Hast du den Weg, den unbeschreiblich schweren, auch ohne mich gesehen und erkannt? Hast du nichts von der Menschenfurcht und feigen Scheu gewußt, die einst mich zwang, vor ihm zurückzubeben? Du sprachst so fest, so sicher, so bewußt, als hättest du schon längst erreicht, was ich erreichen wollte und dann doch fallen ließ. Sag mir auch jetzt ein festes, sicheres Wort! Du wirst wohl meine Frage kaum verstehen, doch krallt sich ihre Faust so tief in dich hinein, daß du vor Schmerzen dich zu winden hättest, wenn du in Wirklichkeit mein Doppelgänger wärest.«
Er stand hochaufgerichtet vor mir, das Licht in der Hand, und sah mir mit tief ernstem, forschendem Blicke in die Augen. So, ungefähr so muß das Gericht dem Menschen in die Augen schauen, wenn es einst von ihm sein früheres Leben fordert.
»Sprich deine Frage aus!« sagte ich.
»Du wirst erschrecken!« rief er aus.
»Versuche es!«
Wir standen Mann gegen Mann einander gegenüber. Oder war es Seele gegen Seele, Geist gegen Geist?
»Du bist Old Shatterhand?« fragte er. »Ich habe diesen Namen von meinem Freunde Dschafar gehört.«
»Ich war es,« antwortete ich ruhig aber bestimmt.
Er machte, als er hörte, daß ich sein Präsens in das Imperfectum verwandelte, eine Bewegung der Ueberraschung. Dann fuhr er fort:
»Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?«
»Ich war es,« erwiderte ich abermals.
»Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?«
Bei diesen Worten leuchteten mir seine Augen vor erwartungsvoller Erregung förmlich entgegen.
»Beides nicht mehr!« nickte ich.
»Seit wann? Sage es mir!«
»Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat. Dieses so viel verachtete und so grimmig angefeindete »Ich« in meinen Büchern hat allen denen, welche Ohren haben, von einer neuen, ungeahnten Welt zu erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele nicht ineinander gekästelt und ineinander geschachtelt sind, sondern Hand in Hand nebeneinander stehen und miteinander wirken. Dieses so oft verspottete und so leidenschaftlich verhöhnte »Ich« in meinen Werken war nicht die ruhmeslüsterne Erfindung eines wahnwitzigen Ego-Erzählers, welcher »unglaubliche Indianer- und Beduinengeschichten« schrieb, um sich von den Unmündigen und Unverständigen beweihräuchern zu lassen, sondern unglaublich, über alle Maßen unglaublich ist nur die Blindheit derer gewesen, die einen solchen Wahnsinn für möglich hielten, weil sie sich in den ihnen sehr erwünschten Irrtum hineinlogen, daß diese meine Bücher nur zur vagen Unterhaltung der unerwachsenen Jugend, nicht aber ganz im Gegenteile für die geistigen Augen klar und ruhig denkender Leser geschrieben seien. Diesem so kraftvollen und selbstbewußten »Ich« ist es nicht eingefallen, in den Gassen des geistigen Unvermögens bettelnd an die Thüren zu klopfen, denn von dieser geistigen Armut leben ja grad diejenigen »Ichs«, welche die Lösung meines Rätsels zu fürchten haben. Dieses mein »Ich« vermied ganz im Gegenteile alle Straßen und Häuserreihen menschenwimmelnder Städte und ging hinaus in alle Welt – – —«
Da unterbrach mich der Ustad, indem er meinen Arm ergriff und im Tone größter Ueberraschung ausrief:
»Hinaus in alle Welt, um aller Welt zu sagen, daß alle Welt ihr »Ich« verloren habe? Effendi, Effendi, was höre ich aus diesem deinem Munde! Wer hätte das gedacht! Auch ich war ein »Ich«-Erzähler. Auch ich sandte meine Gedanken hinaus in alle Welt, um – – – doch nein; davon später! Ich kannte dich nicht. Ich ahnte nur von dir. Es war, als ob ich einem innern Befehle folgen müsse. Und nun sind wir einander gleich, so gleich, so außerordentlich gleich! Wirklich? Wenn in allem, so doch in einem nicht! Ich bin ja noch nicht fertig, dich zu fragen! Mache dich bereit, jetzt die Hauptfrage zu hören! Sie ist fast unglaublich! Soll ich sprechen?«
»Ja!«
»Hier hängt das Eigentum von Kara Ben Nemsi. Willst du mir das alles schenken? So schenken, daß ich es behalten kann? Es ist dann nicht mehr dein. Du bekommst es nie im Leben wieder in die Hände. Es bleibt für alle Zeit in dieser Rumpelkammer, und keinem Menschen wird es je gezeigt!«
Was war das für ein Blick, den er in mein Gesicht förmlich bohrte? Ich mußte an Ahriman Mirza denken, den Teuflischen! Schaute etwa dieser Verführer mich jetzt aus den funkelnden Augen des Ustad an! So höllisch erwartungsvoll! Ja, es war eine große, eine hochbedeutende Frage, welcher ich da gegenüberstand. Ich begriff den Ustad. Die ganze Hölle, gegen welche er einst vergeblich gekämpft hatte, schaute mich jetzt mit diesem seinem Blicke an. Aber ich konnte ruhig sein. Mich sollte sie nicht hindern, den Weg zu gehen, den ich mir ja schon längst vorgezeichnet hatte. Es wurde mir nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich hielt dem Ustad meine Rechte hin, schaute ihm ruhig lächelnd ins Gesicht und sagte:
»Gieb mir deine Hand!«
»Nun?« fragte er schnell, indem er sie mir reichte. »Was hast du beschlossen?«
»Wie gern erfülle ich dir deinen Wunsch! Nimm alles hin! Es sei dein Eigentum!«
»Alles – alles?« rief er in unbeschreiblicher Verwunderung.
»Alles!«
»Aber weißt du, was du thust?! Du hörst auf, zu sein, was du warst und was du bist! Du kannst nie wieder solche Bücher schreiben, wie du geschrieben hast! Du stirbst! Du mußt ein völlig andrer werden! Hältst du trotzdem dein Wort?«
»Ich halte es!«
»Unglaublich! Ich erinnere dich noch einmal an die Folgen, Effendi! – Bist du berühmt?«
»Pah! Man spricht von mir. So lange man mich aber nicht begreift, muß es mir gleichgültig sein, was man redet. Wenn man mich falsch versteht, spricht man von einem Falschen, doch aber nicht von mir!«
»Das klingt so wahr, doch aber auch so kühl! Fast möchte ich es verächtlich nennen! Bedenke aber, Effendi: Wenn du nicht mehr in dieser deiner bekannten Weise schreibst, wird man gar, gar nicht mehr von dir sprechen! Dann bist du tot, tot, tot!«
»Du armer, armer Ustad! Was hast du doch für irrige Begriffe von dieser Art von Leben und dieser Art von Tod! Ich habe mich dir geschenkt, so, wie ich da an diesen Nägeln hänge. Diese Embleme meiner bisherigen Tätigkeit, sie sind – – – ich! Das Ich, welches ich war! Bin ich nun tot?«
»Ja!«
»Du irrst! Ich ging in diesem Augenblicke in ein anderes Leben über, und dieses andere wird ein höheres, schöneres, edleres, unendlich wertvolleres sein. Ich schrieb eine Menge Bücher. Ich ließ mein »Ich« in ihnen sprechen. Ich wurde nicht verstanden. Ich gab das Köstlichste, was es auf Erden giebt, in irdenem Gefäße. Ich füllte diese Schalen mit einem Rätsel an und ließ die Menschheit trinken. Es tranken Hunderttausende daraus, doch allen war der Trank nichts als nur Wasser. Die Schale täuschte alle! Ich hatte es den Menschen zu bequem gemacht. Man trank gedankenlos und lachte mich dann aus. Das ist der große Fehler, den ich mir vorzuwerfen habe, weiter nichts! Der Sterbliche trinkt lieber Sumpfwasser aus goldenen Gefäßen, als Himmelsnektar aus nur irdenen. Da stieg in mir ein heißes Wallen auf. Es griff ein heiliger, wenn auch stiller Zorn in meine Seele. Nicht daß ich diese irdenen Gefäße nun zertrümmerte, o nein! Ich nahm mir vor, nun goldene zu geben, doch mit demselben Trank, den man für Wasser hielt. Ich habe mir das Gold dazu auf diesem Ritt geholt, der mich zum geistigen Haupt der Dschamikun geführt. Du ahnst wohl nicht, wo ich hier suchte und wo ich es fand. Von heute an werde ich im »hohen Hause« schreiben – – – ganz anders als bisher. Und hat man es erkannt, wie thöricht man einst war, so wird man dann zurück nach jenen Schalen greifen, die man zur Seite stellte. Dann leben meine alten Werke auf. Man wird sie mit ganz andern Augen lesen; die Seele tritt hervor, die tief in ihnen lebt. Und wenn man erst den Geist erkennt, der mir die Feder gab, dann wird sie dieser Geist in alle Häuser tragen, in denen sie bisher noch nicht zu sehen waren. – – – Nun sage mir, o Ustad, ob ich mich für gestorben halten muß!«
Da streckte er mir beide Hände entgegen. Ich sah, daß seine Augen feucht waren, indem er zu mir sprach:
»Sihdi, nicht hier will ich dir sagen, was ich erkennen muß! Wir gehn hinauf zu dir. Doch sage vorher, was mit dem Briefe war, den du uns zeigen wolltest!«
»Er ist nun dein,« antwortete ich.
»Mein?« fragte er verwundert.
»Ja. Er steckt ja dort in deiner Satteltasche.«
»In – – meiner – – meiner – – Satteltasche!« wiederholte er lächelnd meine Worte. »Also du hast mit diesem Geschenke gewiß und wirklich Ernst gemacht?«
»Ja! Es war Ernst. Ich habe dir nichts geschenkt. Du hast mich nur befreit. Soll vielleicht ich nach diesem Briefe suchen?«
»Thue es! – Dann gehen wir hinüber in mein Zimmer.«
Ich fand das Schreiben, dessen sich der Leser wohl noch erinnern wird. Ich gab es dem Ustad und ging dann hinaus, ohne mein bisheriges Eigentum noch einmal anzusehen. Da sagte der Ustad, indem sie mir beide folgten:
»Effendi, du lässest deine Berühmtheit hier zurück. Willst du fortgehen, ohne auch nur noch einen einzigen Blick auf sie zu werfen?«
»Ja,« antwortete ich. »Berühmt! Kennst du diese Art von Berühmtheit? Sie ist dämonischer Natur. Soll sie deine Freundin sein, so verzichte auf dich selbst, und gieb ihr deinen Geist und deine ganze Seele hin!«
»Wie wahr, wie wahr du sprichst!« stimmte er mir bei. »Ich kenne sie. Sie war nicht nur meine Freundin; sie war mir mehr, viel mehr. Und was hat sie von mir gefordert! Welche Opfer habe ich ihr gebracht! Jedem Laffen hatte ich mich vor die Füße zu werfen und vor jedem hohlen Kopfe mich zu verbeugen! Jedem Narren mußte ich gefällig sein, um sie nur nicht zu schädigen, und jeden Dünkel mir gefallen lassen, damit er ihr ja nicht gefährlich werden könne. Meine Tasche mußte für jede Thorheit offen sein, und wenn der Unverstand mich auch mit tausend Albernheiten plagte, ich hatte stillzuhalten nur um ihretwillen. Der Neid stand Tag und Nacht vor mir mit seinen Argusaugen; die Mißgunst schlich mir nach auf allen Wegen, und wo ich mich zur Ruhe setzen wollte, saß schon die Scheelsucht da und jagte mich von dannen. Ich durfte nicht so sprechen, wie ich wollte, und was ich schrieb, das wurde von der Feindschaft falsch gedeutet. Ich habe viel verloren, was ich jetzt schwer beklage, doch daß ich zu dem allen auch sie verlor, nach der ich einst gestrebt mit einer Gier, die ich fast Sünde nenne, das ist mir ein Gewinn, der den Verlust mich gern ertragen läßt. Doch schweigen wir hiervon! Kommt jetzt herein zu mir!«
Als wir in seine Stube traten, hörten wir durch die offenstehende Balkonthür den Hufschritt von Pferden. Die Gefangennahme des vierten Persers war also gelungen. Der Ustad stellte das Licht auf den Tisch und betrachtete den Brief.
»Keine Adresse!« sagte er. »Nur die Zeichen, welche wir vorhin auf der Vorderseite des Alphabetes sahen. An wen ist dieses Schreiben gerichtet?«
»An Ghulam el Multasim,« antwortete ich.
»Woher weißt du das?«
»Ich werde es dir erzählen.«
Wir setzten uns nieder, und ich berichtete in möglichst kurzer Weise über unsere eigentümliche Bekanntschaft mit den Sillan, von unserer Begegnung auf dem Tigris an bis auf den Kaffeewirt in Basra. Hierauf sagte ich auch noch, wen ich hier bei den Dschamikun als zu dieser geheimen Gesellschaft gehörig entdeckt hatte. Die beiden Zuhörer folgten meiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit. Als ich geendet hatte, sah der Ustad eine Zeitlang sinnend vor sich nieder. Dann hob er den Kopf und sagte:
»Effendi, weißt du, was du uns berichtet hast?«
»Nun, was?«
»Ereignisse aus einem Fabellande.«
»Glaubst du, daß ich dichtete?«
»O nein! Der Brief ist ja Beweis. Er liegt als ein Gegenstand, welcher unserer Körperwelt angehört, in meiner Hand. Du hast wirkliche Thatsachen erzählt, nichts hinzugefügt, sondern ganz im Gegenteile sehr viel weggelassen, wie ich vermute. Und doch sprach ich von einem Fabellande. Warum?«
Er sann wieder eine Weile nach. Dann fuhr er fort:
»Fabel und Märchen! Ich frage nicht, was andere Leute sich bei diesen Worten denken. Ich sage, was für Vorstellungen diese Begriffe in mir selbst erwecken. Was Gott den Klugen und Weisen verschweigt, weil sie es ihm nicht glauben, das läßt er den Kindern und Unmündigen erzählen, damit der widerstrebende Verstand von dem ungetrübten Glauben lernen möge. Es schweben zwischen Himmel und Erde Wahrheiten, denen der Zweifel des geräuschvollen Tages verbietet, sich zu der Menschheit herniederzulassen. Aber in der verschwiegenen Nacht, wenn die Zweifel schlafen, gleiten diese Wahrheiten an den freundlichen Strahlen der Sterne herab, um, wie alles Himmlische, wenn es die Erde berührt, sichtbare Gestalten anzunehmen, sobald sie das ihnen verbotene Land erreicht haben. Sie hoffen, in diesen Körperformen vor ihren Feinden sicher zu sein. Sie trennen sich. Die eine Wahrheit geht in Tiergestalt als Fabelwesen durch Wald und Feld, kommt vielleicht auch in Haus und Hof des Menschen, um ihm im Bilde mitzuteilen, was ihm in anderer Weise zu sagen ein Wagnis ist. Die andere ist kühner. Sie nimmt die Form des bekannten Körpers an, der als das Ebenbild Gottes so berühmt geworden ist, und sucht die Städte und Dörfer auf, wo sie sich für ein bescheidenes Märchen ausgiebt, welches man passieren lassen kann. Sie hat scheinbar so gar nicht viel zu sagen, daß man sie gern hier und da zu Worte kommen läßt. Sobald sie spricht, denkt man sich zunächst nichts dabei. Doch wenn sie fortgegangen ist, beginnt man unwillkürlich nachzusinnen. Dann kommt es freilich an den Tag, daß dieses sogenannte Märchen ein Himmelskind gewesen ist, welches, wenn man dies gewußt hätte, fortgewiesen worden wäre. Nun hat es aber doch gesprochen, und was es sprach, sitzt fest! – – Du lächelst, Effendi! Warum?«
»Weil du ein Freund dieser himmlisch reinen und irdisch doch so pfiffigen Wahrheiten zu sein scheinst,« antwortete ich. »Auch ich habe sie sehr lieb. Sprich weiter!«
»Kennst du,« fuhr er fort, »das Märchen von dem Sonnenstrahl, der hier auf Erden König wurde und so mild und gut regierte, daß alle seine Unterthanen, sobald sie starben, sich in helle Sonnenstrahlen verwandelten und zum Himmel stiegen?«
»Ich kenne es.«
»Auch das andere Märchen, von dem Schatten des Strahles?«
»Nein.«
»Der Schatten wollte es dem Lichte gleichthun. Er fiel in ein tieferliegendes Land und nahm dort ganz genau die Gestalt des andern Herrschers an. Auch er machte sich zum Könige und ahmte alles wörtlich nach, was der gute Herrscher da oben that und sprach. Aber er war leider nur der Schatten dieses Herrn. Weißt du, Effendi, was ein Schatten ist?«
»Er ist das dunkle Kehrseitenbild derjenigen irdischen Wesen, welche im Lichte des Himmels stehen,« antwortete ich.
Das war freilich keine physikalisch genaue Definition, sollte das aber auch gar nicht sein. Ich ahnte, was der Ustad sagen wollte, und gab ihm die Erklärung, die er dazu brauchte.
»Richtig, sehr richtig!« stimmte er bei. »Der Schatten setzt das Licht voraus. Er ahmt die Gestalt nach, welche in diesem Lichte steht. Aber die Nachahmung ist dunkel, so treu und so genau sie im übrigen auch ausfallen mag. Die Farbenbrechungen des himmlischen Lichtes entgehen dem Schatten ganz und gar. Er ist der finstere, herz- und gewissenlose Doppelgänger von allem Lebenden, was es auf Erden giebt. Ob es wohl in der Geistes- oder Seelenwelt ebenso Schatten giebt wie in der Welt der Körper? Was meinst du wohl, Effendi?«
»Natürlich giebt es sie.«
»Wie denkst du dir das?«
»Stelle etwas Geistiges oder Seelisches an das Licht, um es zu sehen, so wird sich sofort der betreffende Schatten einfinden. Hinter jeder Tugend steht dann das betreffende Laster, welches eine ganz genaue, aber kehrseitige Nachahmung aller ihrer Vorzüge ist. Hinter der weisen Sparsamkeit erscheint dann der Geiz, hinter der Freigebigkeit die Verschwendung, hinter der Wahrheitsliebe die grobe Rücksichtslosigkeit, hinter dem edlen Erwerbsinne der ordinäre Betrug und Diebstahl, hinter der Vorsicht die Feigheit, hinter dem Mute die Unbedachtsamkeit, hinter der Beredsamkeit das Schwätzertum, hinter der Verschwiegenheit die Starrköpfigkeit. Aber ich sehe auch noch andere Schatten stehen: Die rücksichtslose Tyrannei hinter der segensreichen Macht, das Schmeichlertum hinter dem Gehorsam, die Empörung hinter der Freiheit, den Mord hinter der Notwehr, die Scheinheiligkeit hinter der Frömmigkeit, die Schleicherei hinter der Demut, die Prahlsucht hinter der Selbsterkenntnis, den Völler hinter dem Esser, den Säufer hinter dem Trinkenden, den Vagabunden hinter dem Wanderer, den Verleumder hinter dem Richter. Soll ich noch weiter fortfahren, Ustad?«
»Nein; es ist genug,« antwortete er. »Deine Aufstellung war sehr interessant, wahrscheinlich ohne daß du weißt, warum ich dies meine. Du brachtest Tugenden und Untugenden, Zustände und Regungen. Wie kommt es, daß du hieran dann Personen geschlossen hast? Ist das absichtlich geschehen? Wolltest du etwa hiermit aus dem Gebiete »des Geistes« hinüber nach dem Reiche »der Geister« deuten? Hast du an das für uns unsichtbare Land gedacht, an dessen Pforte die sterbende Unwissenheit ihre letzten Worte »Von hier giebt es keine Wiederkehr« ruft? Stand dir jenes Reich vor Augen, welches der Aberglaube mit Gespenstern bevölkert, obgleich er, er, er das allereinzigste Gespenst ist, welches existiert?«
»Ich gab Beispiele,« erwiderte ich. »Eine Unterscheidung lag mir fern.«
»Wohl! Schauen wir also nicht hinüber, sondern bleiben wir bei den Menschen! Jeder, der in der Sonne steht, kann, wenn er sich von ihr abwendet, seinen Schatten sehen. Das ist physikalisch. Aber es giebt auch noch andere Schatten. Ich will ihre Arten nicht aufzählen. Aber eine von ihnen, welche ich die mythologische nenne, möchte ich dir doch zeigen. Sie wurden im alten Griechenland entdeckt und als Erinnyen oder Furien bezeichnet. Sind dir diese Schemen bekannt, Effendi, die höllischer sind, als die Hölle selbst?«
»Nur aus der Mythologie,« sagte ich.
»Du irrst dich. Du hast sie auch im wirklichen Leben gesehen. Sie laufen da allüberall herum! Du hast sie nur nicht durchschaut, nicht definiert. Wenn die Sonne genau in deinem Zenite steht, so hast du keinen Schatten. Der, den du giebst, liegt unter deinen Füßen; man sieht ihn nicht. Aber sobald sie den Gipfelpunkt verläßt, kommt der Schatten unter dir hervorgekrochen und wird umso größer, je weiter sie sich von dir entfernt. In dem Augenblicke, an welchem dein Tag dahinzusterben und die Sonne für immer von dir zu gehen scheint, ist dieser dein Schatten so weit »über alles Menschliche hinausgestiegen«[11 - Siehe Schiller, dir Kraniche des Ibykus: »So schreiten keine irdischen Weiber....«], daß er die ganze hinter dir liegende Fläche bedeckt und so vollständig verdunkelt, als ob es hier niemals in deinem Leben Licht gegeben habe. Das kannst du bei jedem Sonnenuntergange beobachten. Es giebt aber auch noch andere Sonnenuntergänge. Soll ich dir einen beschreiben? Den meinigen? Und den Riesenschatten, der da hinter mir entstand?«
Er schaute in die kleine, leise hin und her wehende Flamme des brennenden Lichtes, dann schloß er die Augen, als ob er selbst den nur matten Schein desselben jetzt nicht ersehen könne, und sprach dann weiter:
»Mein Morgen war vergangen. Ich hatte Mittagszeit. Die Sonne stand grad über mir. Rund um mich her lag Helligkeit. Es wurde mir zu heiß, so schattenlos in solchem Licht zu stehen. Ich sah mich um. Meine ganze Welt schien Glück und Frieden auszustrahlen. Nur Freundesaugen sahen mich an. Nur Freundeshände griffen nach meiner Rechten. Nur Freundesworte drangen an mein Ohr. Aber es war mir unmöglich, dieses so gänzlich ungetrübten Sonnenscheines in meinem Innern froh zu werden. Ich kannte die alte Sage von jenem neidischen »Erdengotte«, der es nicht duldet, daß der Sterbliche sich glücklich fühle. Ich schaute besorgt empor zur Spenderin all dieses grellen Lichtes. Sie lächelte mir, wie eben noch, in heller Wonne zu. Aber ich sah, daß sie ihre Stellung zu mir aufgegeben hatte. Die Linie von ihr zu mir war schief geworden. Und da begann der »Erdengott«, sich unter mir zu regen. Er hatte sich zu meiner Mittagszeit mit meiner Person so vollständig einverstanden erklärt, daß er seine Dunkelheit gänzlich aufgegeben zu haben schien. Da bemerkte ich, daß die freundlichen Blicke mich verließen und nach unten glitten. Sie schauten hinter mich. Ich blickte an mir herab, bis tief zu meinen Füßen. Was sah ich da?! Einen Kopf, der unter mir hervorgekrochen kam! Er ahmte die Bewegung des meinen nach. Wollte er mich verspotten? Oder haben die Köpfe der Schatten so gar keine Spur von eigenem Gehirn, daß sie, um existieren zu können, auf die Nachäffung lichtdenkender Menschen angewiesen sind? Werden sie, die vollständig gedanken- und urteilslosen, von jenem »Erdengotte« gezwungen, diesen Menschen jede geistige Form und jede intellektuelle Bewegung abzustehlen und sie im Bodenschmutze zu verzerren, um selbst auch einmal für »Etwas« gehalten zu werden? Der Kopf kam immer weiter und immer deutlicher hinter mir hervor. Er bemühte sich, dem meinen möglichst ähnlich zu werden. Es war sogar das Bestreben zu erkennen, meine Gesichtszüge wiederzugeben. Aber so oft ich ihm das Gesicht auch zukehrte, ich sah doch nur, daß ihm dies nicht gelang. Diese Schemen haben ja ein- für allemal darauf verzichtet, ein menschenwürdiges Antlitz zu besitzen! Je mehr die Sonne sich von mir entfernte, um so dreister zeigte sich das Phantom. Die Schultern, der Leib, die Arme kamen zum Vorschein, sogar auch die Beine, aber nicht als wirkliche, greifbare, lebendige Gestalt, sondern als wesenloses Trugbild, welches nur so lange stand hielt, als man sich selbst nicht bewegte. Sobald man ihm aber nähertreten oder die Hand ausstrecken wollte, um es zu prüfen, wich es sofort zurück. Dabei war zu bemerken, daß die erst vorhandene Aehnlichkeit der Umrisse sich in ganz genau demselben Verhältnisse verringerte, in welchem das Zerrbild sich vergrößerte. Es verschwanden nicht nur sehr bald diejenigen Konturen, welche möglicherweise hätten auf mich schließen lassen können, sondern die Mißgestalt wurde allmählich so unförmlich und ging nach und nach derart in das Ungeheuerliche über, daß es mir fast wie ein Wahnsinn vorkam, die Stelle, an welcher ich stand, als den Entstehungspunkt derselben zu betrachten. Freilich waren ihre Füße grad da zu sehen, wo ich mit den meinen stand; außer diesem allereinzigen Umstand aber gab es keinen zweiten Grund, anzunehmen, daß diese ultramonströse Ausgeburt in irgend einer Beziehung zu mir stehe. Ich stand auf dieser Stelle aufrecht, selbstbewußt, eine kraftvoll und unabhängig sich bewegende Persönlichkeit! Wie aber der Schatten? Er hatte sich aus dem Schmutze entwickelt, den ich mit Füßen trat! Aus ihm war er unter diesen meinen Füßen hervorgekrochen! Aus ihm hatte er versucht, sich an mir emporzurichten, wohl gar über mich hinaus ins Sonnenlicht zu ragen! Aber es giebt keinen Schatten, der nicht fallen muß! Auch dieser mein ultramonströser Schatten fiel! Er konnte und durfte nichts als fallen – fallen – – fallen! Das ist das furchtbare Schicksal jedes Schattens – – jeder Dunkelheit – – jeder Finsternis! – – Und das Selbstbewußtsein? Konnte der Kopf meines Schattens überhaupt Etwas enthalten? Ja? Nun dann aber ganz gewiß nicht ein eigenes Selbstbewußtsein, sondern nur die schattenhafte Verzerrung des meinigen! Infolge dieser Verzerrung glaubte er wahrscheinlich, mich zu haben; aber ich, ich hatte ihn! Er war Schatten; er ist Schatten, und er wird Schatten bleiben! Er braucht volle Menschheitspersonen, um durch sie zu existieren. Finden sie sich nicht ein, um ihn zu werfen, wie man eben Schatten wirft, so kann er es nicht einmal zum bloßen Schemen bringen; er ist ein – – – Nichts! – – Und die kraftvoll und unabhängig sich bewegende Persönlichkeit?
Jeder Schatten bedeutet fehlendes Licht. Ein Mensch, der sich zum Schatten anderer macht, hat seinem Geiste und seinem freien Eigenleben entsagt. Er ist eine unselbständige Dunkelexistenz geworden, die überall, wo Licht vorhanden ist, nach Trübem, Düsterem und Finsterem hascht. Diese Lichtscheu wirkt genau so, wie die Wasserscheu. Sie giebt sich ganz und gar der Tollheit hin und folgt von Schritt zu Schritt, nur um zu – – beißen!«
Der Ustad hielt nach dieser längeren Gedankenfolge inne. Man sah es ihm an, daß er keine Bemerkung von uns erwartete. Ich hätte wohl manches einzuwenden gehabt, sah aber keinen zwingenden Grund, dies augenblicklich zu thun. Gegen derartige Ansichten und Anschauungen hat man vorsichtig zu verfahren. Es giebt Meinungsverschiedenheiten, die nicht im Handumdrehen, sondern nur mit Hilfe der Zeit zu beseitigen sind, und hier schien es mir, als ob grad diese Zeit es sei, die solche bittere Gedanken in ihm befestigt hatte. Er fuhr nach dieser Pause fort:
»Hast du, Effendi, einen Mann gekannt, Hadschi Halef Omar, den Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar, der bereit war, mit seinem deutschen Sihdi alle Qualen der Erde und der Hölle zu erdulden und tausend-, tausendmal für ihn zu sterben?«
Ich nickte nur.
»Du Glücklicher! Ich hatte keinen, keinen Halef! Ich besaß nicht einen einzigen Freund, der deinem Hadschi auch nur einigermaßen ähnlich gewesen wäre! Und doch gab es so viele, viele, die sich meine Freunde nannten, als ich in der Mitte meines Sonnentages stand! Sie wollten nichts von mir; sie verlangten nichts von mir; sie forderten nichts von mir; aber sie liebten mich alle, alle, alle so wahr, so treu, so innig! Nur eins sollte ich ihnen bringen, weiter nichts, weiter gar nichts: Nämlich Opfer, wieder Opfer und immer wieder Opfer! Und ich brachte sie! Wie gern! Ich liebte ja die Menschen alle, alle! Ich glaubte, daß sie meiner Liebe wert seien. Ich wußte nicht, daß es klug sei, nicht den Einzelnen an sich, sondern die Menschheit in ihm zu lieben. Meine Freunde aber überschüttete ich mit doppelter Liebe! Da kam der Augenblick, an welchem ich bemerkte, daß meine Sonne sich schief zu mir gestellt hatte. Welche unerwartete Wirkung fand sich da ein! Auch an meinen Freunden und sonstigen Bekannten begann jetzt so vieles schief zu werden! Sie dachten schief über mich; sie sprachen schief von mir; sie sahen mich schief an! Die Sonne wich mehr und mehr von mir zurück; mein Schatten wuchs; meine Freunde wurden immer schiefer! Gegen Abend ging es schneller mit der Sonne; mein Schatten füllte hinter mir schon die ganze Strecke bis zum Horizonte aus; meine Freunde waren jetzt so sehr schief geworden, daß gar nicht ausbleiben konnte, was nun geschehen mußte: Sie verloren das Gleichgewicht; sie begannen, auch zu fallen, einer nach dem andern, ganz genau so, wie mein großer Schemen fiel! Wohin fielen sie? Natürlich hinter mich, als meine Schatten, Schatten, Schatten! Ich warf sie fort nach rückwärts, hinweg zu ihm, der sich als »Erdengott« gebärdete. Er verschluckte sie mit wahrer Orkusgier. Sein Nichts blähte sich nach dem Fraße dieser vielen tausend Nichtse zu einem so undenkbaren Nichtse auf, daß er dünner und immer dünner und endlich ganz unmöglich werden mußte! Es kostete mich schon Mühe, ihn, den Ultradimensionalen, nur noch zu erkennen. Da wendete ich meine Augen von der ebenso still wie unvermeidlich vor sich gehenden, schattenhaften Katastrophe ab. Ich schaute empor. Soeben verschwand die Sonne. Und da geschah das, was an jedem Tag geschieht und was wir doch bis heut noch nicht mit unserm Geist ergriffen haben: Es flammte der Westen in goldener Glut. Sie sprühte gen Himmel in zuckenden Blitzen. Ich tauchte den Blick in die feurige Flut und sah sie die Berge mit Funken umspritzen. Da, als sie mir so das Geheime erschloß, da mußten die Erdenphantome verschwinden: Sie wurden zu nichts; auch das meine zerfloß, und ich ging um »das Licht ohne Schatten« zu finden!«
Er war da, wo die Sätze sich zu reimen begannen, aufgestanden und hatte stehend gesprochen. Jetzt ging er hinaus auf den Balkon, wohl um die Gestalten, welche in ihm erwacht waren, wieder zur Ruhe zu bringen. Als er dann wieder hereinkam, fragte er mich, indem er vor mir stehen blieb:
»Hast du verstanden, wen und was ich mit diesen meinen Schatten meinte?«
»Ja,« antwortete ich.
»So wirst du durch mich vielleicht die deinen sehen lernen!«
Ich saß ruhig da. Ich antwortete nicht. Aber ich lächelte ihn an.