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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Da tritt erschüttert der Garde herein: »Ich kann euch die Untersuchung erleichtern. Keiner von denen, die ihr verhört habt, hat den Bären angezündet. Das hat ein Vater für sein Kind gethan. Ich sage es euch im Auftrage des Presi Peter Waldisch, der soeben gestorben ist.«
O, die da sitzen und die Not eines Dorfes schreiben, sie haben den Presi schon gekannt, den gewaltthätigen Mann, der, die anderen alle um Haupteslänge überragend, nie klein gewesen in seinem Zorn, aber auch so groß in seiner Liebe, daß ihm die That wohl zuzutrauen ist.
Sie sprechen bewegt: »Immer war er der Presi – sich selbst getreu bis in den Tod – in der Enge der Berge, wo der gewaltige Mann überall anstieß, hat er werden müssen, wie er war – in der Welt aber wäre er nach Kopf und Herz ein Großer geworden – denn Kernholz, aus dem das Volk seine starken Führer schnitzt, war an ihm von der Sohle bis zum Scheitel.«Während sie noch flüsternd dem toten Presi ihr Kränzlein winden, tritt Josi Blatter an den Tisch und wünscht wegen Thöni Grieg verhört zu werden. Ruhig und fest erzählt er den Hergang im Teufelsgarten, ruhig und fest antwortet er auf die Kreuz- und Querfragen, die Gesichter der Untersuchenden, die zuerst wohlwollend auf den Helden der heligen Wasser blickten, werden ernst. Die Darstellung klingt unglaubwürdig.
»Ihr besteht darauf, daß es nicht Totschlag in Notwehr war?«
»Ich bestehe darauf.«
»Ihr habt das Werk an den Weißen Brettern nicht zur Sühne gebaut?«
»Nein, meiner Braut Binia Waldisch zu Ehren.«
»Ihr verzichtet auf die altgebräuchliche Rechtswohlthat, die seit Matthys Jul denen zugebilligt wird, die für die heligen Wasser an die Weißen Bretter steigen?«
»Ich verzichte!«
Josi steht – es geht nicht anders – unter der Anklage, in Notwehr Thöni Grieg erschlagen zu haben – aber wenigstens so hart sind die Männer des Gerichtes nicht, daß sie ihm eine Haft auferlegen. Sein Ehrenwort, sich der Untersuchung immer zur Verfügung zu halten, genügt.
Kaplan Johannes ist nicht zurückgekehrt. Von seinen eigenen Anhängern zuletzt in die Enge getrieben, hat er sich auf die Felsen geflüchtet, die vom Neuschnee schlüpfrig waren, er ist gestürzt und erst im Frühjahr hat man seinen zerschmetterten Leichnam in einem Abgrund gefunden.
Während der Untersuchung über die Vorfälle in St. Peter, die mehrere Tage in Anspruch nimmt, ist der alte Pfarrer zurückgekommen und hat seine Siegel von der Kirche genommen. St. Peter kann seine Toten begraben, heute in aller Stille Thöni Grieg, morgen in herzlicher Trauer den Presi, der den Dörflern nie bewunderungswürdiger schien als in seinem Tod. Man hat die Kreuze und Scheiter des Kirchhofs gesammelt und wieder in die Gräber gesteckt. Der Pfarrer hat sie neu geweiht, und wie nun die Glocken zum Begräbnis des Presi wieder erklingen, da geht ein aufschluchzendes Weinen der Zerknirschung, doch auch neue Lebenshoffnung durch das Dorf.
Am Schluß der Grabpredigt sagt der alte Pfarrer: »Ich weiß, daß auch ich schuldig bin und euch nicht hätte verlassen sollen, und vor den Behörden der Kirche will ich für euch um ein gnädiges Urteil bitten. Ich lasse euch als Vermächtnis meiner Amtsthätigkeit, die ich niederlege, die Schlüssel zum Gotteshaus und den Glocken zurück. Hoffentlich für ewig. – Eine junge starke Kraft möge euch besser führen, als es mir altem kraftlosen Manne gelungen ist!« – –
Langsam schreitet der Prozeß, es ist, als könne sich das arme Dorf nicht mehr erheben aus seiner Schande, als müsse es daran zu Grunde gehen.
Wie aber vor dem Volk des Berglandes die Gestalten Josi Blatters und Thöni Griegs durch die Untersuchung in immer schärferen Umrissen erscheinen, wie der gefälschte Brief Thönis bekannt wird, wie man den Leidensgang und die hohe Treue der Liebenden erfährt, da fliegen ihnen alle Herzen zu, der gerechte Sinn des Volkes erwacht. »Selbst wenn er eine That des Zornes begangen hätte,« spricht das Volk, »müßte er freigesprochen werden, sie wäre Gottes Gericht über den Schuft.« Es ist aber keine That des Zornes geschehen. – Und für Josi und Binia spricht mit glühendem Feuer der Garde, der Ehrenmann des Dorfes, der in aller Verwirrung wie ein Fels des Rechtes dagestanden ist.
Tausend Umstände zeugen für das Paar.
Im Winter noch steigt Josi ein paarmal zu seinem Werk empor, prüft es, vollendet noch da und dort etwas – sobald er aber das gerichtliche Verfahren hinter sich hat, will er mit Binia über das Meer ziehen und in einem fernen Erdenwinkel Glück und Vergessen suchen.
Eines Tages aber erhält er den Besuch seines Freundes Felix Indergand. Der spricht nicht mehr von Beate, dagegen redet er Josi herzlich zu: »Ziehe nicht fort, Josi! – Siehe, wer zwischen den Bergen geboren ist, findet nur zwischen den Bergen das volle Lebensglück. Wir beide haben es erfahren, wie öde und leer das Herz in der Fremde bleibt, das deckt alle Liebe nicht zu. Thue es deiner herrlichen Braut nicht an, das Bergkind würde in der Ferne rasch welken. Komm, wenn du doch nicht zu St. Peter bleiben magst, zu uns ins grüne Oberland, ich will ein Gütchen für dich erhandeln. Dort lebe in meiner Nähe und sei glücklich mit deinem Weib.«
Josi geht die warme Rede seines Freundes zu Herzen – er willigt ein.
Endlich, wie schon die ersten Frühlingsblumen blühen, ist der Gerichtstag für ihn und die von St. Peter da, das Landvolk ist wie an einem Markttag auf der Fahrt in die Stadt.
Die Tribünen des Gerichtssaales sind gefüllt und zweimal entsteht eine mächtige Bewegung unter den Zuschauern. Das erste Mal, wie eine hoheitsvolle jugendliche Gestalt in tiefer Trauer als Zeugin vor die Schranken tritt. Manchmal, wenn ihre Liebe zu Josi vor der Menge zur Sprache kommt, erbebt sie, Blutwelle um Blutwelle geht über das seine Gesicht und hilflos fragt sie: »Ja, muß ich das auch sagen?« Auf manche harmlose Fragen antwortet sie in so heißer Scham, dann mit einem blitzenden Wahrheitsmut, daß die Schauer der Ergriffenheit durch den Zuschauerraum gehen.
»Der Garde von St. Peter hat recht,« flüstert sich die Menge zu, »Binia Waldisch kann keine Unwahrheit sagen!«
Und dann, wie ein eben eingetroffener Brief aus Indien zur Verlesung kommt:
»Josi Blatter, über den Sie mich gerichtlich anfragen, hat sich in fünf Jahren als ein Mann ohne das geringste Falsch bewährt. Er ist so fest und treu wie Ihre Berge, und die wanken nicht. Sie würden eine Schmach auf Ihr Land laden, wenn Sie ihm nicht vollen Glauben schenken und einen Makel auf ihm ruhen ließen. George Lemmy, Oberingenieur der britischen Regierung in Indien.«
Ein Stündchen später ist der volle Freispruch da.
Ein kleiner, schluchzender Schrei bebt durch den Saal: »Josi, mein Held,« und Hunderte schluchzen mit und ein Jubelruf pflanzt sich fort durch die Straßen der Stadt.
»So geht ihr nun ins Oberland, ihr Vielgeprüften!« sagt der Garde, der mit Vroni und Eusebi dem Paar die Hände reicht, »wenn zwei glücklich werden können auf dieser wandelbaren Erde – so seid ihr es, ihr heißen Herzen von unwandelbarer Treue.« – Auch St. Peter hat keinen bösen Tag.
Die Richter wissen, daß es jetzt nicht gilt, das arme, verirrte, von einem Wahnsinnigen verführte Dorf, für das der alte ehrwürdige Garde mit Thränen in den Augen bittet, noch tiefer in Unglück und Schande zu drücken, sondern zu beruhigen und zu versöhnen, sie legen leichte Strafen auf die Grabschänder, und willig tragen die Dörfler das verhängte Maß. – –
Wie ein reinigendes Gewitter haben der »böse Tag« und seine Folgen auf die von St. Peter gewirkt. Ein Jahrhundert ruhiger Entwickelung hätte die Sinnesart des Völkleins nicht so geändert und geweckt wie der Sturm.
Und sonderbar, wie sich das Urteil über den toten Presi gewendet hat. Seinen einst so verhaßten Namen nennt man in St. Peter in glühender Ehrfurcht. Vor dem frommen Glauben der Bergleute hat nicht Peter Thugi, der jüngere, im letzten Augenblick den Schlag des Kaplans vom Haupt Binias gewandt. Nein, aus dem alten Fluch, daß eine Jungfrau über der Befreiung St. Peters von der Wasserfron an den Weißen Brettern sterben müsse, hat sie die Aufopferung des Presi gerettet; indem er selber in den Tod ging, schützte er das Leben seines Kindes und bewahrte das Dorf vor noch entsetzlicherem Unglück.
Als ein Held erlösender Vatertreue steht er im Gedächtnis des Berglandes.
Sogar sein Werk, die Einführung des Fremdenverkehrs in das Thal, ist nicht untergegangen. Ein Jahr stand der Bären als eine Ruine da. Dann kam denen von St. Peter die Ruine und die Ruhe der Sommer, die man so geliebt hatte, wie eine Anklage vor. Die Gemeinde wünschte, daß das Haus von einem tüchtigen Wirt wieder aufgebaut würde. Die Fremden falterten darauf wie einst durch das Glotterthal und die Bevölkerung hat nichts wider sie einzuwenden.
Von den alten Sagen spricht niemand mehr gern, wie man die schönen einst geliebt hat, verabscheut man sie.
In einem Thal des Oberlandes aber lebt ein junges Ehepaar in halber Verborgenheit und tiefem Frieden.
Nach einigen Jahren indes findet doch ein kleiner Zug von Männern, an ihrer Spitze Hans Zuensteinen, der alte Garde, und der jüngere Thugi, der neue Garde, den Weg in den Winkel des Glücks.
Die Männer drehen vor Josi Blatter und seiner schönen jungen Frau verlegen die Hüte und der alte Garde spricht: »Josi Blatter, es ist vieles anders geworden in unserem Dorf, aber den rechten Frieden und die rechte Freudigkeit haben mir noch nicht. Es ist uns, St. Peter sei noch nicht ganz aufgerichtet, so lange du und Binia uns fehlen. Wir wissen, daß dein Werk gut ist, die Gemeinde will dich in Ehren halten und zum Zeichen haben dich gestern die hundertzwanzig Bürger von St. Peter einstimmig zu ihrem Presi gewählt. Denn ich bin alt und den Aemtern nicht mehr gewachsen. Wir brauchen einen starken, aufrechten Mann. Josi, versage uns die Freude und Ehre nicht!«
Die anderen bestätigen die warme Rede: »So ist es, wir bitten dich.«
Josi will antworten, aber er kann nicht – er geht zur Thüre hinaus – in einer stillen Ecke schluchzt er: »Hört ihr es, Vater – Mutter – ich, euer verachteter Bub, Presi von St. Peter.« – Wie er sich aber gefaßt hat und den Männern sein »Nein« entgegenbringen will, da fällt ihm Binia um den Hals: »Josi, ja, wir wollen nach St. Peter zurückkehren, dessen Kinder wir sind und wo die Gräber der Eltern liegen. Ich stelle mich zu den Männern.«
Mit einem Jawort ziehen sie.
In St. Peter waltet Josi Blatter seit vielen Jahren als Presi in Stärke und Weisheit. Das Dorf hat sich vollends aus seiner Schande erhoben, es blüht unter seiner Führung und unter dem Segen des guten Beispiels, das die seine Binia den Frauen von St. Peter giebt.
Die Blutfron an den Weißen Brettern, der Lostag, die Schreckensarbeit des Kännellegens tönt einem jungen Geschlecht wie eine Sage ins Ohr und langsam verrosten in der Kapelle zur Lieben Frau die Unglückstafeln. Das Werk Josis hat sich bewährt. Die Wildleutlaue mag donnernd gehen, die heligen Wasser fließen, sie rauschen und spenden Segen.
2. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Immanuel Kant)
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.
Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hierbei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie danach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. So fern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonnieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er infolge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines anderen vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.
Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich untereinander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittels ihrer über das Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte. Nun wäre dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines besseren auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d.i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer forzdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewährt worden, daß sie durch Vereínigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen. Aber auf eine beharrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder vermeintliche Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung zusammen bestehe: so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach allem seinem Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät Abbruch, wenn er sich hier einmischt, indem er die Schriften, wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchster Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Caesar non est supra Grammaticos, als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichen Despotismus einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.
Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon imstande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.