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Vor Dem Fall
Vor Dem Fall
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Vor Dem Fall

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»Wieso nicht?«

»Sagen wir einfach, ich könnte bei meinem Boss in Schwierigkeiten geraten für das, was ich dir gezeigt habe.« Sie erhob sich und trat auf das Laken auf der Wäscheleine zu.

»Warte! Wann werde ich Sie wiedersehen?« Naomi strich sich den Pony aus der verschwitzten Stirn.

»Für eine ganze Weile nicht«, antwortete Rebecca und drehte sich um, um sie anzusehen. »Und ich fürchte, wenn ich zurückkehre, wirst du mich nicht sehen.«

»Wieso nicht?«

Sie rieb sich die Augen, als Rebeccas Körper vor ihr verblasste. »Weil die Menschen aufhören zu glauben, wenn sie erwachsen werden.«

»Das werde ich nicht. Bitte komm zurück und zeig mir mehr. Ich werde nicht aufhören zu glauben.«

Rebecca lächelte sie sanft an. »Und genau deshalb bist du etwas Besonderes, Naomi.«

Dann war sie verschwunden.

Naomi starrte Rebecca mit offenem Mund an. Ein sanftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie aufhörte zu sprechen. Jeder der Anwesenden im Zimmer – Jeremy, Lash, Uri, Rachel, Raphael, sogar Gabrielle – sahen Rebecca voll gespannter Erwartung an.

Als Rebecca begonnen hatte, zu erzählen, wie sie Raphael kennengelernt hatte, hatte Naomi nicht damit gerechnet, dass sie damit beginnen würde, wie sie mit Chuy und Lalo Verstecken gespielt hatte.

»Ich glaube…«, begann Naomi und durchbrach das Schweigen. »Ich erinnere mich daran. Ich dachte nicht, dass es wirklich passiert ist. Ich dachte, es sei ein Traum gewesen. Wie damals, als ich träumte, dass die Figuren aus der Sesamstraße bei uns im Viertel eine Parade abhielten.«

»Du hast von Bibo geträumt?« Lash grinste schief.

»Wer ist Bibo?«, fragte Uri im Flüsterton.

»Zeig ich dir später«, flüsterte Rachel zurück.

»Oh, hört sich ziemlich pervers an.«

Bei Uris Antwort verdrehte Naomi die Augen. »Das tut jetzt nichts zur Sache«, wandte sie sich an Lash. »Als ich klein war, fühlten sich meine Träume so echt an, dass ich dachte, sie wären wirklich. Als ich älter wurde, wusste ich es besser. Wie zum Beispiel, dass es unmöglich war, dass Bibo und Schnuffi mitten in der Nach vor meinem Haus standen. Ich habe immer angenommen, dass es ein Traum war.«

»Also dachtest du, als du Rebecca begegnet bist, das sei auch ein Traum gewesen«, sagte Gabrielle.

»Danke, ja. Ich meine, ich war noch ein Kind und dann… bin ich erwachsen geworden.« Sie sah wieder zu Rebecca und schluckte schwer. »Und ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe aufgehört zu glauben.«

Wann ist das passiert? Ist das wirklich, was passiert, wenn man erwachsen wird? Naomi war nachdenklich.

»Oh nein.« Sie wandte sich an Lash. »Was, wenn ich nie aufgehört hätte, zu glauben? Was, wenn ich daran festgehalten hätte? Vielleicht hätte ich mich an dich erinnert. Ich meine, kurz nachdem ich dich getroffen hatte, gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dich zu kennen. Da waren Bruchstücke von Erinnerungen, die in meinem Kopf aufgetaucht sind. Das war ganz merkwürdig. Ich wusste nicht, wo sie herkamen. Jedes Mal, wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich ein Déjà-vu und habe es einfach immer verdrängt.«

»Du hast es nicht gewusst«, antwortete er und ergriff ihre Hand. »Hey, das habe ich auch nicht.«

»Naomi.« Rebecca kam durch das Zimmer auf sie zu. Lash rückte beiseite, um ihr Platz zu machen und sie setzte sich zwischen sie. »Ich habe diese Begebenheit nicht mit dir geteilt, damit du dich schlecht fühlst. Ich wollte, dass du verstehst, dass ich immer da war, gewartet und nach dir Ausschau gehalten habe.«

»Warum?«

»Das ist Teil unserer Familiengeschichte.«

»Unsere Geschichte ist nicht leicht zu erzählen«, warf Raphael ein. »Wir alle« – er machte eine Handbewegung, die alle im Raum miteinbezog – »haben das, was sich vor langer Zeit ereignet hat, unterschiedlich erlebt. Wenn wir alle teilen, woran wir uns erinnern, können wir leichter verstehen, was damals geschehen ist. Soll ich anfangen?«

»Okay«, antwortete Naomi und die anderen nickten.

»Alles begann, als Raguel – Verzeihung, ich meine Rachel – und ich zu einer Mission in die Stadt Ai geschickt wurden.«

»Grundgütiger«, sagte Rachel. »Das ist so lange her. An diese Zeit habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr zurückgedacht. Das war damals, als ich für Obadiah meinen Namen geändert habe.«

»Ich dachte, du hättest deinen Namen geändert, weil Jeremy anfing, dich Ragout-Spaghettisoße zu nennen«, warf Lash ein.

»So habe ich sie nicht genannt«, wehrte Jeremy ab. »Moment mal – hab ich doch.«

»Ein Klassiker.« Uri grinste und sie schlugen die Fäuste aneinander.

Rachel funkelte Uri an und er würgte ein Lachen hinunter, das er schnell in ein Hüsteln umwandelte.

»Tut mir leid, mein Schatz. Ich versuche nur, die Stimmung etwas aufzulockern. Ich denke nicht gern daran zurück, wie ich damals war… wie ich dich vor all diesen Jahren behandelt habe.«

»Ich weiß. Für mich ist das auch schwer, aber wir haben es überlebt.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange, bevor sie sich wieder an Naomi wandte. »Also, wo war ich stehen geblieben?«

»Du hast von einem Mann gesprochen, der Obadiah hieß«, half Naomi ihr.

»Ach, richtig. Obadiah. Ich kann mich an diese Zeit noch gut erinnern. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen berührte.«

2

1400 V. CHR

»Bist du sicher, Raphael?«, fragte Raguel.

Der Erzengel Raphael musterte die Ansammlung von Zelten am Fuße des Hügels. Tränen schimmerten in seinen Augen, als sein Blick über die Menschen glitt, die sich draußen vor den Toren der Stadt häuslich niedergelassen hatten. Sie waren Ausgestoßene, die von allen wegen einer Krankheit gemieden wurden, für die sie nichts konnten. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich – das war für die Menschen in Ai unwichtig. Sobald die Geschwüre am Körper auftauchten, wurde der betroffene Mensch aus dem Schutz der Stadt verstoßen. In ihren Augen hatte sich Gott von den von Krankheit Geplagten abgewandt, also sollten sie es auch tun.

Er wandte sich seiner zierlichen Begleiterin zu. »Ja. Ich bin sicher. Wir wurden ausgesandt, um ihnen Trost zu spenden. Wie sollen sie ohne eine Berührung Trost finden?«

Ihre braunen Augen weiteten sich bei seinen Worten. »Michael wäre böse, wenn er es herausfände.«

Raphael lächelte. »Dann werden wir es ihm nicht erzählen, einverstanden? Sie wurden aus ihren Häusern verbannt und von ihren Familien verstoßen. Sie haben genug gelitten.«

»Sie haben Angst. Diese Leute haben alle Anzeichen von Lepra und wurden für unrein erklärt.«

Raphael runzelte die Stirn. »Sie sind immer noch Seine Kinder. Sie verdienen allen Trost, den wir ihnen spenden können.« Er blickte auf sie herab. »Es mag uns nicht erlaubt sein, ihre Körper zu heilen, aber wir können ihre Seelen heilen. Schon die Berührung einer liebenden Hand kann ein gebrochenes Herz heilen.«

Sie sah auf ihre Hände hinab. »Ich habe noch nie einen Menschen berührt. Wie fühlt es sich an?«

»Warm, lebendig. Es ist anders als jedes andere Gefühl, das ich erlebt habe. Der Höchste hat ein wundervolles Wesen geschaffen.«

»Das Gefühl kenne ich.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne und an ihrem Gesichtsausdruck konnte Raphael ablesen, dass sie an Uriel dachte, den himmlischen Erzengel des Todes. Wenn Gabrielle ihm nicht von Raguels wachsenden Gefühlen für Uriel erzählt hätte, hätte er es nie erraten. Er war nicht jemand, dem solche Kleinigkeiten auffielen. Dankenswerterweise hatte Gabrielle Raguel mit ihm auf seine irdische Mission geschickt in der Hoffnung, dass sie so etwas Abstand zu Uriel bekäme. Obwohl Gutes tief im Herzen Uriels schlummerte, hatte er in letzter Zeit einen feinen Grat zwischen dem Guten und dem Unmoralischen beschritten, ähnlich wie Luzifer.

Luzifer war sein guter Freund und wurde von allen im Himmel geachtet. Allerdings hatte sich Raphael in letzter Zeit unwohl gefühlt angesichts einiger Vorschläge, die Luzifer ihm gegenüber geäußert hatte. Über die Jahre hatte sich Luzifer mit einigen Gefolgsleuten umringt – oder Freunden, wie er es vorzog sie zu nennen. Er sprach davon, dass Gott die Menschen mehr liebte als seine Engel. Er behauptete, dass die Engel über die Menschen herrschen sollten, anstatt ihnen zu dienen. Einmal hatte er sogar vorgeschlagen, dass die Engel die Menschen durch Vermehrung verdrängen sollten, indem sie sich menschliche Frauen nehmen sollten, um eine Masterrasse zu erschaffen, die besser wäre, als die von Gott geschaffene.

Raphael schauderte bei diesem Gedanken. Wenn Luzifer seine neidische Seite zeigte, sah Raphael, wie das Böse in seinem Freund Wurzeln schlug.

Er sah zu Raguel und bemerkte den sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht. Besorgt runzelte er die Stirn. Ihre Liebe zu Uriel würde sie auf die Probe stellen, wenn er den Pfad des Unmoralischen wählte. Wie die Menschen hatten auch alle Engel den freien Willen erhalten. Er sorgte sich um sie. Ihre einzige Rettung war die Tatsache, dass der eigennützige Uriel ihre Gefühle nicht zu erwidern schien – er war zu sehr von sich selbst eingenommen.

»Weißt du, wie man die Gestalt wechselt?«

Er ergriff ihre Hand, um ihr helfen zu können, wenn das nötig sein sollte. Es kam selten vor, dass Engel auf die Erde geschickt wurden. Meist war ihre Arbeit darauf begrenzt, vom Himmel aus über Menschen zu wachen. Wenn Engel ausgeschickt wurden, nahmen sie fast nie menschliche Gestalt an. Er selbst hatte das erst einmal getan… mit der Erlaubnis des Erzengels Michael.

»Nein. Ist es schwer?«

»Überhaupt nicht. Zuerst musst du deine Flügel in deinen Körper klappen.«

»Das geht?«

»Es gibt vieles, was wir tun können. Dir ist nicht bewusst, welche Gaben wir im Vergleich zu den Menschen haben.«

»Na ja, ich habe nie wirklich mit ihnen zu tun gehabt – es ist mein erster Auftrag auf der Erde«, erklärte sie, während sie ihre Schultern vor- und zurückbewegte. Ihre Stirn war gerunzelt, als sie versuchte, zu erspüren, wie sie ihre Flügel zusammenfalten konnte.

Er seufzte. »Leider ist es möglich, dass es nur eines von vielen weiteren Malen ist, die noch kommen. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der Engel vielleicht ein- oder zweimal in hundert Jahren zur Erde geschickt wurden. Das ist jetzt häufiger der Fall und ich fürchte, in der Zukunft wird man uns noch öfter brauchen.«

Aus irgendeinem Grund musste er an Luzifer denken, als er das sagte. Er schüttelte den Gedanken ab.

Raguel hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen.

»Was ist los?«

»Nichts«, sagte sie.

Er ging um sie herum und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Es ist leichter, wenn du stillstehst. Jetzt streck deine Schultern durch und dreh die Schulterblätter nach innen, so, als ob du wolltest, dass sie einander berühren.«

»So?« Ihre kleiner Busen schob sich vor, als sie die Schultern nach hinten zog.

»Ja. Sehr gut. Spann deinen Rücken ein wenig an und deine Flügel sollten – «

Mit einem lauten Rauschen stolperte sie nach vorn. Ihre Flügel klappten in ihren Körper.

»Autsch! Tut das immer so weh?«

Er lachte leise und streckte die Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen. »Du hast dich ein bisschen zu sehr verspannt. Mit ein wenig Übung wirst du dich daran gewöhnen.«

»Du sagst das, als wäre das hier nicht das letzte Mal, dass ich menschliche Gestalt annehmen muss.«

Vielleicht müssen wir das öfter, als wir denken, dachte er.

»Was kommt als nächstes?«

»Konzentriere dich auf den Kern deines Wesens. Genau hier.« Er legte zwei Finger auf die Mitte ihres Unterbauchs. »Jetzt drück nach außen, als ob du versuchen wolltest, meine Finger von deinem Körper wegzustoßen.«

»So… whoa! Da ist was Matschiges unter meinen Füßen.« Sie hob einen Fuß und starrte auf den Boden.

»Das ist Sand.«

»Fühlt sich alles Land so an?«, fragte sie, stellte ihren Fuß wieder auf den Boden und wackelte mit den Zehen.

»Nein, nur der Sand«, antwortete er und ging in Richtung der Zelte. »Komm. Dein erster Kontakt mit Menschen ist etwas, das du nie vergessen wirst.«

3

Als sie sich der Ansammlung von Zelten näherten, fiel Raphael eine junge Frau ins Auge, die sich damit abmühte, einen großen Topf über ein Feuer zu stellen. Ein kleiner Junge mit dichtem, dunklen Haar hing an ihrem Bein und erschwerte ihr die Arbeit. Sie trug ein langes Gewand, das zwar sauber war, aber kleine Risse aufwies, die eigentlich geflickt werden mussten. Sie trug einen Schleier, den sie um ihren Hals und über die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen hatte. Lebhafte braune Augen lugten über dem Schleier hervor. Als sie sich bewegte, rutschen die Ärmel ihres Gewandes nach oben und enthüllten die Geschwüre auf ihren Armen.

»Warte, ich helfe dir«, sagte Raphael und eilte zu ihr, um ihr zu helfen.

»Danke, guter Mann.«

»Du kannst mich Raphael nennen«, sagte er und stellte den Topf über das Feuer.

»Ich bin Miriam. Bitte glaub nicht, dass ich für deine Hilfe nicht dankbar wäre, aber du musst sofort von hier weg.« Sie sah ihn und Raguel an. »Wisst ihr nicht, was das für ein Ort ist?«

Raphael warf einen Blick auf den kleinen Jungen. »Doch, das wissen wir. Wir sind hier, um euch zu helfen und euch Trost zu spenden.«

»Welchen Trost könnt ihr schon spenden? Man wird euch auch ausstoßen wie uns andere, wenn die Menschen von Ai euch hier sehen.«

»Wir bringen euch die Botschaft, Seine Botschaft, dass ihr geliebt werdet und nicht verlassen seid.«

Miriam sah ihn traurig an. »Das ist schwer zu glauben, wenn alle sich von uns abwenden und es keine Rolle spielt, dass wir nichts Böses getan haben.« Sie schlang die Arme um ihren Sohn.

Raphael streckte die Hand aus. Bei seiner Berührung keuchte sie auf. Ein Ausdruck des Friedens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Alle sind Seine Kinder. Hab Vertrauen.«

»Danke«, flüsterte sie.

»Und wer ist der stramme junge Mann, der sich an dich klammert?« Raphael lächelte dem kleinen Jungen zu. Große braune Augen lugten hinter Miriams Rock hervor.

»Das ist mein Sohn, Ethan.«

Rapahel hockte sich hin, so dass er sich auf einer Augenhöhe mit dem Jungen befand. »Hallo, Ethan.«

Ethan versteckte sein Gesicht erneut hinter dem Rock seiner Mutter.

»Ethan!«, rief die Frau aufgebracht. »Vergib meinem Sohn. Er ist sonst nicht so. Erst seitdem uns befohlen wurde, die Stadt zu verlassen, ist er Fremden gegenüber ängstlich.«

Raphael nickte. Bevor er und Raguel den Himmel verlassen hatten, hatte Michael ihnen gezeigt, wie die Kranken aus ihren Häusern getrieben und zu den Toren der Stadt hinausgejagt wurden.

»Meine Begleiterin und ich haben gehört, was geschehen ist. Wir sind für kurze Zeit hier, um euch alle Hilfe zu bringen, die wir geben können. Gibt es etwas, das wir für dich tun können?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, das gibt es. Ich kann das Getreide schneller mahlen, wenn Ethan mir nicht am Rockzipfel hängt.«

»Ich glaube, ich kann einen Weg finden, ihn zu beschäftigen«, erwiderte er. Er sah hinab auf die Geschwüre an den Armen des Jungen. Er fragte sich, wo Ethans Vater war. Aber er fragte nicht laut danach. Er vermutete, dass der Vater seine Frau und seinen eigenen Sohn verstoßen hatte. Wie konnte jemand ein Mitglied seiner Familie verstoßen?

»Ethan, möchtest du eine Geschichte hören?« Er streckte dem Jungen seine Hand entgegen. »Es ist die Geschichte von einem Jungen, der von einem freundlichen, gutaussehenden Fremden geheilt wurde.«