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Im Reiche des silbernen Löwen IV
Hier ließ der Ustad eine weitere Pause eintreten. Ich war ihm mit großem Interesse gefolgt. Nun fühlte ich eine Lücke in seiner Darstellung. Darum fragte ich:
»Aber alle die Unzähligen, welche Einlaß bekommen haben? Sie können dir doch nicht so einzeln erschienen und gleich wieder verschwunden sein!«
»Nein,« antwortete er. »Ich kann sie dir leider nicht ersparen. Meinst du vielleicht, dieses Paradies sei von einer himmlisch friedfertigen, sich gegenseitig liebenden und stützenden Bevölkerung bewohnt? Glaubst du, dorteinen Hirten und eine Herde zu finden? Ich kenne so gut wie du das verheißende Wort: »Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das wird von Gott bereitet denen, die ihn lieben.« Welche unbeschreiblichen Glückseligkeiten aber waren es, welche ich zu sehen und zu hören bekam? Höre und staune! Hast du schon einmal vernommen, daß es unter den wilden Tieren welche giebt, die sich von ihresgleichen zurückgezogen haben und sie so grimmig hassen, daß sie jedes, welches in ihren Bereich kommt, sofort zerreißen oder sonst vernichten?«
»Ja. Dies ist besonders bei den Elefanten, Nashörnern, Löwen, Tigern und andern Raubtieren der Fall. Man pflegt solche Exemplare »Einsiedler« zu nennen.«
»Nun, so wisse, daß es in diesem Himmel keine andern Bewohner als nur solche »Exemplare« giebt! Sie wohnen nicht zusammen, sondern als Einsiedler, weil keiner dem andern traut. Jeder ist an einer besondern Kluft oder Höhle von seinem Esel oder Kamele gestiegen. Dort wohnt er nun und verteidigt sie bis auf das Blut gegen jeden, der nicht seiner Meinung über den Himmel ist. Da es aber der Meinungen so viele und so verschiedene giebt, wie Individuen vorhanden sind, so herrscht zwischen ihnen allen eine Feindseligkeit, vor welcher wir selbst im Erdenleben erzittern würden. Jede Kluft und jede Höhle ist ein Götzentempel, in welcher der Bewohner sich selbst als seinen eigenen Fetisch verehrt. Er behauptet zwar, Gott anzubeten, zwingt aber diesem Gott seine eigenen Gedanken auf und setzt sich also über ihn. Die Folge dieser Selbstübergötterung ist, daß sich keiner dieser Götter an den andern wagt, weil er sonst von ihm herausgebissen wird. Das, Effendi, das ist dieser Himmel! Ueber ihm brennt die ewig glühende Sonne der alles verdorrenden Selbstgerechtigkeit, die auf Raub ausgeht wie jener listige Fuchs und jene heimtückische Hyäne, welche selbst hier im Paradiese nur niedere Lurche oder erdfarbige Kerbtiere zum Fressen finden. Wie froh war ich, als ich meine Wanderung vollendet hatte! Ich fühlte mich wahrhaft selig, diese falsche Seligkeit verlassen zu können. Als ich das Thor wieder erreichte, warfen uns die dort stehenden Esel und Kamele Blicke des unendlichsten Neides zu, daß wir es uns gestatten durften, dieses entsetzliche Elend zu verlassen. Die Pächter aber strömten herbei, um mich ihr Paradies preisen zu hören. Ich teilte ihnen aber mit, daß ich den Menschen die volle Wahrheit sagen werde. Da erhoben sie ein lautes Wutgeschrei. Im Baume El Dscharanil begann es zu rauschen. Alle seine Augen waren drohend auf mich gerichtet. Die Köpfe schüttelten sich, und von den Lippen ertönte ein Geheul, daß das Seil El Milal vor mir zersprang. Die Esel und Kamele jenseits des Thores stimmten jammernd ein. Ich aber ritt davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen, gleichviel, ob ich für feig gehalten wurde oder nicht. Wer sich aus einem solchen Himmel herauszuretten weiß, der muß wohl Mut besitzen!«
Er schlug bei diesen Worten die Hände zusammen, als ob er jetzt noch froh über diesen glücklichen Ausgang sei. Hierauf ging er einige Male in langsamen Schritten durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und fragte:
»Hast du jemals geahnt, daß es so ein Paradies giebt, Effendi?«
»Es giebt dieser Paradiese viele,« antwortete ich, mein Auge zu ihm erhebend. »Warum hast du damals nach keinem anderen gesucht?«
»Welche Frage! Ich verstehe dich nicht!«
»Du erzähltest mir ja, daß du vom Dschebel Din herab in ebenes Menschenland gekommen seist. Warum hast du deinen »Berg des Glaubens« überhaupt verlassen? Mußtest du das? Und wenn du es mußtest oder wolltest, was bewog dich da, das geistige Tiefland, die Ebene, die Wüste aufzusuchen, wo kein Gedanke in die Höhe strebt, sondern nur darnach, sich über die Fläche auszubreiten?«
»Maschallah!« rief er erstaunt aus. »So, also so betrachtest du das, was ich erzählte?«
»Natürlich! Wie anders denn?«
»Ich habe von Menschen gesprochen!«
»Gewiß! Aber besteht der Mensch nur aus seinem Körper? Sprechen wir einmal nicht von der Seele, sondern sagen wir, daß der Mensch aus Leib und Geist bestehe. Der Leib wird sterben, der Geist aber nicht. So lange wir sowohl auf den Körper als auch auf den Geist Rücksicht nehmen, leben wir das wohlbekannte Erdenleben, welches ich als »das erste« bezeichnen will. Wer aber so stark gewesen ist, alle Rücksicht auf den Leib und seinen Zusammenhang mit dem Menschheitskörper zu überwinden und hinter sich zu werfen und sich nur noch als Geist zu betrachten, während der Leib für ihn gestorben ist, der lebt schon hier vor der Auflösung dieses letzteren ein anderes, neues, höheres Leben, welches ich einstweilen, aber auch nur einstweilen »das zweite« nennen will. Denn es giebt Menschen, deren Geist sich nicht zur Individualität gestaltet. Wenn diese Stufe für mich auch ein Leben ist, so muß ich sie das »erste« Leben nennen und die vorhin erwähnten beiden Stufen als »zweites« und »drittes Leben« bezeichnen. Nun sage mir, o Ustad, von welcher dieser Stufen aus, auf der du dich befindest, hast du mir jetzt soeben den allerniedrigsten Himmel beschrieben, den ich mir nur denken kann? Ich wollte, ich dürfte dir einmal einen andern Himmel, vielleicht den meinigen, beschreiben!«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja. Ganz so, wie du den von dir beschriebenen! Vor meinem Himmel giebt es kein Seil El Milal, keinen Baum El Dscharanil und keine Wandmalereien. Ihn hat sich auch kein Pächter angemaßt, und an der Straße, die zu ihm führt, stehen keine Götzenhäuser. Auch giebt es keine Mauer und kein Thor. Es führen so viel Wege hinein, wie es Menschen giebt. Er steht ihnen allen offen, wenn sie nur kommen wollen. In diesem meinem Gedankenparadiese ist nichts versunken, vernichtet und vergessen. Da ragen die Gottesideen vergangener Jahrtausende noch so hoch wie damals im Morgenrot empor. Und in der Abendröte erglänzen die neuen, hohen Ideale zukünftiger Jahrhunderte, um zu Wirklichkeiten zu werden, wenn die Menschheit morgen oder übermorgen sagt:
Was sprachst du von Ruinen und Gräberfeldern? Dem Geiste sind sie unbekannt! Was er einst mit der Hand des Körpers baute, war für den Körper, aber nicht für ihn. Es war ja nur das Erdenabbild dessen, was er für sich im Geisterreich gebaut. Und dieser hochgelegene Bau ist ewig. Sein Abbild mag zerfallen, das Urbild aber trifft kein Zahn der Erdenzeit. Wenn du mit deinen körperlichen Augen dein Paradies in Trümmern und im Tode liegen sahst, so breitet sich in Himmelshöhe über ihm das meine aus, und alles, was bei dir in Schutt zerfallen ist, das blieb im Originale des Meisters mir erhalten. Und so, wie jedes Werk in meinem Himmel edler ist als in dem deinigen, so sind auch alle Menschen besser als die deinen. Du richtest sie. Ich habe nichts zu richten. Vielleicht verzeihst du ihnen. Doch ich verzeihe nicht. Warum? Man hat mir nichts gethan! Vor meinem Paradiese steht jede Feindschaft still. Sie wagt sich nicht herein. Und weil sie mich also nicht treffen kann, so giebt es für mich nichts, was ich verzeihen dürfte, so gern ich es auch möchte.«
»So hat es ganz gewiß den Baum El Dscharanil für dich niemals gegeben!«
»Ich kenne ihn! Du hast ihn an das Paradies der Selbstgerechtigkeit gesetzt; das heißt, an seine rechte Stelle. Auch ich habe ihn dort stehen sehen, diesen Baum der sehenden und sprechenden Blätter, der Zeitungen, der öffentlichen Presse. Doch schaute ich ihn anders an als du. Das Reich des Geistes hat die größte Aehnlichkeit mit dem Reiche der sichtbaren Natur. Es giebt hier wie dort keine Entwicklung, die nicht von unten nach oben zu gehen hätte. Ihre Aufgabe ist die Trennung von der niederen Materie und die Gestaltung zum selbständigen, sich frei bewegenden Einzelwesen. Lächle nicht, wenn ich dir sage, daß jedes, aber auch jedes geistige Gebiet sein Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich besitzt! – Du wirst das sofort und überall erkennen, wenn du nur die richtigen Augen dafür öffnest.«
»Also auch das Gebiet der öffentlichen Presse?« fragte er schnell, indem sein Gesicht den Ausdruck gespannter Erwartung annahm.
»Ja, auch dieses! Der Boden, also die Materie ist gegeben. Es existiert keine Felsen- oder Gesteinsformation und keine Erdbeschaffenheit, die nicht auch hier in diesem geistigen Reiche vorhanden wäre. Oder hörst du nicht die sogenannte öffentliche Stimme von den Spitzen hoher Berge, aus den tiefsten Thälern, aus finstern Schluchten, aus sandiger Oede, auf sonniger Flur und aber auch aus häßlichen Sümpfen erklingen? Giebt es nicht zahllose Blätter, in denen nur die Materie zu sprechen hat und nur der Stoff zum Worte kommt? Aber bald regt sich das Leben, zunächst das niedrige, welches durch sämtliche Ordnungen zu steigen hat, um sich von dem Stoffe zu erlösen. Du siehst geistige Flechten und Moose erscheinen, dann Farne, deren Gestalt auf spätere Palmen hoffen läßt, freundliche Gräser und Kräuter, duftend blühende Sträucher und früchtetragende Bäume. Diese alle aber, so lieb, so gut, so nützlich sie auch sein mögen, sie haben es doch nicht vermocht, den Boden zu verlassen, auf dem das Blatt, die Zeitung, gegründet worden war. Sie klammern sich mit ihren Wurzeln in ihm fest und müssen das ja auch thun, weil es die Absicht des Verlegers ist, grad diesen Boden für sich zu kultivieren.«
»Und aber die Zoologie der Presse?« fragte der Ustad.
»Sie kann und darf nicht fehlen, denn nur in ihren Erscheinungen schreitet die Befreiung von der Materie in rapider Weise fort. Auch hier beginnt die Entwicklung mit den niederen Lebewesen. Ich sehe winzige Goldkäferchen ihre geistige Nahrung aus Blumenkelchen ziehen und leuchtende Glühflügler um urweltliche Gedanken schwirren. Freundliche Schmetterlinge gaukeln von Leserin zu Leserin. Ein niemals ruhender Ameisenfluß trägt Wort um Wort und Satz um Satz zusammen, und Bienen summen überall, um Honig heimzutragen. In den Quellen und Bächen der Tagesereignisse schießen schnelle Flossenträger hin und her. Und wenn nun gar beim Morgen- oder Abendsonnenschein des Frühlings Odem durch die Blätter weht, da erzählen tausend süße, frohe Stimmen, daß grad die liebsten und die besten Sänger zur oft verkannten »Feder«-Welt gehören! Ich kenne manchen edlen Geist, der wie in Adlersferne hoch über der Gemeinheit horstet, und manchen scharfen Denker, der, gleich dem Albatros, den Staub der Erde nie berührt. Ist dir der Ackergaul bekannt, der für wenig Hafer, aber viel Häcksel täglich seine Furchenzeilen zu ziehen und sich am Ende jeder Reihe wieder umzudrehen hat, damit er ja nicht etwa auf fremde Gedanken komme?«
»Ich habe ihn gesehen, wie oft, wie oft!« antwortete er. »Aber du hast deine Beispiele nur von der einen, von der guten Seite genommen; der Ackergaul bringt mich auf die andere hinüber. Du warst so aufrichtig, auch von Sümpfen zu sprechen. Warum hast du die Giftpflanzen, die Dornen, Quecken und anderen Wucherungen nicht erwähnt? Das Ungeziefer unter den Insekten? Die Raubfische? – Die täglich auf den Blättern ihrer Schlammpflanzen nur von ihrer eigenen Weisheit quakenden Frösche? Die Giftschlangen? Die lästigen Sperlinge? Die Käuze und Eulen, deren lichtscheuer Mordhunger nur des Nachts auf Beute ausgeht? Die aaslüsternen Geier? Die Neuntöter, welche ihre Opfer erst am Stachel quälen, ehe sie verschlungen werden? Die Falken und Stößer, die sich selbst am hellen Tag nicht scheuen, auf Fraß auszugehen. Die Mäuse, Ratten, Hamster und anderen Schmarotzer auf geistigem Gebiet? Die kläffenden oder gar bissigen Hunde, die jedem in die Waden fahren, der es wagt, an einem ihrer Gedanken auch nur vorüberzugehen? Die ganze Unzahl der reißenden Fleischfresser, die Jeden, der nicht ganz vollständig ihresgleichen ist, mit ihren Klauen packen? Die große Schar der kreischenden Quadrumanen, von der zänkischen und rachsüchtigen Meerkatze bis zum menschengefährlichen Gorilla hinauf? Warum hast du nicht von ihnen gesprochen? Soll ich dir zutrauen, daß du beschönigen willst?«
»Das liegt mir fern. Wir sprechen ja von deinem und von meinem Gedankenparadiese. Das deinige ist traurig, das meine ideal. Die gegenwärtige Wahrheit wird zwischen beiden liegen, muß aber nach ewig geltenden Gesetzen nicht deiner Wüste, sondern meinem Eden immer näher kommen. Wir addieren leider auf ganz verschiedene Weise. Dein Pessimismus zieht nach altem Brauche die Summe, indem er abwärts rechnet. Mein Optimismus aber hat gefunden, daß es besser sei, aufwärts zu gehen. Du bist, unten angekommen, mit deinem Leben fertig. Du machst den großen Strich und schreibst als die so erreichte Summe deine kahle Geisteswüste hin. Bei mir aber giebt es oben keinen Strich, denn mein Paradies sendet mir ununterbrochen neue Summanden hinzu. Sie wachsen in die Ewigkeit hinauf.
Und wenn mein Körper dieser Rechnungsweise nicht mehr folgen kann, so wird mein Geist dort einst gewiß die Summe finden.«
Er trat an das offene Fenster und schaute hinaus.
»– – – dort einst gewiß die Summe finden!« wiederholte er meine Worte.
Es war für einige Zeit still zwischen uns. Ich störte ihn nicht. Dann drehte er sich zu mir um und fragte:
»Bist du mit deinen geistigen Naturreichen der Presse schon zu Ende, Effendi?«
»Nein,« sagte ich.
»Du gingst auch hier von unten nach oben. Das scheint bei dir in allen Dingen der Fall zu sein! Kommt jetzt nun noch der Mensch?«
»Ja. Im Tiere hat sich die Befreiung vom geistigen Erdboden vollzogen, und das Streben nach der Individualität tritt immer mehr hervor. Doch erreicht kann diese letztere nur vom Menschen werden.«
»Von allen?«
»Nein. Sie sollte es, wird es aber leider nicht. Es giebt so viele, welche entweder durch tausend Rücksichten aller Art noch mit dem Boden in Verbindung bleiben, oder sich durch ganz dieselben und ähnliche Bedenken derart von andern beeinflussen lassen, daß sie es nicht zur intellektuellen Selbständigkeit, zur geistigen Freiheit, zur vollen Selbstbestimmung und Selbstbewegung bringen. Tritt in die Redaktionen, und frage, welche Rücksichten die dort bestimmenden und doch so angefesselten Geister zu nehmen haben! Aber ich habe auch vollendete Persönlichkeiten gefunden, zuweilen da, wo ich es gar nicht erwartete. Wie groß war da meine Freude! Und wie gern und aufrichtig habe ich ihnen meine Anerkennung gezollt! Ein solcher Geist weiß nichts von materiellen Banden. Er hat alle Fesseln zerrissen und sie der menschlichen Selbstsucht und geistigen Kurzsichtigkeit vor die Füße geworfen. Er kennt weder Parteiinteressen noch gesellschaftliche Sondergefälligkeiten. Für ihn giebt es keine Körper, sondern nur noch Geister. Darum wird er nie ein Urteil fällen, welches aus niedrigen Erwägungen gezogen ist und mit den auf ihn gerichteten Blicken der Körperwelt liebäugelt. Es kann ihm niemals beikommen, auch nur einen einzigen Menschen zu verdammen, denn er weiß, daß dieser Mensch, geistig betrachtet, ein ganz anderer ist, als ihn die gehässigen Augen der Fama sehen, die ihre Richtersprüche nur im Erdenschmutze züchtet. Er hat den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen begriffen und weiß, daß der Erstere nicht aus dem Letzteren gerissen werden kann, um ausgestoßen und von der geistigen Feindseligkeit abgethan zu werden. Er kennt die Strömungen und Gegenströmungen der übersinnlichen Atmosphäre, die frei von den Ausdünstungen egokranker Menschenkörper sind, und hebt jeden seiner Nächsten, bevor er ihn betrachtet, zu dieser durchsichtig klaren, reinen, keine Mißgunst kennenden Höhe empor.«
»Aber was dann, wenn es geschieht, daß er selbst einmal angegriffen, befeindet, verleumdet und verurteilt wird?« fragte der Ustad.
»So thut er eben das, was ich jetzt sagte: Er hebt die Angreifer aus ihrer Tiefe zu sich empor, um sie zu durchschauen. Da fällt der ganze Schmutz und alles, was sie sonst noch gewichtig gemacht hat, von ihnen ab. Sie werden leicht, so über oder vielmehr unter alle Maßen leicht, daß sie vor seinen Augen nach und nach in nichts zerfließen. Sie sind ja ganz nur Schmutz und ohne jede Spur von Geist gewesen, und so versteht es sich ja ganz von selbst, daß, sobald der Unflat abgefallen ist, für ihn von ihrer ganzen Existenz nichts mehr vorhanden sein kann.«
»Aber er wird doch antworten? Sich verteidigen?«
»Welch eine Frage! Ich habe dir doch soeben gesagt, daß sie für ihn in Nichts zerflossen seien. Wem soll er antworten? Diesem Nichts? Das wäre ja doch Widersinn! Oder dem Schmutze? Der geht ihn gar nichts an. Er ist der ihrige! Dem Geiste, den es bei ihnen gar nicht giebt? Ich begreife dich nicht! Würdest etwa du antworten?«
Da that er einige rasche Schritte auf mich zu und rief aus:
»Effendi, ich habe es gethan. Ich habe geantwortet – – – leider, leider, leider!«
»Dem Schmutze?«
»Ja.«
»Dem Nichts?«
»Nein. Ich stand ja, wie ich jetzt, erst jetzt einsehe, nicht so hoch über meinen Feinden, daß sie mir in ein Nichts zerfließen mußten. Und nun erkenne ich, daß auch ich nicht frei von Schmutz gewesen sein kann. Denn hätte er nicht auch an mir gehaftet, so wäre mein Verhalten ganz das jenes hohen, freien Geistes gewesen, von welchem du gesprochen hast. Mir scheint, ich habe Fehler einzugestehen, die mir bis zur gegenwärtigen Stunde keinesweges als Fehler erschienen sind. Du hast heut da drüben bei unserm Beit-y-Chodeh dem Pedehr gebeichtet. Ich war tief im Herzen gerührt davon. Deine mutvolle Aufrichtigkeit imponierte mir. Nun bist du rein und frei von allem, was dir angehangen hat. Ich glaubte nicht, daß auch ich mich zu reinigen haben werde. Jetzt aber weiß ich, daß es doch so ist. Ich werde denselben Mut besitzen, den du besessen hast. Auch ich werde beichten, dir, wie du dem Pedehr. Und wenn ich dann aus deinem Munde höre, daß mir verziehen werden könne, so werde ich mich für berechtigt halten dürfen, diese Verzeihung als ausgesprochen, als geschehen anzunehmen. Ich war über das hinaus, was du das »erste Leben« nanntest. Ich stand im »zweiten Leben«, denn ich fühlte, daß sich meine geistige Individualität in mir gestalten wollte. Aber es gelang mir nicht, das »dritte« zu erreichen. Warum? Wir werden nach den Gründen suchen, du und ich. Und ich ahne, daß ich in diesen Gründen meine mir bisher unbekannten Fehler entdecken werde.«
Als er bis hierher gekommen war, hörten wir, daß unten auf dem Vorplatze jemand dreimal in die Hände klatschte.
»Das gilt mir,« sagte er. »Der Pedehr weiß, wo ich bin und daß niemand zu uns kommen darf. Ich habe mit ihm, falls man meiner bedürfen sollte, dieses Zeichen verabredet!«
Er begab sich durch das Mittelzimmer auf das Vordach. Ich hörte ihn hinuntersprechen. Dann kehrte er zu mir zurück und sagte:
»Ich soll zum Pedehr hinabkommen und auch dich mitbringen. Es scheint sich um etwas Wichtiges zu handeln.«
»Was es ist, hat man dir nicht gesagt?«
»Nein. Ich fragte zwar, doch der Pedehr antwortete, er dürfe es mir nicht laut heraufrufen. Komm!«
Wir gingen hinunter. Der Pedehr befand sich in der Halle, in welcher ich gelegen hatte. Tifl und ein zweiter Dschamiki waren bei ihm. In dem letzteren erkannte ich den Wächter, welcher heut am Nachmittage über Stock und Stein geritten war, um uns die Ankunft der Perser zu melden. Halef schlief fest. Hanneh war auch schlafen gegangen. Sein Sohn saß bei ihm. Der Scheik der Dschamikun empfing uns mit der des Kranken wegen nur halblaut gesprochenen, aber sehr wichtigen Kunde:
»Der Bluträcher ist wieder da!«
»Wo?« fragte der Ustad im Tone der Ueberraschung.
»Das wissen wir nicht.«
»Wer hat ihn gesehen?«
»Mein Sohn,« antwortete der Wächter.
»Hat er sich nicht etwa getäuscht?«
»Nein. Er kennt ihn ja. Er hat ihn doch heute am Nachmittage durch den ganzen Duar bis an unser Gotteshaus geführt und ihn also genau betrachten können.«
»Wo ist dein Sohn?«
»Ich habe ihn mitgebracht. Er wartet draußen vor den Stufen.«
»Hole ihn!«
Ich ahnte natürlich sofort, daß irgendeine Teufelei geplant werde, und war höchst gespannt darauf, ob es uns wohl gelingen werde, zu erfahren, welcher Art sie sei. Natürlich durfte ich mir nicht erlauben, den beiden Oberhäuptern des Stammes in Beziehung auf die einzuziehenden Erkundigungen vorzugreifen. Der Sohn des Wächters hatte ein intelligentes Gesicht. Er sah sogar etwas wie pfiffig aus. Er kam mit seinem Vater bis vor den Ustad hin.
»Du hast den Bluträcher gesehen?« frage ihn dieser.
»Ja,« bestätigte der Gefragte.
»War er allein?«
»Nein. Es befanden sich noch zwei andere bei ihm.«
»Woher kamen sie?«
»Von draußen.«
»Wo sind sie hin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch wohl hierher?«
»Wahrscheinlich.«
»Geritten?«
»Nein. Sie waren abgestiegen.«
Da sah der Ustad den Pedehr an, und dieser mich. Dabei sagte der letztere:
»Das ist eine ebenso unerwartete wie geheimnisvolle und bedenkliche Kunde! Was meinst du dazu, Effendi?«
»Erlaubt Ihr mir, einige Fragen auszusprechen?« erwiderte ich ihm.
»Natürlich!«
»Ich hörte, daß ein Handelsmann aus Isphahan hier angekommen sei und eine Botschaft von dem Bluträcher ausgerichtet habe. Wo ist dieser Mann?«
»Er wird nun wohl schon schlafen,« antwortete der Pedehr. »Soll ich ihn vielleicht wecken lassen?«
»Das ist nur dann nötig, wenn Ihr mir nicht sagen könnt, was ich von ihm wissen will. Woher kam er?«
»Von den nördlichen Dschamikun. Er traf mit den Persern auf der Höhe des Passes zusammen.«
»Wie verhielten sie sich zu ihm?«
»Weder freundlich noch feindlich. Sie kennen ihn. Sie fragten ihn, woher er käme und wohin er wolle. Er antwortete, daß er nach Süden zu den Kalhuran wolle. Da sagten sie ihm, daß er hierher reiten solle, um ein gutes Geschäft zu machen. Es sei ein großes Wettrennen geplant, zu welchem sich viele Menschen einstellen würden. Wenn er da sein Handelszelt aufschlage, werde er wohl viele Käufer finden. Er war ihnen für diese Mitteilung sehr dankbar und sagte ihnen, daß er ihrem Rate folgen und hierherreiten werde. Da bekam er von dem Multasim den Auftrag, den er uns ausgerichtet hat.«
»Wie lautete diese Botschaft?«
»Sie war höchst eigentümlich, uns allen unverständlich. Nämlich zwei Zeilen aus dem heute von uns gesungenen Liede: »Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, in der sich alle Düfte regen!« Und hinzugefügt hatte der Bluträcher: »Sage im Duar, daß die Rose noch heut aufbrechen werde!« Ist das nicht sonderbar, Effendi?«
»Allerdings, aber nur in dem Sinne, daß überhaupt jede Unvorsichtigkeit sonderbar genannt werden muß.«
»Unvorsichtigkeit?« fragte er erstaunt.
»Ja.«
»Das begreife ich nicht. Wir haben diese Worte als einen nachträglichen Hohn gedeutet und uns dabei beruhigt.«
»Ich wollte, Ihr hättet sie mir eher mitgeteilt als jetzt! Es liegt wahrscheinlich ein Mordanschlag vor.«
»Chodeh!« fuhr der Pedehr auf, und auch die andern zeigten sich durch diese meine Deutung erschreckt. »Gegen wen?«
»Gegen mich.«
»Unmöglich!«
»Ich habe gesagt, wahrscheinlich. Und ich pflege zu wissen, was ich sage. Das betreffende Lied vergleicht Rose und Herz. Mit diesem Herzen aber ist das meinige gemeint. Wörtlich mein Herz! Es soll aufgebrochen werden! Mit dem scharfen, spitzen Stahle!«
»Aus welchem Grunde kommst grad du auf diese Idee?«
»Davon vielleicht später! Ich habe jetzt zu fragen und zu handeln. Der Bluträcher hat uns nicht für klug genug gehalten, ihn zu durchschauen. In ihm wohnt der Haß, und dieser ist bekanntlich der Bruder der Unvorsichtigkeit und Ueberhebung. Er hat später damit prahlen wollen, daß sein blutiges Werk gelungen sei, obgleich er uns vorher gewarnt habe.«
Hierauf wendete ich mich zu dem jungen Dschamiki und fragte ihn:
»Wo warst du, als du den Multasim sahst?«
»Draußen vor dem Duar,« antwortete er. »Ich hatte die Schafe in den Pferch gebracht und mich hinter einem Steine niedergelegt, um nach dem Alabasterzelte hinaufzuschauen. Man konnte mich vom Wege aus nicht sehen. Da kamen vier Reiter von Osten her. Sie blieben in der Nähe stehen und stiegen ab.«
»Drei waren es doch!«
»Diese drei, welche ich meinte, schlichen nach dem Duar. Der vierte blieb bei den Pferden.«
»Du erkanntest den Multasim?«
»Ganz deutlich. Er war einer von den dreien.«
»Was für Waffen hatten diese letzteren?«