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Es war nicht das erste Mal, dass Raphael Lash in die Halle des Gerichts begleitete, dem Ort, wo Engel für ihre Vergehen bestraft wurden und wo darüber befunden wurde, ob sie würdig oder unwürdig waren im Himmel zu verbleiben. Lash machte sich nie Sorgen, dass er für unwürdig befunden werden könnte – Raphael kümmerte sich immer darum.
Nach einem Seitenblick auf die kopflose Figurine schürzte Raphael die Lippen, gab aber keinen Kommentar dazu ab. »Michael wird dich empfangen, sobald er damit fertig ist, Gabrielle zu befragen.«
»Ich heiße Lash«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hasste es, mit seinem himmlischen Namen angesprochen zu werden, aber Raphael, der altmodisch in seiner Art war und daran festhielt, Traditionen aufrecht zu erhalten, bestand darauf.
Raphael fuhr sich verärgert mit einer Hand durch die blonden Wellen seines Haars. Er nahm die Bemerkung nicht zur Kenntnis, aber Lash wusste, dass er sie genau gehört hatte. Einige der besonderen Vorzüge des Engeldaseins waren ein verbessertes Seh- und Hörvermögen und Stärke – das Fliegen war ein zusätzlicher Pluspunkt.
»Warum hast du es nicht getan, Lash? Gabrielle hat dir genaue Instruktionen erteilt. Alles, was du tun musstest, war, sie zu befolgen.«
Was für eine Antwort konnte er seinem Mentor geben, demjenigen, der ihn immer verteidigte, wenn er beschloss, seiner eigenen Wege zu gehen? Er wünschte, er könnte Raphael die Wahrheit sagen. Als Gabrielle ihn beauftragt hatte, den Jungen zu retten, war er froh darüber gewesen. Jahrelang hatte er Menschen geholfen, die ihr Leben leichtfertig wegwarfen; er hatte gedacht, dass zumindest bei einem Kind immer Hoffnung bestand. Es gab da etwas an Kindern mit ihrer Offenheit und ihren unbefleckten Herzen, das so ganz anders war als die abgebrühten, selbstsüchtigen Erwachsenen, denen er begegnet war. Den Jungen zu retten, war leicht gewesen; das blondhaarige Mädchen ihrem Schicksal zu überlassen war es nicht.
»Gabrielle hat einen Fehler gemacht. Sie muss übersehen haben, das noch ein anderes Kleines im Flugzeug war, daher dachte ich mir, was könnte verkehrt daran sein, sie beide zu retten?«
»Es gab keinen Fehler«, sagte Raphael.
»Das Mädchen hatte es verdient zu leben.«
»Es ist nicht an dir, das zu entscheiden. Das weißt du.«
»Ja, ja, der Boss trifft die Entscheidungen.« Er machte eine abwehrende Handbewegung und setzte sich auf eines der Ledersofas in der Mitte des Saals. Er versuchte, seine Aufträge auszuführen, aber in letzter Zeit war es schwerer geworden, sie zu akzeptieren – obwohl er wusste, dass Michael und Gabrielle ihre Anweisungen von Gott erhielten.
Raphael setzte sich ihm gegenüber und beugte sich vor. »Lahash, die Menschen liegen dir sehr am Herzen und das macht dich zu einem großartigen Seraph. Aber du musst Kontrolle erlernen. Du kannst nicht Entscheidungen treffen, ohne sie zu durchdenken.«
»Ich weiß, was ich tue.« Lash ließ sich in das weiße Leder sinken und lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Ich bin nicht einverstanden mit einigen der Entscheidungen, die hier so getroffen werden.«
»Du bist jung. Du wirst noch lernen, dass die Entscheidungen, die wir treffen, auf viel mehr beruhen, als wir sehen können.« Raphaels Stimme wurde streng. »Jede Handlung hat Konsequenzen, die berücksichtigt werden müssen.«
»Komm schon. Sie ist ein kleines Mädchen.« Er hob die Hände. »Ich habe ihr eine Chance gegeben, erwachsen zu werden und ihr Leben zu leben. Was kann daran falsch sein?«
»Mehr, als du ahnst.«
Lashs Gesicht wurde ernst. »Du hättest sie sehen sollen, Raphael. Da war eine Güte in ihrem Herzen, die ich schon lange in niemandem mehr gesehen habe.«
»Ich bin sicher, dass es so war. Aber du hast kein Wissen darüber, was einmal aus ihr wird.«
Raphael lehnte sich zurück, ein abwesender Blick lag in seinen Augen. »Es gab eine Zeit, in der ich meinem Herzen gefolgt bin. Ich habe es gewagt, Michael und die anderen herauszufordern.« Seine Augen senkten sich und ein trauriger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Das habe ich zu einem hohen Preis getan.«
Lash hatte diesen Ausdruck schon von Zeit zu Zeit wahrgenommen und sich gefragt, was Raphael erlebt hatte, das ihm einen derart offensichtlichen Kummer bereitete. Er wünschte, er könnte sich an das erste Mal erinnern, als er ihm begegnet war. Aus irgendeinem Grund gab es da eine Lücke in seiner Erinnerung. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass er eines Morgens aufgewacht war und Raphael an seiner Seite saß.
Als Raphael aufstand und zur Tür schritt, folgte Lash ihm und schlug ihm spielerisch auf die Schulter. »Hey, mach dir keine Sorgen. Ich werde einen Klaps auf die Finger bekommen wie beim letzten Mal.«
Raphael schüttelte den Kopf. »Eines Tages wird sich deine Aufsässigkeit rächen.«
Er grinste. »Nicht heute. Da bin ich mir sicher.«
Als sie den Korridor entlanggingen, kam ein hochgewachsener, schlanker Engel auf sie zu. Wellen blonden Haars umrahmten ein finsteres Gesicht. »Michael ist bereit, dich zu empfangen.«
Lash grinste. »Bestens, dir auch einen guten Morgen, Gabrielle.«
Gabrielle verengte ihre grünen, katzenartigen Augen. »Verstehst du die Auswirkungen deines Tuns nicht? Oder sind sie dir einfach egal?«
Er wollte gerade antworten, als Raphael sich vor ihn stellte. »Antworte nicht darauf. Gabrielle, ich denke es ist das Beste, dieses Gespräch mit Michael zu führen. Meinst du nicht?«
Ihre Augen wurden sanfter, als sie Raphael ansah. Dann wurden sie kalt. »Diesmal kannst du ihn nicht schützen.« Sie wandte sich an Lash und ihre Augen musterten ihn voller Verachtung.
»Wozu versuchst du es überhaupt?« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung der Halle des Gerichts.
An der Tür trat sie beiseite und stellte sich neben Raphael. Als Lash eintrat, zwinkerte er ihm zu und versuchte, seine wachsende Angst zu verbergen. Merkwürdig. All die Male, die er zuvor in Schwierigkeiten geraten war, war er nie beunruhigt gewesen. Etwas war anders.
»Mach dir keine Sorgen, Raphael.« sagte Lash. »Ich hab das hier im Griff.«
Was war schon das Schlimmste, das sie tun konnten?
2
FÜNFUNDDREIßIG JAHRE SPÄTER
Naomi Duran schaltete den Motor ihres Motorrads aus und blieb einen Moment lang sitzen, um den Kindern des Viertels beim Basketballspielen zuzusehen. Drei Jungen liefen die Straße hinunter, während ein paar Mädchen auf dem Bürgersteig standen und sie vor vorbeifahrenden Autos warnten. Sie löste den Gurt des Helms und lachte leise in sich hinein.
Sie konnte nicht glauben, dass sie endlich das College abgeschlossen hatte.
Sie war längst nicht mehr das dürre Mädchen, das auf den Schultern ihres Cousins Chuy gestanden und den Basketballkorb an den Telefonmast genagelt hatte. Die Narbe an ihrem Knie und den Klaps auf den Hintern, den sie dafür von ihrem Vater bekommen hatte, war es allerdings definitiv wert gewesen. Sie hatte die Wette gegen Lalo Cruz, Chuys besten Freund, gewonnen und die zehn Dollar dafür verwendet, sich mit Big-Red-Limo zu einzudecken. Sie konnte nicht glauben, dass der Korb noch immer am gleichen Platz hing.
Naomi nahm den Helm ab und dunkles Haar fiel ihr übers Gesicht.
Ich muss zum Friseur, dachte sie und strich die zerzauste Mähne zurück.
Das letzte Mal, dass sie dort gewesen war, war fast zwei Jahre her, als ihre Mutter ihr eigenes Haar während der Chemo verloren hatte. Ohne zu zögern hatte sie ihr eigenes Haar, das ihr bis zur Taille gereicht hatte, abgeschnitten und eine Perücke anfertigen lassen. Ein Jahr später waren ihre Haare nachgewachsen und ihre Mutter war von ihnen gegangen. Sie wollte sich die Haare wieder kurz schneiden, aber jedes Mal, wenn sie zum Stylisten ging, brachte das Erinnerungen zurück, an die sie nicht denken wollte.
Es tat weh, an ihre Mutter zu denken und Naomi vermied es, wann immer es ihr möglich war. Sie hatte die Ninja 250R gekauft, nachdem ihre Mutter gestorben war. Das gebrauchte, rote Motorrad hatte förmlich geschrien: »Fahr mich!«, und sie hatte es haben müssen. Dank Chuys Fähigkeiten als Mechaniker hatte sich das Motorrad bald wie neu gefahren. Wenn sie auf ihm unterwegs war, konnte sie die Erinnerungen zurückdrängen: an ihre Mutter, wie sie in ihrem Bett dahinsiechte, und an ihren Vater, der seinen Kummer in Alkohol ertränkte, nachdem ihre Mutter gestorben war.
»Wieso sitzt du denn hier draußen?«
Chuy kam aus dem kleinen, weißen Haus heraus. Die Fliegengittertür fiel hinter ihm ins Schloss. Sie konnte nicht glauben, wie sehr ihr Cousin sich verändert hatte. Er war ein dünner Junge mit schlimmer Akne gewesen. Jetzt bestand er aus Muskeln – dank seines Jobs in der Cruz Moving Company. Das tägliche Möbelschleppen hatte seinen Körper gut geformt, obwohl Naomi das niemals laut zugeben würde. Seinem Ego wurde schon von einigen Mädchen in der Nachbarschaft regelmäßig geschmeichelt, die sich um ihn scharten.
»Ich genieße die Stille, bevor ich mich dem lauten Mob stelle, den wir als Familie bezeichnen.« Sie schwang ihr Bein über den Sitz und schloss ihren Helm am Motorrad an.
»Lass mal. Ich schiebe diese Todesfalle für dich.« Er lehnte sich über ihr Motorrad und spannte seine muskulösen Arme für sie an. »Guck dir die Muckis an. Sind größer geworden.«
Sie verdrehte die Augen und schob ihn beiseite. »Igitt, Chuy. Du hast eine Dusche nötig.«
Chuy grinste. »Was ist los? Ist deine Nase zu fein für Eau de Mexicano? Manche von uns müssen sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Nicht alle von uns können einen College-Abschluss haben wie du.«
Naomi schnaubte. Chuy machte sich immer dann über sie lustig, wenn er versuchte, seine Gefühle zu verbergen. Er war wie ein älterer Bruder und hatte immer auf sie aufgepasst, besonders nachdem die Dinge heftig geworden waren mit ihrem Vater.
Manchmal war sie eifersüchtig auf die besondere Beziehung, die Chuy und ihr Vater hatten, aber sie konnte ihrem Vater nicht vorwerfen, dass er Chuy unter seine Fittiche genommen hatte. Schließlich waren dessen eigene Eltern getötet worden, als er fünf war. Ihre Großmutter hatte Chuy großgezogen, ihre Argusaugen stets wachsam, damit er nicht einer der Gangs des Viertels in die Hände fiel. Aber wann immer Chuy ein Problem hatte, war es ihr Vater, der da gewesen war, um die Dinge zu richten.
»Du könntest mittlerweile deine eigene Firma haben, wenn du nicht nach dem ersten Semester alles hingeschmissen hättest.«
»Kannst du mir das vorwerfen? Alles über Sokrates zu lernen hätte mir kaum geholfen, meine Rechnungen zu bezahlen.« Chuy schob den Seitenständer nach unten.
Sie musterte ihn aufmerksam. Das war sein wunder Punkt. Er hatte auf dem College bleiben wollen, aber selbst mit finanzieller Unterstützung hatte er es sich nicht leisten können, die College-Gebühren aufzubringen und gleichzeitig ihre Großmutter zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Vater Mühe gehabt, seinen eigenen Job zu behalten und hatte deshalb auch nicht helfen können.
»Okay, okay. Das gebe ich zu. Du bist wirklich schlau, weißt du.« Sie stupste ihn am Arm an. »Ich hätte Algebra ohne deine Hilfe nicht geschafft.«
»Nicht so laut.« Chuy sah sich nervös um, als sie die Vordertreppe des Hauses erreichten. »Ich habe einen Ruf zu wahren.«
»Oh, wie schrecklich! Ich würde nicht wollen, dass jemand denkt, du wärst intelligent.«
Naomi hörte in einiger Entfernung Musik näherkommen. Die Nachbarskinder traten beiseite und sahen zu, wie der schwarze Mustang um die Ecke bog. Verspiegelte Felgenkränze drehten sich langsam, als das Auto die Straße hinunterrollte. Auf dem Kühlergrill säumten helle LED-Lichter das Pferdelogo wie ein bläulich-weißer Heiligenschein.
»Ernsthaft, Dad?«, fragte Naomi, als ihr Vater, Javier Duran, das Auto vor ihr anhielt. »Depeche Mode?«
»Du weißt, dass ich das mag. Du hast immer dazu getanzt, als du klein warst.« Javier stieg aus dem Auto und umarmte sie. »Herzlichen Glückwunsch, Mijita, mein Töchterchen. Du hast heute Morgen wunderschön ausgesehen in Doktorhut und Umhang.«
»Danke, Dad.« Naomi liebte es, wenn er den spanischen Kosenamen verwendete.
»Hast du uns gehört? Wir haben für dich applaudiert.« Javier öffnete den Kofferraum des Autos und nahm eine Tüte mit Einkäufen heraus.
»Ja, Dad. Ich glaube, jeder hat Chuys Luftdruckfanfare gehört.«
»Hey, ich musste ein bisschen Leben da reinbringen«, sagte Chuy, während er die übrigen Tüten aus dem Kofferraum hob. »Es war so langweilig, dass wir fast eingeschlafen sind.«
»Mission erfüllt. Der Rektor hat fast einen Herzinfarkt bekommen.« Naomi ging zur Vorderseite des Wagens und fuhr mit dem Finger das Licht um das galoppierende Pferd nach. »Du hast die Lichter fertig eingesetzt. Sieht gut aus.«
Javier strahlte und tätschelte die Kühlerhaube des Autos. »Du solltest es mal nachts sehen. Es sieht aus, als würde das Pferd direkt auf dich zugaloppieren.«
Sie lachte. Es war lange her, seit sie ihren Vater das letzte Mal so glücklich gesehen hatte. »Dad, du hörst dich an wie ein Teenager.«
»Das Leben ist hart, Mijita. Man muss es genießen, solange man kann.«
»Ja, wir können schließlich nicht alle so ernste Bücherwürmer sein wie du, Naomi«, sagte Chuy. »Außerdem bist du zweiundzwanzig, nicht zweiundachtzig. Leb ein bisschen.«
Wenn sie das nur könnte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie in der Lage gewesen war, sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten. Während der ersten beiden Jahre am College war sie auf eine Menge Partys der Studentenverbindung gegangen. Aber alles hatte sich in ihrem dritten Jahr geändert, als ihrer Mutter die Diagnose gestellt worden war. Im Gegensatz zu anderen Mädchen ihres Alters war sie nicht daran interessiert, mit Jungen auszugehen, selbst als ihre Mutter sie dazu anspornte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Mutter hoffte, Naomi würde jemanden finden, auf den sie sich stützen konnte, wenn sie nicht mehr da wäre.
Nachdem sie gestorben war, hatte Naomi keine Zeit gehabt zu trauern, weil sie zu beschäftigt damit gewesen war, sich um ihren verstörten Vater zu kümmern. Wenn sie ihrer Mutter nicht versprochen hätte, ihren Abschluss zu machen, hätte sie sogar das College verlassen.
Javier und Chuy unterhielten sich angeregt über das Auto, während sie Richtung Hinterhof gingen. Naomi lächelte. Es schien, als ob es für sie alle aufwärts ginge. Vor einigen Wochen war Javier den Anonymen Alkoholikern beigetreten und hatte aufgehört zu trinken. Er hatte all seine Energie darein gesteckt, mit Chuy den Mustang zu reparieren. Naomi hatte einen neuen Job als Einzelfallhelferin der Kinderschutzbehörde, den sie in zwei Wochen antreten würde. Da sie dann mehr Geld verdienen würde, wäre sie vielleicht sogar in der Lage, Chuy mit der Abzahlung der Hypothek ihrer Großmutter zu helfen.
»Mijita! Da bist du ja. Was hat denn so lange gedauert?« Naomis Großmutter eilte die Verandatreppe hinab und schlang ihre dünnen braunen Arme um sie.
»Autsch, Belita«, sagte Naomi. »Du zerquetschst mich ja.«
Ihre Großmutter – oder Belita, wie sie von allen liebevoll genannt wurde – war winzig, aber kräftig. Sie trug ihr tintenschwarzes Haar kurzgeschnitten. Sie sagte immer, es sei zu heiß für jede andere Länge. Jahre harter Arbeit, die sie auch damit zugebracht hatte, erst ihren Sohn und dann Chuy großzuziehen, hatten ihr wenig Zeit gelassen, sich selbst etwas zu gönnen, besonders wenn es um Kleidung ging. Sollte jemand ihren Schlafzimmerschrank öffnen, hätte er den Eindruck, in die 70er zurückversetzt worden zu sein. Naomi hatte versucht, ihre Großmutter zu überzeugen, von Polyester auf Baumwolle umzusteigen und hatte sogar angeboten, ihr einen neuen Kleiderschrank zu kaufen, aber Belita hatte abgelehnt mit der Begründung, dass ihre Kleider noch völlig in Ordnung seien und eines Tages wieder in Mode sein würden.
»Ay, Dios mío. Du fährst dieses Ding immer noch. Ich habe dir doch gesagt, du kannst meinen Buick haben.« Belita marschierte an ihr vorbei und warf dem Mototorrad ihren besten bösen Blick zu. »Chuy, kannst du es nicht auf diesem Ding zum Verkauf anbieten… am Computer?«
»Auf welchem Ding?« Chuy sah verwirrt aus.
»Cómo se dice?«, murmelte Belita, dann schnipste sie mit den Fingern. »Jetzt erinnere ich mich. Stell es auf Ebaze.«
»Du meinst eBay. Ja, das kann ich machen.« Chuy sah Naomi mit einem teuflischen Grinsen an. »Oder vielleicht behalte ich es selbst.«
»Vergiss es! Du stellst mein Motorrad nicht auf eBay.« Naomi gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Ich liebe mein Motorrad.«
»Genau wie Stacey«, sagte Javier.
»Was?« Naomi beäugte das Bier, dass er trug und fragte sich, ob er rückfällig geworden war. Sie hatte Alkohol nie besonders gemocht und hatte keinen auf ihrer Abschlussparty gewollt, aber Chuy hatte darauf bestanden und gesagt, dass es ohne Alkohol keine Party sei. Naomi war skeptisch gewesen, aber Chuy hatte versprochen, Javier im Auge zu behalten.
»Deine Mutter. Du bist genauso stur, wie sie es war. Wenn sie sich erstmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie nicht aufhalten.« Tränen glänzten in seinen Augen und er schluckte. »Sie wäre heute so stolz auf dich.«
»Ich vermisse sie auch.« Naomi konnte die Male nicht zählen, die sie gewünscht hatte, ihre Mutter wäre da, um den Moment mit ihr zu erleben. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte, bis sie an diesem Morgen den schwarzen Doktorhut aufgesetzt hatte. Sie hatte im Spiegel dasselbe Bild gesehen, wie das, das sie als Bildschirmhintergrund auf ihrem Handy hatte. Der einzige Unterschied war der, dass auf dem Foto rotbraunes Haar unter dem Hut hervorquoll anstelle von Naomis dunklem Haar.
»Sie hätte es geliebt, dich so zu sehen. So erwachsen. Wenn nur ihre Familie zur Zeremonie hätte herkommen können«, sagte er.
»Ich habe die ganze Familie, die ich brauche, jetzt hier um mich.« Naomi hatte ihre Familie mütterlicherseits nie kennengelernt, abgesehen von der alljährlichen Postkarte mit einem Foto des gesamten Hamiltonclans vor einem großen Weihnachtsbaum. Es war kein Geheimnis, dass die Hamiltons, eine reiche Familie aus der Gegend um Dallas, die Heirat ihrer Tochter mit Javier nicht gutgeheißen hatten. Dabei musste ihnen bequemerweise entfallen sein, dass ihre Tochter ohne Javiers Nachhilfe-Fähigkeiten niemals ihre naturwissenschaftlichen Fächer bestanden hätte. Naomi vermutete, dass es ihre unerwartete Geburt in Staceys letztem Jahr am College gewesen war und die daraus resultierende Ankündigung, dass Stacey ihren Abschluss nicht machen würde, die die Familie den Durans entfremdet hatten.
Naomi legte ihrem Vater einen Arm um die Hüfte, während sie in den Hinterhof gingen. Als sie um die Ecke kamen, schmetterten Trompeten los und sie machte überrascht einen Satz nach hinten.
»Mariachis? Ihr habt Mariachis für mich organisiert?«
»Es sind die Mariachi Cascabel«, sagte Belita stolz. »Sie sind den ganzen Weg von Laredo gekommen. Es sind die Besten.«
Tränen brannten in Naomis Augen, während ihre Großmutter und ihr Vater vor Stolz strahlten. Sie wusste, dass eine solche Band wirklich teuer war und dass sie sich das ganz sicher nicht leisten konnten. Es war erst einen Monat her, dass Lalos Vater, der Besitzer der Cruz Moving Company, angeboten hatte, Javier in Teilzeit einzustellen, damit er ihm beim Managen der Firma helfen konnte. Und das einzige Einkommen, dass Belita hatte, war Sozialhilfe.
»Belita, Dad, das ist zu viel. Ihr hättet nicht – «
»Keine Klagen.« Belita tätschelte Naomis Hand. »Mach dir keine Sorgen. So teuer war es gar nicht. Außerdem haben alle in der Nachbarschaft was dazugegeben.«
Naomi drehte sich zu ihren Nachbarn um, die beieinander saßen, sich unterhielten, aßen und tranken. Die meisten von ihnen kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war – wie Lalos Familie, die Cruzes, die an einem der Picknicktische saßen und sich mit einigen ihrer Verwandten aus Los Angeles unterhielten. Die Durans waren ebenfalls alle erschienen und waren sogar aus Laredo angereist, nur um hier sein zu können. College-Abschlüsse waren in ihrer Familie selten und es rührte sie, dass sie alle hier sein wollten, um mit ihr zu feiern. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Du sagst danke.«, sagte Chuy, während er die Einkaufstüten auf einem Picknicktisch in der Nähe abstellte.
»Das weiß ich.« Sie gab erst Belita, dann ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Vielen, vielen Dank.«
»Chuy, hier rüber, Alter. Bring den Alkohol mit.«
Naomi sah zu, wie Lalo eine helle Flüssigkeit in den Grill spritzte. Er wischte sich mit einem Papiertuch über die verschwitzte Stirn und stopfte es dann in seine Hosentasche. Lalo war ein großer Fan von XXXL-Hawaii-Hemden und Fajitas. Er war ein lieber Kerl und äußerst loyal. Man konnte ihm blind in allen Dingen vertrauen – außer mit entflammbaren Substanzen.
»Ihr habt Lalo die Verantwortung für den Grill übertragen? Seid ihr verrückt? Er wird das ganze Viertel in Flammen setzen.« Sie wollte gerade zu ihm eilen, als Belita sie zurückhielt.
»Warte mal kurz.«, sagte Belita. »Ich habe ein Geschenk für dich.«
Chuy schirmte seine Augen ab, als sie mit einer Hand in ihren Ausschnitt griff. »Ach, Belita. Mach das doch nicht vor allen Leuten.«
»Ay, Ama! Wieso steckst du Zeugs da rein?« Javier stellte sich vor sie und sah sich um, um zu sehen, ob jemand zusah.
Belita zog einen zusammengefalteten Umschlag heraus. »Es ist der sicherste Ort, den ich kenne.«