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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Er ächzt – er stöhnt. – Es ist unfaßbar, daß Binia zu Thöni gegangen sei, aber was das Auge sieht, glaubt das Herz. Er hat gestern abend einen Groll gegen ihn gefaßt – und die Wahrheit – er hat schon lange etwas gegen ihn. Wie, wenn Thöni doch nicht der rechte Schwiegersohn wäre? Es ist ihm furchtbar zu Mute. Er hat mit der Verlobung das Dorf schlagen wollen, nun ist ihm, er habe sich selber und Binia geschlagen. Das arme Kind – der liebe, lose Vogel – ob ihm nun die Wiederkehr Josi Blatters nicht das Herz bricht. Und in heißen Stößen spürt der Presi, wie er Binia liebt, die arme Maus, die sich mit Thöni vergessen hat. – Er möchte sie schlagen vor Wut, er möchte vor ihr niederknieen: »Bini, meine einzige, sage es deinem alten Vater, was er gesehen hat, sei nicht wahr.« Aber er kann das Kind nicht rufen. Vor eigener Scham. Sein Herz klagt ihn schreiend an: »Ich habe sie mißhandelt. Und der Mensch ist wie ein Pferd. Das edelste Tier wird, wenn es genug Schläge bekommen hat, störrisch und stürzt sich in den Abgrund.«

So ist Binia gestürzt, sein herrliches Kind – sein ist die Schuld – er darf ihr nicht mehr in die Augen sehen.

»Möge dich Gott schlagen,« hat er einmal gesagt – und Gott hat sie geschlagen. Es ist schrecklich. – Eine Umkehr giebt es nicht mehr, nur Eile vor dem Rebellen. Am Sonntag muß der Pfarrer die Ehe Thönis und Binias verkündigen. Ein Glück ist in diesem grenzenlosen Elend: Binia weiß jetzt, daß das Spiel mit Josi Blatter aus ist – das ist vorbei!

Es ist ein furchtbar bleiches Lächeln der Genugthuung, das um die Lippen des Presi spielt.

Josi Blatter bringt er nicht aus dem Kopf. Er ist in Ehren und mit guten Zeugnissen aus der weiten Welt zurückgekehrt. – – Ja, er ist halt Fränzis Sohn, das ist seine geheimnisvolle Kraft.

Der Presi keucht und schwitzt. Da pocht es, Frau Cresenz bringt ihm einen Brief, den der Viehhüter Bonzi abgegeben hat. Er trägt die knorrige Schrift des Garden.

Der Presi ahnt nichts Gutes, erst als Frau Cresenz gegangen ist, öffnet er das Schreiben.

»Presi!« schreibt der Garde, »ich laufe Euch nicht nach, aber wenn Ihr zu mir kommen wolltet, so hätte ich Ernstes mit Euch zu reden. Ich habe die Beweise in den Händen, daß Thöni Grieg an Josi Blatter einen gottlosen Brief geschrieben, die Schrift gefälscht und das Schreiben mit meinem Namen mißbräuchlich unterzeichnet hat. Ferner besitze ich von der Post in Hospel die Bescheinigung, daß zwei eingeschriebene Briefe, darunter der des Gemeinderates an den Konsul in Kalkutta, im Postbuch nicht vermerkt und also nicht durch Hospel gegangen sind. Thöni Grieg hat also diese und andere unterschlagen. Ich hoffe, daß Ihr nicht Mitwisser des Verbrechens seid.«

Der Presi liest den Brief nicht zu Ende – er neigt das blasse Haupt auf die Seite – seine Hände zucken – er will aufstehen – es geht nicht – mit vorgelegten Armen läßt er den Kopf fallen. – Aus der Brust des Gerichteten stöhnt es, wie wenn eine gewaltige Eiche sich zum Falle rüstet.

Der Sturz einer Eiche. Wer das Bild einmal gesehen hat, vergißt es nie! Es seufzen tief unter der Erde die Wurzelgrüste, es bebt die Krone, die Vögel flattern schreiend heraus, die Käfer kriechen aus der Rinde und rennen davon, quiekend würgt es in den Stammfasern, als ob sich Jahrhunderte trennen, es ist ein Knistern und Brechen, ein geheimnisvolles Raunen von Abschiedsstimmen – das Fallen einer Eiche ist eine ganze Schlacht.

Eine würgende, ächzende Schlacht ist in dieser Stunde das Leben des Presi.

Er zweifelt nicht. Er wütet nicht, aber sein leises Zittern ist schrecklicher als ein lauter Ausbruch der Wut.

Wenn die Eiche vor dem Falle erbebt, so sagen die Holzleute: »Der Baum redet!«

Der Presi redet.

Mit zuckenden Lippen murmelt er: »Nein, Garde. – Gott weiß es – ich bin unschuldig – Bini – Vogel – meine Ehre und deine Ehre durch einen Schuft dahin.«

Sein Wort klingt wie eine sanfte, feierliche Knabenstimme. Die dünnen spärlichen Thränen des Alters rinnen über seine Wangen. Er merkt es erst, wie sie auf seine Hände fallen. Die Thränen beelenden ihn noch mehr. Sechsundzwanzig Jahre hat er nicht geweint. Er hat es beim Tode der Beth nicht gethan, sondern das letzte Mal, als er Fränzi um ihre Hand bat.

»Fränzi, – Sepp Blatter,« stöhnt er, »erbarmet euch meiner – ich gebe nach!« »Ich gebe nach – ich will hinter sich machen – Zuerst mit Bini. – – – – Ja, wenn es ginge! Aber sie ist aus Thönis Kammer gekommen!«

Und das Wort Thönis: »Wenn ich im Kot bin, seid Ihr auch drin,« tönt in seinem Ohr wie die Posaune des Gerichts.

Da murmelt er in seinen wilden Schmerzen: »Für den Rebellen thut sie es schon noch,« doch er hat es kaum gesagt, so rauft er sich das Haar: »Nein – nein – das gilt nicht – das habe ich nicht gedacht.« Er zuckt in der gräßlichen Furcht, daß dieser eine schlechte Gedanke schon wieder ein neues Verhängnis zeitige, und die Stunde ist da, von der der Garde gesprochen hat. »Auf den Knieen würdet Ihr zur Lieben Frau an der Brücke rutschen, wenn Ihr Bini nur dem Josi geben könntet und Ihr sie friedlich wüßtet.«

Die Stunde ist da – sie ist gekommen wie ein Dieb über Nacht.

O, wie der wilde Presi zahm ist und betet.

Ein schönes Alter. – Nein, kein schönes Alter. – Binias Augen reden: Vater, warum hast du mich in die Hand eines Schuftes gezwungen und ich hätte glücklich sein können mit Josi Blatter, der ehrenvoll aus der Fremde heimgekommen ist.

»Frieden. – Frieden! –«

Wieder sinkt sein Kopf. Er sieht es nicht, wie Frau Cresenz angstvoll kommt und geht. Er weiß nicht, wie viele Stunden er in brütender Vernichtung sitzt, er hört es nicht, wie der wachsende Föhnsturm pfeift und an den Fenstern rüttelt.

Sein Leib ist lahm, seine Glieder sind gebrochen. endlich aber steht er schwankend auf, er nimmt Rock und Hut und steigt die Treppe hinab. »Wo ist Bini?« fragt er Frau Cresenz. Er leidet furchtbare Angst um das Kind – es ist ihm, es schwebe in drohender Lebensgefahr – und doch, nein, er möchte sie nicht sehen – er schämt sich vor Binia und für sie.

»Sie hat so stark den Föhn im Kopf – sie hat nicht mehr stehen können – sie ist in ihre Kammer gegangen,« jammert Frau Cresenz. »Um tausend Gotteswillen redet jetzt nicht mit ihr.«

»Föhn im Kopf,« grollt der Presi dumpf – »ich gehe jetzt zum Garden – und ich hoffe, daß mir Thöni nicht begegnet – sonst muß er sterben.«

Das letzte sagt der Presi so fest, wie es ein Richter sagen würde.

Frau Cresenz schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: »Was giebt es auch, Präsident, was giebt es?«

Da schleudert er ihr den Brief des Garden vor die Füße und geht.

Allein in der Dämmerung geht er nicht gleich zum Garden, er schwankt, ohne zu wissen, was er thut, hinüber zum Neubau, steht eine Weile davor, schüttelt den Kopf und wendet sich wieder zum Gehen.

Da hört er plötzlich ein gräßliches Lachen. Kaplan Johannes mit dem Bettelsack steht neben ihm. »Herr Presi, merkt Ihr es nicht, es kommt ein Wetter. Geht doch lieber zum Glottermüller, dort zahlt einer Wein, so viel man will, und erzählt den Leuten lustige und traurige Geschichten aus dem Bären von St. Peter.«

»Du räudiger Pfaff!« schreit der Presi, er stürzt sich auf den Kaplan und mißhandelt ihn. Unter heulenden Flüchen flüchtet der Letzköpfige, er droht: »Ich will doch einmal mit Eurer Tochter tanzen!«

Das andere versteht der Presi nicht.

»Zu allem Elend den Hohn. Aber warum sollte man mich nicht auslachen, mich, den alten Thor, der sein Kind in die Arme eines Verbrechers gezwungen hat. Und der Schuft hockt noch in St. Peter? Eine Axt will ich nehmen und ihn erschlagen.«

Er schwankt nun aber doch zum Garden, zu dem schwer beleidigten ehemaligen Freund. Bitter wie noch kein Gang in seinem Leben wird ihm der Besuch. »Garde,« keucht er, »verzeiht mir, und Josi Blatter lasse ich danken, daß er nicht klagt.«

Mehr würgt er nicht hervor, der Garde will ihm die Beweise vorlegen, aber ein Blick, und der Presi nimmt plötzlich den Hut und stürmt fort.

Beim Garden hat er das Glück gesehen, das innige Familienglück um Vroni, in seinem Haus aber wütet das Unglück.

Er stürmt durch die Nacht. Wer nicht ein Dörfler ist, fände jetzt den Weg nicht. Der Föhnsturm singt an den Felsen ringsum, er stöhnt, er jauchzt und die Wolken hangen so tief ins Thal, daß sie das Dorf fast erdrücken. Ferne Lawinen donnern, es regnet in starken einzelnen Tropfen. Jeder Regentropfen thut dem Presi im brennenden Gesichte wohl.

Zuletzt kommt er doch wieder heim; der wirre Mann ächzt: »Präsidentin, ich muß zu Bett – ich glaube, es ist meine letzte Nacht – ich habe mein Herz gewendet – aber ich weiß schon – es kommt noch mehr – es kommt noch mehr.« Gräßliche Furcht rüttelt ihn.

Früh schon ist der Bären dunkel. Einige Stunden später steht im Wettersturm ein Mann vor dem unglücklichen Haus, und wie es elf Uhr schlägt, öffnet er die Thüre.

»Bist du es, Thöni?« kreischt Frau Cresenz, die ihn trotz dem Sturme gehört hat, angstvoll. Keine Antwort. Da rennt sie halb angekleidet die Treppe hinunter, Thöni kommt aber schon wieder aus der Postablage und eilt ins Freie.

»Thöni, was thust du?« schreit sie angstvoll.

»Lebt wohl, Tante, Frau Präsident,« ruft er. »Nach der Postkasse fragt nicht – ich gehe nach Amerika – und der Revolver ist für Verfolger geladen.«

»Er geht den rechten Weg,« knirscht der machtlose Presi, der sich ans Fenster geschleppt hat.

Eine Nacht ist eingefallen, wie man sie im Bergland selten erlebt.

Der Föhn fährt in Stößen von den Gipfeln, heiß im einen Augenblick, im nächsten bis ins Mark erkältend. Die Wolken jagen sich, stieben schwarz und schwer über die Hausdächer dahin, die Blitze erleuchten das Thal taghell, die schäumenden Wasser der Glotter erglänzen. Dann ist wieder pechschwarze Nacht. Jetzt spielen die Feuerflammen um die Krone, der Firn funkelt und leuchtet. Unaufhörlich knattert der Schnee- und Eisbruch im Gebirg, an den Bergwänden verfängt sich der schmetternde Donner, rollt und grollt, das Krachen der frischen Schläge wird verstärkt durch den Wiederhall der vorangehenden und rings im Gebirg sind die Runsen los. Die Berge wanken, es ist, als ob, was tausend Jahre fest und starr gewesen ist, plötzlich lebendig würde und wandern müsse. Es ist ein Bild wie Weltuntergang! Die Welterglocken von St. Peter wimmern durch den Aufruhr der Elemente.

In allen Häusern brennt Licht, um den Tisch sammeln sich bleiche Gesichter, in den Händen der Beter beben die Kruzifixe, und selbst die Gottlosen falten die Hände und seufzen: »Herr! – Herr!« –

»Es ist eine Totennacht,« flüstern die Aelpler. In dieser Nacht steht nach uralter Sage ein geheimnisvolles, im Bergland begrabenes Kriegsvolk auf und zieht zur Heimat. Da darf niemand ins Freie blicken, denn wer die Reiter sieht, wird vor Schrecken siech:

Es donnern die reitenden Boten:

»Gebt Raum für das irrende Heer,

Es fahren, die Goten, die toten,

Vom Bergland ans heilige Meer.«

Frau Hulder auf leuchtendem Schimmel

Sprengt jauchzend den Reitern voran.

Sie ziehn auf der Erde, am Himmel;

Sie kämpfen und brechen sich Bahn.

Von reisigen Vätern und Söhnen,

Wallt klirrend der Heerzug durchs Thal, –

Die Trommeln, die Hörner erdröhnen –

Sie reiten in brennender Qual.

Schaut – allen die fahren und fliegen.

Strömt aus den Wunden das Blut,

Die weinenden Mütter, sie wiegen

Im Arm die erschlagene Brut.

So reiten und ziehen die Goten,

Der schallende Hornruf ergellt:

»Hu-hoi, hu-hoi! Wir Toten

Sind Herren der lachenden Welt.«

In dieser Nacht schwitzt der Presi Blut: »Es kommt noch mehr – es kommt noch mehr!« Ja, Herr Presi, es kommt noch mehr.

In dieser Nacht stehen im Teufelsgarten eng aneinander geschmiegt zwei Liebende. Und zärtlich spricht der junge Mann: »Bini, weil ich dich rein erfinde wie einen Tautropfen, will ich das große Gelübde meiner Jugend halten.«

»Josi« – es tönt wie ein kleiner Schrei, »Josi, mein Held!« Sie umarmen sich, sie küssen sich, sie flüstern es einander selig zu, daß es kein Leben mehr giebt als eines im anderen.

In dieser Nacht flieht ein Mann, den das schlechte Gewissen jagt, thalaus.

Wie er am Teufelsgarten vorbeirennen will, zuckt eine Blitzschlange durch die Glotterschlucht und erleuchtet sie taghell. Er sieht das engverschlungene Paar. Aus dem Revolver blitzen die Schüsse, die Kugeln zischen. Die Schlucht wird dunkel, am Glottergrat kracht es und ein gewaltiger Donner erstickt die Stimmen eines Kampfes, der im Teufelsgarten wütet, und übertönt den Sturz eines Mannes, der in der Glotterschlucht versinkt.

Im ersten Morgengrauen geht das Liebespaar blaß und eng aneinander geschmiegt den Stutz empor und der Mann flüstert dem bebenden Mädchen zu: »Arme Bini – das habe ich nicht gewollt – so elend müssen wir sein – nun mag uns Gott helfen.«

Wie er es sagt, schießt johlend Kaplan Johannes am Wegrand auf.

»Hoho! – Rebell und Hexe,« lacht er drohend, »ich komme auch an eure Hochzeit.«

Und während des Männerkampfes im Teufelsgarten ist die Wildleutlawine gegangen.

Kapitel Siebzehn

Die Wildleutlawine ist gegangen! – Man hat es in dem Aufruhr der Elemente zu St. Peter kaum bemerkt, aber der Morgen bringt die erschreckende Kunde. – Und heute ist Wassertröstung – Losgemeinde! Ein Mann muß auf Leben und Sterben an die Weißen Bretter steigen und geheimnisvoll waltet das Los.

Der Sturm der Nacht hat sich gesänftigt, der Himmel hat sich gereinigt, mit unschuldigem Kinderlächeln schaut er auf die Welt, und der Föhn, der gewaltige Geselle, schmeichelt um die ergrünenden Berghalden wie ein verliebter Bursch, der von seinem Mädchen Blumen bettelt.

Die goldenen Primelsterne leuchten auf den Matten, die Enzianen öffnen die blauen Augen.

Die von St. Peter achten es nicht, die Sorge hält ihre Augen. Der Tag entwickelt die alten Bilder! Aus der Runde reiten die Bauern auf ihren Maultieren zur Kirche, sie tragen die dunkle Tracht und die Frauen und Töchter drehen im Reiten den Rosenkranz. Finster feierliche Ruhe waltet, tiefer als je an einer Wassertröstung. Da und dort grollt es flüsternd: »Schon nach elf Jahren. Merkt Ihr es!« Und die dumpfe Antwort lautet: »Ahorn!« Durch die ganze Gemeinde schleicht das Wort: »In zwölf Wochen spätestens sollen Bären und Krone brennen.«

Wie einsam steht der Bären, das schöne alte Wirtshaus! An die Stangen vor ihm bindet kein Bauer sein Maultier an. Frau Cresenz tritt ein paarmal angstvoll unter die Thüre, aber die Ziehenden reiten grußlos vorbei und stellen die Tiere vor die Häuser der Verwandten oder vor die Glottermühle.

Verfemt ist der Bären! Nein! Wie die Glocken zu läuten anheben, schreitet wie ehemals der Gemeinderat in würdigem Zug die Freitreppe hernieder, voran der Weibel mit der silbernen Losurne, dann der Presi und der Garde, der den Federnhut, das Schwert und die Binde trägt.

Die Männer sind von der Wichtigkeit ihres Amtes ganz durchdrungen. Der kurze Garde ist frisch, aus dem grauen Bart schauen gesunde rote Wangen, die klugen und guten Augen unter den buschigen Brauen sind hell. Der Presi jedoch, der wohl um den Kopf größer ist, schaut abgezehrt aus, und die paar mächtigen Furchen im glatten Gesicht scheinen noch länger, noch tiefer geschnitten. Man würde glauben, er wäre von den beiden der ältere, wie er aber so mit den anderen geht, muß jeder, der ihn sieht, denken: »Er ist halt doch der Presi!«

Als letzte fast treten Josi und Eusebi, die sich von Vroni verabschiedet haben, in die Kirche, jener ruhig, aber bleich. Die Neugier der Dörfler, die nach ihm sehen, ist ihm zuwider.

Mit einem seltsamen sorgenden Blick begleitet Vroni den Bruder.

Er hat kein Wort von Beate Indergand erzählt, blaß, müde und stumm ist er im Lauf des Vormittags heimgekommen.

»Jetzt geht er am Ende noch als Freiwilliger an die Weißen Bretter,« denkt Vroni. »Kaum ist so ein lieber Bruder da, hat man schon wieder seine Qual um ihn.«

Der Weibel riegelt die Thüre vor den Weibern zu, die betend und jammernd im Kirchhof knieen. Mitten unter ihnen kniet totenfahl Binia.

Ein Zittern läuft durch ihren Körper, mit der schmalen Hand stützt sie sich auf die Erde des Kirchhofs – auf den Staub der Dahingegangenen.

– Sie zuckt. – Todesgedanken und sie ist noch so jung. Aber was ist nicht im Teufelsgarten Entsetzliches geschehen? – Und steht dort nicht lächelnd der gräßliche Kaplan?

In der Kirche hat sich der Gemeinderat um den altertümlichen Altar gestellt und der Presi spricht das Heligen-Wasser-Gebet. In den geschnitzten Stühlen harren hundertundsiebzehn Bürger, den dunklen Filz vor dem Gesichte, und beten es mit. Nun sinken die Hüte und wie aus Erz gegossen, ein feierliches Antlitz am anderen, stehen die Männer. Durch die gelben, roten, blauen und grünen Scherben, welche die Heiligenfiguren in den Fenstern zusammensetzen, fallen die farbigen Bündel der Sonne in den golddurchsponnenen Raum und zeichnen dem einen ein gelbes, dem anderen ein rotes, blaues oder grünes Mal auf das Kleid, und von draußen rauschen die brünstigen Gebete der Frauen.

Nun redet der Presi und jeder spürt es, so schön, so warm und eindringlich hat er noch nie gesprochen. Jeder denkt: »Es ist ein Elend, daß man diesem Manne ein Leid anthun muß. Wie spricht er furchtlos in die Hundertundsiebzehn, unter denen kaum einer ist, der ihn nicht grimmig haßt. Wie wenn er es nicht wüßte, so frei steht er da. Und doch weiß er es, er hat gewiß eine Ahnung vom Ahornbund. Nur nachgeben kann er nicht. Darum muß man den Bären verderben.«

Jetzt verkündet er die alten Satzungen und fragt, ob sich niemand freiwillig meldet.

»So ein Knechtlein wäre oder sonst einer geringen Standes, der liebt ein Mädchen und der Vater will es nicht zugeben, so mag er sich melden, an die Weißen Bretter steigen für seine Liebe und der Gemeinderat wird ihm Freiwerber sein!«

Schweigen.

»So einer wäre, der hätte heimliche oder offenbare Schuld, will aber die heligen Wasser richten, mag er frei vortreten, und wenn er an die Weißen Bretter steigt, so soll ihm, was er vergangen hat, nicht mehr angesehen sein, als es unsere Altvordern dem Matthys Jul angesehen haben. Gar nicht. Der Gemeinderat mag dann vor Gericht den Brauch des Thales darlegen und im Namen der Gemeinde um seine Freiheit bitten.«

Schweigen! Der gräßliche Sturz Seppi Blatters lebt noch zu frisch in der Erinnerung aller. Hätten die Gemeinderäte aber vom Altar nach Josi Blatter geblickt, so hätten sie wohl gesehen, wie er den kalten Schweiß von der Stirne strich.

»So lasset uns denn losen,« spricht der Presi. »Nach alter Sitte ist 77 die Loszahl. Will es jemand anders oder soll es gelten?« Schweigen! Jeder der Männer hebt seinen Filz vor den Mund, das Summen des Vaterunsers füllt den Raum.

Der Presi hebt den Losbecher, spricht sein Gebet darüber, verschließt ihn mit dem silbernen Deckel, rüttelt ihn und wendet ihn dreimal feierlich. Das Gleiche thun der Garde und die folgenden Mitglieder des Gemeinderates, und der letzte, der es thut, stellt den Becher wieder auf den Altar.

Der Presi spricht mit lauter klarer Stimme: »In Gottes, in Jesu Christi, in der Jungfrau Maria, in St. Peters und aller Heiligen Namen – so wollen wir losen.« Und er hebt den Deckel der Urne ab.

Da formt sich bankweise der Zug zum Altar. Mann hinter Mann schreiten sie feierlich heran, die von St. Peter, nur die Alten und Bresthaften bleiben zurück. Am Altar thut jeder einen Stoßseufzer, langt in die Urne, und von den Stufen hinunter bewegt sich der Zug zurück in die Stühle. Dort betet jeder wieder in seinen Hut und öffnet sein Los. Den letzten Gliedern der Gemeinde folgt der Gemeinderat, und das letzte Los nimmt der Presi selbst.

Langsam und feierlich vollendet sich die Zeremonie, kaum mit einem Laut verrät sich die grenzenlose Spannung, die über der Gemeinde liegt, denn es gilt als ein Zeichen der Schwäche, sich hastig oder neugierig zu zeigen, oder Freude zu äußern, wenn die schreckliche Zahl glücklich vorbeigegangen ist.

Doch leuchtet jetzt manches Auge mutiger.

»In Gottes, in Jesu Christi, in der heiligen Jungfrau Maria, in St. Peters und aller Heiligen Namen, der, den das Los getroffen hat, mag stehen bleiben.«

Alle anderen setzen sich, nur der junge Peter Thugi ragt einsam aus ihnen. Jede Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen.

»Peter Thugi, habt Ihr das Los?« fragt der Presi feierlich.

»Ja,« sagt der junge Mann, es klingt wie ein Schluchzer. Seine junge Frau ist ihm kürzlich gestorben, er steht mit zwei Kindern und dem alten Großvater allein, ist aber sonst fast mit dem ganzen Dorf verwandt und nicht mittellos.

In einen seltsamen klagenden Laut löst sich das Erbarmen der Männer aus.

Ein feierlicher Augenblick.

Da schnellt Josi Blatter aus der Menge auf: »Presi und Gemeinderat, darf ich reden?« fragt er bewegt.

»Sprecht, Blatter,« sagt der Presi, indem er den jungen Mann neugierig, doch mit warmer Achtung mißt.

Josi errötet und verwirrt sich unter den vielen Blicken, die verwundert und mißtrauisch auf ihn gerichtet sind.

Will er an die Stelle Peter Thugis treten?

Er schluckt ein paarmal; unsicher zuerst, dann immer fester redet er:

»Herr Presi, ihr Gemeinderäte und Bürger von St. Peter! Obwohl ich nur ein schlichter Mann und erst vor wenigen Tagen aus der Fremde zurückgekehrt bin, wage ich es, zu euch zu sprechen. Meiner Lebtag hat es mich beelendet, wie mein Vater selig an den Weißen Brettern gefallen ist. Ich bin in der Fremde Felsensprenger gewesen, und wenn ihr es zugebt und mir die nötige Hilfe leistet, so will ich von jetzt an bis zum Allerheiligentag für die heligen Wasser eine Leitung durch die Felsen der Weißen Bretter führen, daß alle Kännel überflüssig sind, und die Blutfron von St. Peter lösen. Es ist die Erfüllung eines Gelübdes für ein großes Glück, das ich erlebt habe, und ich thue es ohne Lohn.«

Mächtige Bewegung. Man hört dumpfes Murren: »Was er sagt, kann niemand thun!« und halblaute Rufe: »Prahler! – Grobhans! – Gotteslästerer!« Der Presi aber donnert: »Laßt ihn reden. – Josi Blatter, Ihr habt das Wort.«

»Es giebt jetzt ein weißes Pulver,« fährt Josi fort, »das ist wohl hundertmal stärker an Gewalt als das schwarze und heißt Dynamit. Man sprengt damit die Wege für die Eisenbahnen durch die Berge, und wenn ihr euch draußen in der Welt erkundigen wollt, so werdet ihr erfahren, daß damit Werke errichtet worden sind, gegen die ein Gang durch die Weißen Bretter nur ein Spiel ist.«

Der Bockjeälpler ruft: »Einen Tunnel habe ich auch schon gesehen.« Andere Stimmen sagen: »Hört – vielleicht hat der Plan doch Hände und Füße,« wieder andere grollen: »Nichts Neues in St. Peter, wir haben am Alten genug.« Dritte drängen: »Nur reden,« und vierte mahnen drohend: »Nein, abhocken. Rebell.«

So schwirren die Rufe.

Da mahnt der Garde: »Er hat das Wort vom Presi!«

Der Bockjeälpler ruft: »Aber er kommt nicht durch die Wildleutfurren!«

Josi Blatter fährt fort: »Durch die Wildleutfurren baue ich eine Mauer, setze den Kanal darauf, darüber ein stark steiles Dach aus den dicksten Balken, darüber ein zweites wasserdichtes aus Steinplatten, die ich mit Zement, einem gelben Pulver, verbinde. Ich lehne das Dach dicht an die Felsen der Furren, die ich ein gutes Stück empor so verbauen will, daß die Lawine keinen Angriff findet, wenn sie kommt, und daß sie machtlos über die Steinplatten niederpoltern muß. Trägt man zu dem Werk ein wenig Sorge, so hält es tausend Jahre.«

»Hm – es scheint, er versteht etwas!« – »Laßt euch nicht ein, das ist Aufruhr und Todsünde.« – »Er ist noch der alte Rebell,« verwirren sich die Stimmen.

Eine unbeschreibliche Erregung herrscht in der Kirche, das Klopfen der geängstigten Frauen, das durch die schwere Thüre dringt, vermehrt sie.

Josi kann vor dem Lärm um ihn nicht weiter reden, fast hoffnungslos sitzt er ab.

Da reckt sich der Presi machtvoll, mit funkelnden Augen und mit glührotem Kopf vor der Gemeinde auf. »Ihr Männer von St. Peter,« spricht er mit zwingendem Klang der Stimme, »wir wollen das Angebot Josi Blatters nicht leicht nehmen. Er hat von den Ingenieuren der englischen Regierung in Indien gute Zeugnisse erhalten, er war der Kopf einer Abteilung von über hundert Mann. Und die Engländer sind ein tüchtiges Volk. Prüft also das großherzige Anerbieten, es handelt sich, wenn das Werk gerät, um eine wunderbare Wohlthat für uns, unsere Kinder und Kindeskinder. Weil aber die Angelegenheit so wichtig ist, so meine ich, die Gemeinde sollte eine Abordnung in die Stadt schicken und beim Regierungsrat fragen, was vom Plan Josi Blatters zu halten sei. Ohne ihn können wir nicht vorwärts gehen, er müßte auch zwischen uns und den äußeren Gemeinden vermitteln, daß die heligen Wasser einen Sommer lang stillstehen dürfen. Wir wollen aber rasch handeln, damit wir in acht Tagen wieder Gemeinde halten und entscheiden können, ob wir das Werk annehmen oder nicht. Ich weiß, daß ihr mir alle grollt, aber Gott im Himmel weiß es auch: Wenn ich schon nicht immer eure Ansichten teile, habe ich es doch immer gut mit St. Peter gemeint. Ich will das Amt, das ich zwanzig Jahr bekleide, vor euerm Groll in der Maigemeinde niederlegen. – Folgt nur jetzt noch einmal meinem Rat. Nehmt das Angebot Josi Blatters ernst, ich bitte euch herzlich darum.«

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