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Onnen Visser
Onnen Visser
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Onnen Visser

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Der andere zuckte die Achseln. »Sehr schön gedacht«, sagte er etwas spöttisch, »ungeheuer edel, aber – für mich zu teuer. Glaubst du nicht, daß die Langfinger bei dir bald genug Moses und die Propheten entdecken werden? Dann heißt es, her damit!« Der Kapitän reckte seine muskulösen Arme. »Laß fahren dahin!« rief er. »Ich kann arbeiten, kann genug verdienen, um drei Menschen zu ernähren – auch das ist Reichtum.«

Draußen klopfte es gegen die verschlossene Haustür. Frau Douwe schrie vor Schreck laut auf, während Onnen hinaussprang und durch das kleine Schiebfenster sah. »Es ist der Vogt, Mutter«, rief er ins Zimmer hinein, »sei nur ganz ruhig.«

Er ließ einen alten, von der Last der Jahre gebeugten Mann eintreten, einen Greis, der sich ächzend auf den nächsten Stuhl warf. »Grüß Gott miteinander! – O Kinder, welch eine Zeit!« Frau Douwe wollte ihm eine der bunten, rot und blau bemalten Tassen mit Kaffee füllen, aber er wehrte ihr sogleich. »Die Franzosen sind immer hinter mir drein, Nachbarin, hier soll ich sein und da, dies bewerkstelligen und das. Ach, großer Gott, es ist nicht zum Aushalten.«

Er trocknete den Schweiß von der Stirn und entfaltete dann ein Blatt Papier. »Sieh her, Visser, da steht‘s geschrieben – sobald ein Trommelzeichen gegeben wird, haben sich alle Männer des Dorfes vor dem Badehause einzufinden. Etwa um sieben Uhr früh soll die erste Ansprache stattfinden.«

»Heute?« fragte der Kapitän.

»Gewiß. Gleich, sage ich dir, jetzt! – Adjes! Adjes, ich muß überall Bescheid bringen.«

Er schüttelte bekümmert den Freunden die Hand und eilte weiter, um als lebende Zeitung die Hiobspost von Tür zu Tür zu tragen. Geerd Kluin erhob sich und sah seinen Schwager bedeutsam an. »Du hörst nun, was sich vorbereitet, Visser – sei vernünftig, Mann, geh mit nach Hamburg, so lange es Zeit ist.«

Der Kapitän lächelte. »Nimmermehr!« versetzte er. »Ich bleibe, ich will stehen und fallen für meine Heimat – der Ostfriese wankt nicht und trügt nicht!«

Kluin umarmte seine Schwester und seinen Neffen, dann drückte er die Hand des eigensinnigen Schwagers. »Lebt wohl, ihr alle. Hoffentlich sehen wir uns wieder zur guten Stunde, wenn der Franzmann aus dem Lande geprügelt ist.«

Er ging, begleitet von den Seinigen, um sich an Bord eines nach Leer oder Emden fahrenden Schiffes zu begeben. Die Sonne schien jetzt schon hell vom Himmel; der Kapitän winkte nochmals dem Scheidenden, dann trat er in das kleine saubere Gemach zurück und breitete beide Arme aus. »Komm her, Mutter, und auch du, Onnen! Euch liebe ich zuerst und zunächst, aber danach meine Heimat. Gerade weil sie arm und klein ist, eine verlassene Sandscholle im weiten Meer, gerade darum liebe ich sie. Was meinst du, Onnen, wollen wir beide in Hamburg müßig zusehen, wenn hier unsere Brüder ringen und leiden?«

Die Augen des Knaben glänzten hell. »Nein, liebster Vater, nein, das verhüte Gott! Wir teilen alles, Gutes und Schlimmes.«

Der Kapitän nickte. »Das denke ich auch. ›Alle Mann auf!‹ – Ein Fuchs oder eine Memme, wer das Kommando hört und nicht folgt.«

In diesem Augenblick ertönte draußen ein Geräusch, Onnen horchte auf. »Trommelwirbel!« rief er, »du mußt hin, Vater!« »Und du mit, Junge! Bist konfirmiert, stellst schon deinen Mann; laß dir nur die durchwachte Nacht nicht ansehen, hörst du.«

Frau Douwe weinte. »Die Unruhe bringt mich noch um«, schluchzte sie.

»So geh mit, Alte!« sagte lächelnd der Kapitän. »Wirst ja noch immer ein wenig frische Luft schöpfen dürfen, wenn auch die Insel eine französische Besatzung erhalten hat! – Den Kopf auf, Mutter! Die in Emden und Leer sind ja auch nicht gleich mit Haut und Haar verschlungen worden – wir kommen schon lebendig hindurch!«

Er hatte in aller Eile den Anzug gewechselt, ebenso Onnen, dann gingen die beiden bis zu dem Platze, auf welchem heute das neue Badehaus und die Anlagen stehen.

Die Franzosen waren in Reih und Glied aufmarschiert, Oberst Jouffrin mit seinen Offizieren ging vor der Front auf und ab und im weiten Halbkreis sammelten sich die Bewohner der Insel, alle in ihrem Fischeranzuge, mit dem »Stummel« zwischen den Zähnen, und alle schweigsam, als sei es eine Leichenfeier, die hier vorbereitet werde.

Ein schlimmes Zeichen für jeden, der die harmlosen norddeutschen Seeleute und ihre Vorliebe für einen guten Spaß auch nur einigermaßen kennt.

Der Vogt mit seinem Angstgesicht lugte auch hier aus der Menge hervor; ein Schreiber vom Amt in Norden stand neben dem vortragenden Offizier, und nun wurde folgendes Schriftstück in französischer Sprache verlesen und von dem Dolmetscher übersetzt.

»Proklamation!

Seine Majestät der Kaiser geruhen allergnädigst zu befehlen wie folgt: Die Insel Norderney bekommt eine Besatzung, welche aus den Mitteln der Einwohner erhalten werden muß und wofür die Lieferungen demnächst ausgeschrieben werden sollen. Den Herren Offizieren werden Tafelgelder gezahlt, zu deren Beschaffung aus dem Vermögen der Eingesessenen eine Schätzung von Seiten des Herrn Obersten Jouffrin zu erfolgen hat. Wer sich dieser Zahlung entzieht, erhält sogleich doppelte oder vierfache Einquartierung; wer gegen die jetzt verlesenen Anordnungen irgendwie öffentlich auftritt oder rebelliert, wer gegen die Ausführung derselben irgendwelche Schritte unternimmt, wird mit der Strafe der Auspeitschung bedroht.«

Der Schreiber stockte. Bei den letzten entehrenden Worten überzog fahle Blässe sein Gesicht; des Vaterlandes bittere furchtbare Schmach schien ihn zu ersticken. —

Ringsumher war alles so todesstill, daß das Summen der Mücken in der Luft deutlich hörbar wurde.

Oberst Jouffrin hob den Kopf. »Vite! Vite!« (Schnell! Schnell!) rief er ungeduldig.

Der Schreiber fuhr mit der Hand über die Stirn. »Ferner wird verfügt«, las er weiter, »daß zum Zweck einer gänzlichen Vernichtung englischer Waren die öffentliche Verbrennung derselben ungesäumt stattzufinden hat. Wer derartige Gegenstände besitzt, soll sie hierher abliefern; wer ihr Vorhandensein verschweigt, sie versteckt oder in irgendeiner Weise hinterzieht, wird mit denselben Strafen belegt, welche auf schweren Diebstahl stehen. Die Ablieferung der Waren hat sogleich zu erfolgen.« Der Offizier schlug das Blatt zusammen; jetzt zum erstenmal sah der Amtsschreiber seinen Landsleuten offen ins Gesicht. »Swigt still, Lüüd!« sagt er in ermahnendem bittenden Tone, »swigt um Gott‘swillen still!«

Die lauernden Blicke des Obersten trafen ihn sofort. »Was war das?« rief er. »Was hatten Sie hinzuzufügen?« Der Schreiber blieb durchaus gelassen. »Ich forderte die Leute auf, jetzt ruhig auseinanderzugehen«, sagte er mit lauter Stimme. Dieser Ermahnung ward auch sogleich Folge gegeben, obwohl einzelne der erbitterten Bewohner die Hände rangen und sich wie Verzweifelte gebärdeten. Dieser handelte während des Sommers mit ein wenig Kaffee, Tee oder Gewürz, jener mit Kinderspielzeugen, der dritte mit Kurzwaren u. dergl. Jetzt sollte das alles verbrannt werden.

Verbrannt! Vernichtet! Die kleine Habe des Armen, all sein Gut, seine Hoffnung, das Brot seiner unschuldigen Kinder – die Franzosen zwangen ihn, es in das Feuer zu werfen, es der Zerstörung preiszugeben. In alle Häuser verteilten sich die Soldaten, überallhin drangen ihre spähenden Blicke, ihre dreisten Finger. Sie sahen in die Schränke und Schubladen, sie krochen in Böden und Ställe, sie untersuchten die Taschen der Bewohner.

Jedes Stück Zucker, jedes bißchen Kaffee oder Tee wurde auf den Scheiterhaufen geschleppt oder von den Soldaten für gute Prise erklärt. Holz und Stroh kam hinzu – höher und höher wurde der Berg.

Männerfäuste ballten sich verstohlen, aus Männeraugen quoll die brennende Träne. Väter zeigten ihren Söhnen, was der korsikanische Tyrann gegen Deutschland auszuüben wagte – sie flüsterten ihnen zu von der Schuld, der ungeheuren, vermessenen, und von dem Tage der Vergeltung, die einst in späterer Zeit kommen müsse und werde.

Nur einzelne klagten laut, die meisten schwiegen, um nicht immer ärgeres Übel heraufzubeschwören. Von fern umstanden die Beraubten den Scheiterhaufen; es war, als könne sich keiner trennen von dem, was noch vor wenigen Stunden den Mittelpunkt aller seiner Interessen bildete, die Welt, in der er lebte, dachte und arbeitete.

Zu Hause alles leer – und hier die mühsam erworbenen Handelsartikel der Vernichtung preisgegeben. Wer mochte es glauben? Wer faßte das Schreckliche?

Die Weiber jammerten, sie warfen sich im Übermaß des Kummers den französischen Offizieren zu Füßen. »Erbarmen, Erbarmen! Wir hatten nichts weiter als nur diesen kleinen armen Besitz – woher sollen wir Brot nehmen für unsere Kinder?«

Niemand hörte sie, niemand achtete ihrer.

Und doch gab es einen Schmerz, eine Klage, vor denen jede andere Stimme schwieg.

Von Gruppe zu Gruppe ging ein bleiches Weib mit hohlen vergrämten Augen und gefalteten Händen; jeden der Männer redete es an im herzzerreißenden Tone des Wehes.

»Habt ihr mein Kind nicht gesehen, Leute, meinen armen Knaben? – Seit vier Tagen ist er verschwunden, mein einziger! Sah ihn keiner? Ihr fahrt nach Baltrum und Juist, nach Norddeich und Hilgenriedersiel, seid ihr nirgends seinem Boote begegnet?«

Ein Kopfschütteln, wohin sich die Unglückliche wandte. Arme Wiebke Raß! Sie hatte doch mehr verloren als alle die, deren Eigentum da auf dem Scheiterhaufen lag.

Jetzt schlug einer der Franzosen Feuer, dann hielt er den brennenden Schwamm gegen die nächste Pappschachtel, in der Bänder und Spitzen lagen.

Es züngelte rot und leuchtend aus der Mitte der trockenen, leicht entzündbaren Gegenstände hervor – der Scheiterhaufen brannte.

»Jesus! Jesus! – Meine Sachen!«

»O Nachbarin, Nachbarin, es ist doch nicht Euer Kind, Euer Fleisch und Blut! – Möchten die Franzosen meine Hütte nehmen, alles was ich besitze, und mir dafür den Knaben wiedergeben – mit nackten Füßen wollt‘ ich davongehen!«

Die beiden Frauen standen händeringend da; die, deren kleinen Kram man verbrannte, schluchzend, außer sich, die andere tränenlos, dem Irrsinn nahe. Umsonst bemühten sich mitleidige Menschen, sie zu trösten, Wiebke Raß schüttelte nur ruhig den Kopf. »Laßt das, Leute, laßt das, mir hilft nichts auf Erden mehr.«

Von der Seite des jetzigen Anlegeplatzes her kam ein Laufen und Rufen, eine Unruhe, die sich von Person zu Person fortpflanzte. Zwei Männer trugen eine Bahre, sie schienen den Weg rechts ab zum Dorfe nehmen zu wollen und widersprachen, als einige der Leute auf die vor dem Feuer Versammelten hindeuteten.

Die Franzosen hatten alles gesehen; ohne Zaudern trieben sie die beiden Fischer mit Kolbenstößen vor sich her bis zum Scheiterhaufen. Was da auf der Bahre lag, das sollte dem allgemeinen Schicksal des Verbrennens nicht entgehen.

Ein kecker Griff riß das Segeltuch herab – dann taumelte der Franzose, als habe ihn eine unsichtbare Faust gepackt »Diable!« rief er stammelnd.

Durch die Menge ging ein Schrei des Entsetzens.

Auf der Bahre lag die Leiche eines vierzehnjährigen Knaben, entstellt und von schrecklichem Aussehen, mit durchschossener Brust. An der linken Seite klaffte eine tiefe Wunde, der Arm hing lose und zerschmettert herab.

»Kornelius Raß!« ging es von Mund zu Mund. »Ach, die arme Mutter!«

Und nun hatte auch das blasse unglückselige Weib die Bahre gesehen. Ihre Arme hoben sich langsam zum Himmel empor, sie sprach keine Silbe, das Entsetzen schien ihre Zunge gelähmt zu haben.

Hellauf loderten die Flammen, der Wind fuhr hinein und fachte sie an, ein Funkenregen hob sich spielend in die Luft, knisternd stäubte weiße Asche.

Im weiten Halbkreis standen die Fischer und Schiffer, alle stumm, ihre kurzen Pfeifen jetzt in den Händen haltend. Da lag das schuldlose Kind mit der französischen Kugel im Herzen, purpurn überstrahlt von den Gluten, die Hab und Gut der Einwohner fraßen – es war, als verklagten die erhobenen Arme der beraubten Mutter jenen Gewaltherrscher, dem die Welt erschaffen schien zum Spielball seiner maßlosen Laune.

Immer mehr näherte sich Wiebke Raß der Bahre, dann ließ sie sich auf ihre Knie nieder und legte die Hand auf des Knaben Wunde – leise, wie schützend, voll zärtlicher Sorgfalt. Über ihre Lippen kam ein Wimmern, das furchtbarer, erschütternder klang, als selbst der lauteste Verzweiflungsschrei.

Niemand dachte mehr an die brennenden Sachen, in aller Augen glänzten Tränen, alle Herzen fühlten mit der unglücklichen Mutter den Jammer dieser Stunde, selbst die Franzosen schienen ergriffen.

»Es soll eine Untersuchung eingeleitet werden«, sagte schaudernd der Oberst. »Bringt die Leiche fort, Leute – schnell, schnell!«

Ein paar Fischer näherten sich der armen Frau, sie führten sie mit sanfter Gewalt von der Bahre nach Hause. Hier half kein Trösten, kein Zureden, das Übermaß des Schmerzes mußte sich Bahn brechen, bevor die Wunde langsam zu heilen vermochte.

Noch flüsterten die Leute, noch standen die einzelnen Gruppen händeringend beisammen, da nahte vom Dorfe her eine halbgelähmte Greisin, die einen flachen Korb mit Putzartikeln herbeitrug, bescheidene Bänder und Tücher, Kinderschürzen, Kragen, ein paar Fingerhüte, Nähnadeln und Scheren. Sie sah immer nach allen Seiten, und als ihre Blicke das Feuer trafen, da stand sie erschreckend still – ein Schrei von den Lippen der armen Alten lenkte die Aufmerksamkeit der französischen Zollwächter auf ihren Korb.

»Halloh!« rief einer, »englische Ware – her damit!« Die Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann es ja doch nicht! Mein ein und mein alles – erst gestern abend ist mir mein einziges Bett genommen worden! Lieber Gott, was soll ich unglückliche Frau anfangen?«

»Her damit! Her damit!« schrie der Franzose.

Die alte Frau schien in Verzweiflung zu fallen. »Helft mir doch, Landsleute«, rief sie mit bebender Stimme. »Da in dem Korbe stecken zwanzig Taler – all mein Vermögen! – wenn mir‘s geraubt wird, muß ich betteln gehn!«

»Diable m‘emporte! (Hol mich der Teufel!) was zetert die Hexe?«

Der Franzose näherte sich mit gezücktem Säbel der schreienden Frau und würde sie vielleicht im selben Augenblick verwundet haben, wenn nicht Kapitän Visser zwischen beide gesprungen wäre. Seine sehnige Gestalt war hoch aufgerichtet, sein Auge blitzte, er schob mit unwiderstehlicher Gewalt den Soldaten beiseite und nahm zugleich den Korb der alten Frau, um ihn mittels eines einzigen Ruckes auf den Scheiterhaufen zu schleudern.

Funken und Flammen schlugen hoch empor – die arme Händlerin schrie laut auf.

»Sei ruhig, Folke Eils«, tröstete der Kapitän, »du mußt eben der Gewalt weichen wie wir alle. Mit deinem bunten Kram kannst du jetzt nicht handeln, denn die Franzosen würden ihn für englische Ware ansehen, gleichviel woher du die Sachen genommen hättest; aber deine zwanzig Taler will ich dir wiedergeben und außerdem wird Mutter Douwe auch ein Bett für dich in deine Hütte schaffen. Komm jeden Tag und iß mit uns, was Gott beschert, es soll dir von Herzen vergönnt sein.«

Die Alte schluchzte halb vor Freude, halb vor Angst. Ringsumher erhob sich ein Murmeln des Beifalls, nur Oberst Jouffrin, der Kommandeur der französischen Soldaten, schien die Sache sehr übel aufgenommen zu haben. Er strich wütend den schwarzen Schnurrbart und pflanzte sich gerade vor den ihn um Kopfeslänge überragenden Kapitän auf.

»Kewalt?« schrie er. »Aben Sie sagen: Kewalt?«

»Ja!« antwortete mit festem Tone der Seemann. »Das habe ich gesagt, Herr Oberst. Es ist ein Akt der Gewalt, nicht des Rechtes, armen Leuten ihr Eigentum zu nehmen und es zu verbrennen. Wünschen Sie sonst noch etwas!«

»Rebell!« schrie der Franzose. »Chien!«

Er griff an den Degen, zögerte aber doch, ihn zu ziehen. Dichter und dichter hatten sich die Fischer um den Kapitän geschart, sie murrten, sie ballten die Fäuste – noch einen einzigen Schritt weiter und der Tumult wäre ausgebrochen.

Oberst Jouffrin sah es und trieb es klugerweise nicht weiter. Sich abwendend, sprach er einige Worte mit seinem Adjutanten, der darauf den Leuten befahl, jetzt sogleich auseinanderzugehen. »Dieser Platz ist fernerhin nur dann zu betreten«, hieß es, »wenn irgendeine Proklamation erfolgen soll. Ungerufen darf niemand kommen.«

Die Fischer entfernten sich langsam, einer nach dem andern bot dem Kapitän treuherzig die Hand. »Wenn du es nur nicht noch büßen mußt, Visser! Der Franzose sah dich so giftig an.« Der Seemann lachte. »Sie wissen, daß meine ›Taube‹ in ihrem Schnabel allerlei Waren nach Norderney trägt, mein Junge, und sie ärgern sich, daß sie ihnen niemals zu Schuß kommt.«

»Beschrei dein gutes Glück doch lieber nicht, Visser!«

»Pah, die ›Taube‹ wird noch in den nächsten Tagen nach Baltrum fliegen und dort allerlei aufpicken, was hier in den Häusern fehlt – Zucker, Tabak und Kaffee.«

Sie nickten einander zu, mühsam durch den tiefen Sand watend. Gepflasterte Straßen hat Norderney bekanntlich auch heute noch nicht, damals aber fehlten selbst die Bürgersteige aus Ziegelsteinen, die kleinen Gärten und Rasenflecke, während Pferde und Esel, Kühe, Schweine und Hühner nach Belieben herumliefen, um sich im Dorfe oder auf den Dünen das unentbehrlichste Futter zusammen zu scharren.

Als der Kapitän mit seinem Sohne nach Hause kam, saß die alte Folke Eils schon da, um sich nach Herzenslust auszuweinen, es nahten aber von der ändern Seite her noch sonstige Gäste, der Oberst Jouffrin in eigener Person, begleitet von fünf Soldaten, die ohne Gruß oder Frage in das Zimmer gingen und jedes Stück vorn Platze rückten, jeden Gegenstand herabwarfen, umkehrten oder auseinandernahmen.

Sie drängten sich alle zugleich in den engen Raum; dabei wurde hier eine Fensterscheibe zerstoßen, dort der Spiegel oder die Tür des Glasschrankes. Binnen wenigen Minuten glich das saubere Zimmer einem Schutthaufen, selbst Hund und Katze hatten Fußtritte erhalten, die blühenden Topfgewächse waren zerrissen und geknickt.

Der Kapitän beherrschte mit den Augen seine Frau und seinen Sohn. Oberst Jouffrin sollte nicht die Genugtuung haben, ein Glied der kleinen Familie verhaften zu dürfen, er wollte ihn vielmehr in den Augen der Soldaten empfindlich demütigen.

»Da, Folke Eils«, sagte er, ruhig der alten Frau eine Handvoll Taler reichend, »da sind die zwanzig. Und das Bett bringt dir mein Junge herüber.«

»Gewiß!« rief Onnen. »Komm her, Mutter Eils, da hast du, was meine Sparbüchse vermag. Nun weine nicht mehr!«

Der Oberst und seine Leute mußten abziehen, ohne auch nur eine Kaffeebohne oder ein Reiskorn gefunden zu haben, das steigerte ihre Wut auf das höchste, und zwar aus einem die Menschheit schändenden Grunde.

Einzelnen Personen, Zollbeamten wie Zivilisten, war es nämlich gegen eine Abgabe gestattet, die aufgefundenen Güter der Schmuggler zu behalten und für ein Billiges an die Offizierstische oder die Hofhaltung der französischen Fürsten zu verkaufen; es wurde daher nach unversteuerten Waren gesucht wie nach Vogelnestern; wer sie fand, der machte sich den Vorteil zum Nutzen. Frau Douwe schlug die Hände zusammen. »Klaus, Klaus – das ist doch zu arg! Leben wir denn jetzt unter Räubern?«

Der Kapitän nickte. »Genau genommen, ja. Aber laß dich das nicht anfechten, Frau – es ging wohl schon Besseres verloren als ein paar Fensterscheiben.«

Er suchte nach der durchwachten Nacht womöglich einige Stunden zu schlafen, während Onnen hinausging auf das Watt, um die »Taube« zu scheuern und für ihre nächste Fahrt herzurichten wie immer.

Auch hier traf er Soldaten. Sie hatten die Kajüte erbrochen und den ganzen Raum durchforscht; der Fischkasten lag zerschlagen da – alles Ausbrüche einer gemeinen Rachsucht, die nur den Gegner schädigen will, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht.

Onnen sah von einem zum ändern, das Blut schoß ihm heiß ins Gesicht. »Ich denke«, sagte er, »daß die Herren wohl auch den Schlüssel zur Kajüte hätten verlangen können! – Weshalb ist die Tür erbrochen worden?«

Der kommandierende Unteroffizier lachte. »Was kräht das Bürschchen?« rief er höhnisch. »He, was willst du Grünschnabel?«

»Ich frage Sie, weshalb die Tür in meines Vaters Schiff erbrochen wurde?«

»Und nennst uns in deiner Einbildung Räuber und Diebe, nicht wahr? Das sind Beleidigungen! Heda, Meunier und Dubois, bringt ihn zum Amtsvogt!« setzte er hinzu. »Das soll exemplarisch bestraft werden.«

Onnen schlug um sich. »Rührt mich nicht an!« schrie er. »Was wollt ihr Galgengesichter?«

»Bindet ihn!« schrie wütend der Unteroffizier.

Die fünf Männer überwältigten ohne Mühe den wehrlosen Knaben und schleppten ihn fast zur Wohnung des Amtsvogts. Unterwegs gesellten sich Leute zu dem Zuge, der Kapitän wurde geweckt und erschien selbst auf dem Schauplatz der Begebenheiten, auch Oberst Jouffrin kam fluchend und den tiefen Sand verwünschend herbei; mürrisch ließ er sich durch den Unteroffizier Bericht erstatten.

»Der Junge soll zehn Stunden Arrest erhalten, dann mag er laufen. Vogt, Sie sperren ihn, wie es hier üblich ist, in Ihren Keller! Es sind Rebellen, die Vissers, der Vater sowohl wie der Sohn.« Der Kapitän atmete leichter. Also wenigstens keine Prügel!

»Junge«, sagte er, »geh ruhig mit. Weshalb hast du nicht geschwiegen!«

Und dann besänftigte er seine Landsleute. »Wer sein Vaterland liebt, der verhält sich völlig ruhig, Kinder, völlig ruhig. Der Übermacht müssen wir uns ja doch ergeben. Amtsvogt, du bürgst mir für meinen Jungen!«

»Das tu ich, Visser, das tu ich!«

Der Platz um die Amtswohnung dicht unter der Kirche wurde allmählich leer, und nun begann die sonderbare Strafe, welche damals für leichte, besonders knabenhafte Vergehungen auf Norderney üblich war.

Die Kellerfenster der Amtsvogtei wurden geöffnet, um jedem Bewohner des Dorfes das Schauspiel da drinnen vollkommen deutlich zu zeigen. Auf dem Hofe lagen Backsteine, diese mußte der arme Sünder in den unterirdischen Raum hinabtragen und davon zwei Säulen oder Strebepfeiler bauen; sobald das geschehen war, legte der Wächter des Gesetzes über beide ein Brett und auf demselben saß dann der Schuldige diejenige Stundenzahl, welche ihm zuerkannt worden war.

Onnen begann halb erbittert, halb lachend die sonderbare Arbeit. Sobald erst einmal auf der Insel alles schlief, würde ihn ja der Vogt entschlüpfen lassen, das wußte er.

Die Steine waren bald hinabgetragen, das Brett folgte nach; heimlich ließ die Frau Amtsvögtin auch einige tüchtige Butterbrote und eine Anzahl gekochter Eier mit in die Finsternis des Kellers wandern, dann schwang sich Onnen auf seinen harten Sitz.

Draußen war die Umgebung wie ausgestorben. Wenn sonst ein junger Bursche im Amtskeller thronte, so hänselten ihn seine Genossen, wodurch ja eben die ganze Sache erst eigentlich zur Strafe wurde, aber heute zeigte sich niemand. Auch die Rohesten wollten den Sohn des geachtetsten Mannes von Norderney nicht verspotten.

Onnen ballte die Fäuste. »Wär‘ ich ein erwachsener Mann«, dachte er, »auf irgendeine Weise schliche ich mich von hier fort und könnte gegen die Franzosen kämpfen! Ach, fühlten doch alle Deutschen so wie ich – sie hielten zusammen und prügelten den Korsen zum Lande hinaus auf Nimmerwiederkehr!«