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Der Blick in den See
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Der Blick in den See

Erlebnispädagogik ist eine auf Ziele hin ausgerichtete, aber prozessorientierte, ganzheitliche pädagogische Intervention mit Medien, welche Ereignisse ermöglichen, die sich stark vom Alltag der Adressaten unterscheiden.

In unserer Weiterbildung erläutern wir unsere Definition gerne so:

… auf Ziele hin ausgerichtet … : Ohne Ziel bedarf es keiner Pädagogik.

Wenn Pädagogik mit „einen Menschen führen“ – besser gefällt mir „begleiten“ – übersetzt werden kann, dann braucht es eine Richtung. Im Optimalfall gibt mein Klient Ziel und Richtung vor. Oftmals haben wir eine Mischung aus unterschiedlichen Zielen: Es gibt das Ziel eines externen Auftraggebers, das Ziel einer Gruppe, das davon differierende Ziel eines einzelnen Teilnehmers, das Ziel des Trainers auf der Basis seiner situativen, pädagogischen Einschätzung. All diese Ziele gilt es gegeneinander abzuwägen und möglichst in Einklang miteinander zu bringen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass sich Ziele im Laufe des Prozesses auch verändern können.

… prozessorientiert …: D.h. sich stets im pädagogischen Handeln an den Gruppenprozess anpassend. Hierbei hilft die Reflexion dabei, die Bedürfnisse der Gruppe/der Einzelnen herauszufinden und das Programm darauf abzustimmen. Ob der Trainer gerade mit seinen Vorstellungen der Prozessgestaltung noch richtig liegt, kann er nur im Dialog mit seinen Teilnehmern herausfinden. Das Thema Prozessorientierung soll an späterer Stelle nochmals besonderen Raum bekommen.

… ganzheitlich … : Mit allen Sinnen, emotional, kognitiv, auf Bewusstsein wie Unterbewusstsein wirksam. Warum nur ganzheitliche Lernerfahrungen den größten Effekt haben, wird im folgenden Kapitel über neurophysiologische Erkenntnisse des Lernens deutlich – und damit auch, warum Reflexion so wichtig sein kann.

… Intervention … : Der Begriff bedeutet für uns das „Dazwischentreten“ in einen laufenden Prozess um mittels Irritation eine Veränderung oder eine Bewusstmachung zu erreichen. Wenn ich nichts verändern will, brauche ich keine Pädagogik – es sei denn in Form einer präventiven Maßnahme. Aber letztlich ist auch Prävention eine Form der Intervention.

… mit Medien, welche Ereignisse ermöglichen, die sich stark vom Alltag der Adressaten unterscheiden … : Die bislang treffendste Definition des Erlebnisbegriffs hat meiner Meinung nach Meier-Gantenbein geliefert (siehe oben). Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum es in der Erlebnispädagogik keine Festlegung auf bestimmte Medien geben kann. Das Medium Kajak unter bestimmten Voraussetzungen, gekoppelt mit einer pädagogischen Absicht und als unbekanntes Lernfeld kann Erlebnispädagogik sein. Kajakfahren in einem Kajakkurs hingegen muss nicht Erlebnispädagogik sein. Und Kajakfahren mit einer Gruppe von Inuit hat für diese vermutlich zu wenig vom Charakter eines Ereignisses, das einen Unterschied zur Alltagsstruktur macht – und wird aller Voraussicht nach nicht im selben Maße erlebnispädagogisch wirksam wie andernorts. Damit ein Medium erlebnispädagogisch wirksam wird, muss es also kontextabhängig ausgewählt werden. Es kann somit nur kontextabhängige Ein- oder Ausgrenzungen von Medien in die Erlebnispädagogik geben.

Ähnlich ist in diesem Zusammenhang auch die Gestaltung des räumlichen Umfeldes zu bewerten: Es gilt abzuwägen, ob die Prozessqualität durch ein anderes Umfeld gesteigert oder ob durch das Erlebnis ein vertrautes Umfeld zu etwas anderem wird.

Aufgrund dieser Überlegung ist auch Natur (im Sinne von „nicht durch den Menschen bewusst geformte und kontrollierte Umgebung“) und der Einsatz von „Natursportarten“ für die Erlebnispädagogik nicht mehr als grundlegende Basis zu betrachten – wiewohl natürlich ertragreich und bewährt! Ich wollte auf nichts davon verzichten! Doch Citybound, Budopädagogik, Zirkuspädagogik und süddeutsche Formen des PA-Ansatzes verzichten oftmals auf Natur oder „Natursportarten“ und müssen dennoch dem erlebnispädagogischen Feld zugerechnet werden.

Ich denke, dass hierdurch besonders deutlich hervorgeht, dass sich Erlebnispädagogik über Absicht und Wirkweise definieren muss und sich nicht an Medien und äußeren Räumen festmachen lässt.

Die oben vorgestellte Definition ist nur eine weitere Definition.

Doch sie ist grundlegend für unsere Vorstellung von Prozessgestaltung.

Sie will (und kann!) auch andere Definitionen nicht ersetzen. Aber sie kann anregen, darüber nachzudenken, was eigentlich unabdingbar ist um „erlebnispädagogisch“ im Sinne einer pädagogischen Absicht zu arbeiten.

1.2Aus dem Erlebnis lernen – Ein Ausflug in die Neurophysiologie

Erlebnispädagogische Arbeit lebt von dynamischen, dialogischen und systemisch zu betrachtenden Prozessen. Solche Prozesse können bis zu einem gewissen Grad beeinflusst, aber niemals präzise gesteuert werden – erlebnispädagogische Arbeit „funktioniert“ nicht linear. Die Einflussfaktoren sind vielfältig und komplex – was nicht heißt, dass man nicht trotzdem eine hohe „Trefferquote“ erzielen kann. Ein Forschungsdesign jedoch, das alle Einflussfaktoren erlebnispädagogischen Handelns angemessen erfasst, wird weiterhin eine Herausforderung bleiben. Jenseits quantitativer Wirksamkeitsstudien gibt es allerdings Erkenntnisse, die Mut für die Arbeit machen; Erkenntnisse, die ein neues Grundlagenverständnis der Erlebnispädagogik (und verwandter Felder!) ermöglichen und damit fundierte Erklärungen für das liefern, was wir schon seit Jahren praktisch tun. Diese Erkenntnisse kommen aus den Neuro-Wissenschaften25. Ich werde in diesem Kapitel jene Gedanken wiedergeben, die für unsere erlebnispädagogische Arbeit besonders interessant sein dürften.

Im Vorfeld möchte ich noch auf eine sehr spezielle Problematik hinweisen:

Die des Lern-Begriffs.

Ich laste es der Tradition unseres Schulsystems an, dass „Lernen“ häufig mit einem Vorgang bewusster Informationsverarbeitung und Speicherung von Faktenwissen assoziiert wird. Auch wenn Bildungspläne und Lehrerausbildungen mittlerweile versuchen, den Lernbegriff anders zu füllen – in vielen Köpfen scheint dies noch nicht angekommen zu sein. In einem hohen Anteil von Publikationen zum Thema „Lernen“ wird mindestens implizit die Vorstellung eines funktionalen, kognitiv orientierten Wissenstransfers weiterhin genährt – oder Lernen recht eindimensional im schulischen Raum verortet. Dabei ist das Gehirn, wenn es lernt, weit davon entfernt, einen isolierten (und noch dazu vordefinierten) Inhalt abzuspeichern: Es entscheidet vielmehr selbst, wie die vielfältigen Anteile einer Situation zu bewerten sind, welche davon ins Bewusstsein gelangen – sowie ob und wie sie dort verankert werden.26 Das Gehirn konstruiert also die darin gespeicherten Inhalte – Lernen ist nicht Transfer sondern ein aktiver und individueller Konstruktionsprozess. Hier reichen sich Neurowissenschaftler und Konstruktivisten die Hand. Und für uns Erlebnispädagogen heißt das wieder einmal: Der Output ist nicht vordefinierbar. Allein schon deshalb brauchen wir die Reflexion! Dort, wo ich in diesem Buch den Begriff „Lernen“ verwende, ist die Aneignung von Kompetenzen jeglicher Art gemeint – gerade auch emotionaler und sozialer Kompetenzen. Dieser Aneignungsprozess geschieht (wie ich noch anreißen werde) häufig „implizit im Nebenher“ d.h. nicht bewusst; weder intendier-, steuer- oder messbar. Der hier verwendete Lernbegriff umfasst daher jene schwer zu beschreibende Fähigkeit ein gutes Lagerfeuer zu machen ebenso wie Prozesse sozialen Lernens oder die Verarbeitung persönlichkeitswirksamer Impulse. Es ist mir ein Anliegen, den Lernbegriff bzgl. seiner Konnotationen kritisch zu überprüfen. Denn das, was wir unter Lernen (und auch unter „Pädagogik“!) verstehen, hat maßgeblichen Einfluss auf unser Menschenbild, unsere Haltung und unser Handeln in pädagogischen Prozessen.

Als Nicht-Gehirnforscher ist es für mich eine Herausforderung, mich mit dem menschlichen Gehirn zu beschäftigen – noch größer aber ist die Herausforderung, die gewonnenen Erkenntnisse lesbar und für die pädagogische Praxis gangbar wiederzugeben. Trotz dem Bemühen um fachliche Richtigkeit werde ich vieles stark vereinfacht darstellen müssen – ich hoffe, die Neurowissenschaftler verzeihen mir dies. Aus diesem Grund werde ich allen Fachwörtern und Sachverhalten, bei denen ich eine tiefgängigere Betrachtung für besonders lohnenswert halte, eine (➔) Pfeilmarkierung voranstellen.

Der neugierige Leser sei darum an dieser Stelle explizit eingeladen, sich mit der Materie via Internetrecherche oder der im Literaturverzeichnis genannten spezifischen Literatur eingehender zu beschäftigen.

Kurzeinführung in das Gehirn

Das menschliche Gehirn ist Teil des Zentralnervensystems. Die verschiedenen Areale und Teile des Gehirns haben einen „modularen“ Charakter – wirken jedoch gerade bei komplexen Denk- oder Handlungsvorgängen in Form eines Netzwerks zusammen. Man kann also Teilfunktionen einem bestimmten Gehirnareal zuordnen – muss aber berücksichtigen, dass häufig nur die Verknüpfung mehrerer Teilfunktionen zu einer echten Konsequenz führt. Bei all dem ist das Gehirn sehr gut darin, sich flexibel umzuorientieren und – z. B. in dem Fall, dass ein Teil nicht mehr so gut funktioniert – bestimmte Funktionen mit Hilfe anderer Areale zu kompensieren. (Das Stichwort hierzu lautet „Funktionale Plastizität“.) Der Neurophysiologe Gerhard Roth beschreibt das Gehirn als in vieler Hinsicht funktional redundant – was uns Erlebnispädagogen natürlich gut gefällt. Das Gehirn ist also mehr als die Summe seiner Bestandteile – deren Vernetzung allerdings ist tragend für die Tatsache, dass wir viele komplizierte Dinge tun, sagen, lernen und machen können.

Zu der hier genannten Vernetzung lässt sich stark vereinfacht sagen, dass alles, was mit unserem Bewusstsein zu tun hat, in unserer Großhirnrinde angekommen ist.27 Die Großhirnrinde ist jene gefurchte äußere Schicht, welche entfernt an eine Walnuss erinnert – das, woran man zuerst denkt, wenn man (als Nicht-Neurowissenschaftler) an ein Gehirn denkt. Was uns bewusst wird, muss sich also irgendwo hier herumtreiben – allerdings gilt das nicht auch umgekehrt! Denn nicht alles, was sich in der Großhirnrinde abspielt, ist uns automatisch auch bewusst! In motorischen und sensorischen Arealen der Großhirnrinde laufen viele Prozesse ab, die unbewusst bleiben. Was übrigens ganz erholsam ist, wenn man mal darüber nachdenkt.


Es gibt aber auch die sogenannten „assoziativen Areale“, welche „keine primären sensorischen oder motorischen Informationen verarbeiten, sondern solche Informationen verbinden („assoziieren“) und in Verbindung mit Gedächtnisinhalten […] komplexere, bedeutungshafte Informationen erzeugen.“28 Für uns Erlebnispädagogen sind einige im vorderen Teil der Großhirnrinde gelegene Areale besonders interessant: So zum Beispiel der dorsolaterale Teil des präfontalen Cortex29 (PFC), dessen Ausrichtung auf „das Erfassen von Ereignissen und Problemen in der Außenwelt, insbesondere hinsichtlich deren zeitlicher Reihenfolge und ihrer Bedeutung bzw. Lösung“30 erfolgt.

Nicht minder spannend ist die Tatsache, dass solche Areale wie der orbifrontale Cortex (OFC), der ventromediale präfontale Cortex (VMC) und der anteriore cinguläre Cortex (ACC) mit „Sozialverhalten, ethischen Überlegungen, divergentem Denken, Fehlererkennung, Risikoabschätzung, Gewinn- und Verlusterwartung, Einschätzung der Konsequenzen eigenen Verhaltens, Gefühlsleben und emotionaler Kontrolle des Verhaltens […]“31 zu tun haben. Dies sind die Areale, die für unsere Arbeit eine vergleichsweise wichtige Rolle spielen – es bleibt also nur die Frage, wie wir diese in Schwung bringen.

Hinter (bzw. unter) der Großhirn-Rinde liegen Bereiche, welche passenderweise unter der Sammelbezeichnung Stamm-Hirn zusammengefasst werden. Sie umfassen Zwischenhirn, Mittelhirn, Brücke (Pons) und verlängertes Rückenmark. Das Stammhirn ist überwiegend für vegetative und unbewusste Prozesse zuständig – und sichert damit unser Überleben. Überwiegend wohlgemerkt, da vielfältige Areale die zum ➔ Zwischenhirn zählen oder mit ihm im Zusammenhang stehen, für die Organisation unter-/vorbewusster Prozesse zuständig sind – d.h. Prozesse, die noch nicht (oder nicht mehr) bewusst sind, es aber werden können. Der im Zwischenhirn gelegene ➔ Thalamus zum Beispiel gilt als „Schaltzentrale“, die darüber entscheidet, welche Informationen in den assoziativen Arealen der Großhirnrinde landen. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist die Rolle des ➔ Hippocampus, welcher Informationen aus unterschiedlichen sensorischen Systemen zusammenführt, als Gedächtnisinhalte in das Langzeitgedächtnis integriert und deren Abruf organisiert.


Neben all dem gibt es noch ein (gar nicht mal so kleines) Kleinhirn irgendwo hinten im Kopf, das u.a. für unbewusste Planung, Motorik und Bewegungskoordination zuständig ist. Wir können dessen Existenz im Hinterkopf behalten, allerdings ist es für uns jetzt, hier und heute nicht so wichtig.

All diese Gehirnareale sind nun auf vielfältige Weise miteinander verbunden – manche besser oder schlechter, manche direkter oder über Umwege. Vielleicht ist die Vorstellung eines weltweiten Telefonnetzes hilfreich – zeitgemäßer wäre vielleicht aber auch ein Vergleich mit dem Internet. Die Vernetzung unserer Hirnareale geschieht jedenfalls ganz ähnlich: Furchtbar viele Nervenzellen, die man Neuronen nennt, sind miteinander über sog. Synapsen verbunden.32

Über diese Synapsen werden Informationen in Form von Erregungsimpulsen auf überwiegend chemischem (manchmal auch elektrischem) Weg zwischen den Nervenzellen ausgetauscht. Ist die synaptische Verbindung stark (sozusagen eine „dicke Leitung“), geht die Übertragung von Erregungsimpulsen schnell – ist sie weniger stark, geht die Übertragung langsamer. An dieser Stelle sei noch bemerkt, dass Synapsen vollkommen flexibel, veränderbar und anpassungsfähig sind:

Sie können sich bedarfsabhängig verändern – also derart, wie es den gegebenen Anforderungen entspricht. Es ist vollkommen beeindruckend, dass wir sozusagen jederzeit fast alles lernen können – wenn auch manchmal leichter oder schwerer.

Wir können schon jetzt festhalten, dass es beim Lernen von Verhaltensweisen, Kompetenzen, Wissensinhalten, Bewegungen u.v.m. immer darum geht, aktiv neue Verknüpfungen herzustellen und die synaptische Verbindung zu einer „dicken Leitung“ auszubauen. Dies wird begünstigt durch:

 eine gewisse Mehrdimensionalität neuer Eindrücke z.B. durch Sehen, Hören und Tun (= unterschiedliche Hirnareale und synaptische Verbindungen werden aktiviert.)

 eine gewisse Erregungsstärke (d.h. erhöhte Aufmerksamkeit – häufig gegeben, wenn Emotionen mit im Spiel sind oder eine Situation als neu und bedeutsam eingeschätzt wird.)

 eine gewisse Dauer der Auseinandersetzung und Wiederholung (neue Repräsentationen im Gehirn bilden sich erst ab einer Dauer von etwa 10 Minuten der Beschäftigung mit etwas – Dauerhaftigkeit ist aber erst gegeben, wenn diese Repräsentanz im Abstand einiger Stunden erneut abgefragt wird.33)

Um die Vielfalt, Komplexität und Menge der möglichen Informationsverschaltungen in unserem Gehirn auch nur annähernd erahnen zu können, hier ein Vergleich: Stell Dir vor, Du öffnest eine Google-Maps-Karte der Welt im Internet und sämtliche persönlich relevanten Internet-, Festnetz,- und Mobiltelefonverbindungen ALLER Menschen würden mit Hilfe hellgelber Linien dargestellt. Und nun stelle Dir vor, über jede dieser Linien würde im Moment einer E-Mail oder eines Anrufs ein kleiner orangefarbener Punkt wandern. Unvorstellbar? Ungefähr so unvorstellbar ist die Vielfalt unseres neuronalen Netzwerkes, über welches Informationen zwischen den Gehirnteilen hin und her fließen.34

Ein anderes schönes Gedankenexperiment ist dieses: Was tut Dein Gehirn jetzt gerade alles parallel? Du liest Buchstaben, fügst sie zu Wörtern und Sätzen zusammen und gibst ihnen Sinn – oder fragst Dich, ob der vorliegende Text für Dich relevant ist. Währenddessen atmet Dein Körper automatisch. Du spürst, ob Du Hunger oder Durst hast und wie warm Dir ist. Du verjagst eine Fliege, filterst unterbewusst Nebengeräusche heraus, nimmst Gerüche wahr und musst Dich nicht darum kümmern, dass Deine Rückenmuskeln Dir beim Sitzen oder Aufstehen helfen. Dies alles geschieht nämlich ohne viel bewusstes Zutun.

Dein Gehirn hat also viele „Programme“ gleichzeitig „offen“ und lauter Prozesse parallel am Laufen35 – auch wenn nicht jeder Prozess auf Deinem Bildschirm angezeigt wird. Und jetzt überlege mal, was das für erlebnispädagogische Situationen bedeutet.

Im Folgenden werde ich ein paar interessante Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften knapp zusammenfassen und mit unserem erlebnispädagogischen Handeln verknüpfen. Ich werde den Gedanken stets eine These voranstellen – denn die interdisziplinäre Diskussion um neurophysiologische Ergebnisse und ihre pädagogischen Schlüsse ist noch weit davon entfernt, dass man sie als abgeschlossen bezeichnen kann. Schon jetzt möchte ich ankündigen, dass die meisten der hier aufgeführten Erkenntnisse in ihrer Verkürzung trivial anmuten, da sie weitgehend dem entsprechen, was wir Erlebnispädagogen bereits seit geraumer Zeit in unserer Praxis umzusetzen versuchen. Aber ein wenig Bestätigung ist doch auch mal ganz schön! Gleichzeitig muss betont werden, dass am Schluss keine Patentrezepte oder pädagogischen Konzepte stehen werden. Denn es ist eine mechanistische Annahme, dass wir nur den „richtigen Neuroknopf“ finden müssten, um unsere Intentionen in andere Menschen hinein zu transferieren. Alles, was wir vermögen, ist einen unterstützenden Rahmen zu schaffen, in dem Menschen ihre eigene Welt konstruieren und ggf. modifizieren. Daher wird auch dieses Kapitel nicht mehr sein als der Hinweis auf eine neue Fährte.

Wer sein Fachwissen im Bereich der Hirnforschung praxisorientiert vertiefen möchte, dem möchte ich – neben der im Anhang angegebenen Literatur von Hüther, Spitzer und Roth – insbesondere die Masterarbeit ➔ „Neurobiologisches Wissen für Kommunikationstrainings“ von Hannes Horngacher (Salzburg 2011, als E-Book erhältlich) sehr empfehlen! Einen aus neurodidaktischer Sicht hilfreichen Katalog für die pädagogische Praxis haben Heckmair und Michl in ihrem Buch „Von der Hand zum Hirn und zurück“ (Augsburg 2013) dargestellt.

These Nr. 1: Das (soziale) Gehirn ist entwicklungsfähig und formbar

Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:

Für uns sehr interessant ist das sog. ➔ „limbische System“, welches als Sitz des Psychischen gilt und für Gefühle, Motive, Ziele und die Bewertung von Handlungen und Ereignissen zuständig ist. Interessant ist, dass das limbische System tatsächlich maßgeblicher unser Handeln beeinflusst als jegliche in der Großhirnrinde produzierten „Vernunftsargumente“. Das limbische System hat quasi das erste und das letzte Wort bei Entscheidungen – der Einfluss der Ratio ist begrenzt. Das limbische System besteht nicht aus einem Hirnareal, sondern aus einem komplexen Netzwerk verschiedener Zentren. Es lässt sich in einen unteren, oberen und mittleren Teil unterscheiden. Die Areale, die zur unteren und mittleren Ebene des limbischen Systems gehören, sind zuständig für ➔ unbewusste Emotionen, Triebe und vegetative Funktionen – und entscheiden darüber, wie das Gehirn mit neuen, noch nicht bewussten Informationen umgehen soll. Bemerkenswert: Gerhard Roth merkt an, dass über den Hippocampus (s.o.) transportierte Geschehnisse durch bestimmte Teile des mittleren limbischen Systems und der ➔ Amygdala (= Areal, das an Angst, Abwehr, Aggression, Erregung und affektiven Zuständen beteiligt ist) emotional „eingefärbt“ werden würden – was einen Einfluss auf die Verankerung im Langzeitgedächtnis habe. Wenn man all diese komplexen Informationen zusammenfassen wollte, könnte man sagen, dass das untere und mittlere limbische System viel Einfluss darauf haben, welche Qualität eine Information bekommt und was anschließend mit der Information geschieht. Wie stark dies unser Leben beeinflusst wird daran ersichtlich, dass Prägungen und Erlebnisse der frühen Kindheit, welche unversprachlicht und unbewusst verarbeitet werden, sich ganz grundsätzlich auf unsere Persönlichkeit auswirken, etwa in unserem Bindungsverhalten. Teile der Großhirnrinde in Stirn- und Scheitellappen hingegen sind (je nach Auffassung)

Teil der „oberen“ limbischen Ebene bzw. interagieren mindestens sehr eng mit ihr. Die obere limbische Ebene ist die Ebene bewusster Gefühle und Motive sowie zugleich der Sozialisation und Erziehung. Interessant ist, dass hier auch ethisches und reflexives Ich enthalten sind. „Diese Ebene bildet sich langsam bis zum Erwachsenenalter hin aus und ist entsprechend leichter zu verändern, hat aber einen geringeren Einfluss auf unsere Persönlichkeit.“36

… und das bedeutet für die EP

Zunächst einmal: Menschen werden stark von unbewussten Anteilen und frühkindlichen Erfahrungen geprägt. Diese Prägung ist mitverantwortlich für bestimmte Selektionen und individuelle Interpretationen von Information: Der Grund, warum wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen und deuten, Gesagtes zwangsläufig nur gemäß unserer Sichtweise verstehen u.v.m. Wir können an diese prägenden, in der frühen Kindheit gemachten und unbewusst verarbeiteten Erfahrungen praktisch nicht herankommen. Dazu müssten sie versprachlicht werden können. Unbewusste Prägungen entziehen sich aber i.d.R. der Versprachlichung. Unbewusste Prägungen kann man auch nicht „löschen“ – maximal das daraus resultierende Verhalten kann „überlernt“ werden. Selbst Psychotherapie schafft „nur“ den Zugriff auf Vorbewusstes – was aber schon jede Menge ist! Dies bedeutet den Abschied von der Phantasie eines grundlegenden Wechsels des persönlichen „Betriebssystems“.

Dennoch: Soziales Lernen ist und bleibt sinnvoll. Denn wir können einen Zugang zu Ebenen schaffen, die für unter-/vorbewusst und bewusst erlebte Emotionen zuständig sind – auch und gerade mit Hilfe der Erlebnispädagogik. Wenn wir es schaffen, dass Emotionen bewusst erlebt und wahrgenommen werden – und wir via Reflexion sogar den Schritt der Versprachlichung schaffen (wodurch nochmal andere Gehirnareale aktiviert werden müssen) – dann können wir sehr begründet darauf hoffen, dass der erste Schritt neuer Verhaltens- und Sichtweisen von sozialem Miteinander gelungen ist. Dabei zu berücksichtigen: Bzgl. sozialer und kommunikativer Inhalte geht es nicht nur um Entwicklung neuer Verknüpfungen. Es geht auch um Wiederholung (= Verstärkung der neuen synaptischen Verschaltungen) und um die Anwendung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten.37 Das kennen wir als „Soziales Training.“ Dies braucht gehirnphysiologisch Zeit – was uns nochmals darauf hinweist, über die sinnvolle Mindestdauer erlebnispädagogischer Programme nachzudenken.38

These Nr. 2: Bedeutsame Erlebnisse sind wichtig für unsere Persönlichkeit

Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:

„Beim Einspeichern sind Gestalthaftigkeit (also klare Erkennbarkeit und Abgrenzbarkeit), Sinnhaftigkeit, die Anschlussfähigkeit an früher erlernte Inhalte, die emotionale Einfärbung und der emotionale Kontext wichtig, und je schwächer diese Faktoren ausgeprägt sind, desto schneller vergessen wir die Inhalte.“39 Es muss beachtet werden, dass das hier beschriebene „Einspeichern“ sich bei Roth zunächst einmal auf Wissensinhalte bezieht – nicht primär darauf, neue Verhaltensweisen in unser Selbstkonzept zu integrieren. Das Zitat kann m.E. dennoch übertragen werden, denn all diese Faktoren gelten beim Sozialen Lernen ebenso. Eine wichtige Rolle hierbei spielen das „episodische“ bzw. das mit ihm in Zusammenhang stehende „autobiographische Gedächtnis“. Das sogenannte „episodische Gedächtnis“ wird von Hippocampus, Stirn- und Temporallappen (= Teile des oberen limbischen Systems) sowie der Amygdala und Teilen des mittleren limbischen Systems gebildet bzw. beeinflusst. (Man nimmt an, dass der Hippocampus für die Erinnerungen von Details, die Amygdala und das mittlere limbische System für die emotionale Färbung zuständig sind.40) Mit Hilfe des episodischen Gedächtnisses werden vergangene Ereignisse und Erfahrungen im Zusammenhang mit bestimmten Kontexten gespeichert, erinnert und abgerufen – sowie mögliche zukünftige Erfahrungen erdacht. Es gibt unterschiedliche Meinungen über Stärke und Dauer der episodischen Gedächtnisleistung. Damit eine Erfahrung autobiographisch relevant wird (das sog. ➔ „autobiographische Gedächtnis“ wird dem episodischen Gedächtnis zugeordnet) und dies auch langfristig bleibt, bedarf sie der Bedeutungsgebung durch das Individuum. Hierbei kann jegliche Form der Reflexion eine unterstützende Rolle spielen. Das o.g. Problem der Enkodierungsspezifität von Erlebnissen darf nicht zu schwarz-weiß betrachtet werden. Denn die gute Nachricht lautet: Hinweisreize (sog. ➔ „Cues“) triggern die Erinnerung – und die besten „Cues“ kommen von innen! „Können Informationen auf Aspekte des eigenen Selbst bezogen werden, ist die Erinnerung besser, als wenn Informationen mit Aspekten anderer Personen oder Objekte in Beziehung gesetzt werden. Die Cues erweisen sich als Elemente eines dynamischen, autoreferenten und wahrnehmungsabhängigen Triggersystems. Autoreferent: Episoden triggern Episoden und lösen Assoziationskaskaden aus. Aktuell erlebte Episoden und Erlebnisse der Vergangenheit gehorchen nicht der linearen Chronologie. Ordnende Funktion hat die emotionale Hierarchie der Erlebnisse, wobei die Skala von beiläufig emotional geprägten Episoden bis hin zu biographischen Schlüsselerlebnissen reicht.“41

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