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Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца
Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца
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Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца

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»Das ist famos, Ilona, daß ich Sie einmal in der Stadt erwische. Das hab ich mir schon lang gewünscht, einmal mit Ihnen spazierenzugehen in unserer Residenz. Oder wollen wir lieber noch auf einen Sprung hinein in die wohlbekannte Konditorei?«

»Nein, nein«, murmelt sie etwas verlegen. »Ich habe Eile, man erwartet mich zu Hause.«

»Nun, dann wird man eben fünf Minuten länger warten. Im ärgsten Fall, nur damit man Sie nicht ins Winkerl stellt, gebe ich Ihnen sogar einen Entschuldigungsbrief mit. Kommen Sie und blicken Sie nicht so bitter streng.«

Am liebsten würde ich sie unter dem Arm fassen. Denn ich freue mich ehrlich, gerade ihr, der Repräsentablen von den beiden, in meiner andern Welt zu begegnen, und wenn die andern, die Kameraden, mich mit ihr, der Bildhübschen, ertappen, um so besser! Aber Ilona bleibt nervös.

»Nein, ich muß wirklich nach Hause«, sagt sie hastig, »dort drüben wartet schon das Auto.« Und in der Tat, vom Rathausplatz her grüßt bereits respektvoll der Chauffeur.

»Aber wenigstens zum Auto darf ich Sie doch begleiten?«

»Natürlich«, murmelte sie merkwürdig fahrig. »Natürlich … übrigens … warum sind Sie denn heute nachmittag nicht gekommen?«

»Heute nachmittag?« frage ich mit Absicht langsam, als ob ich mich erinnern müsse. »Heute nachmittag? Ach ja, das war eine dumme Geschichte heute nachmittag. Der Oberst wollte sich ein neues Pferd kaufen und da mußten wir alle mitgehen, es anschauen und zureiten.« (In Wirklichkeit hatte sich das schon vor einem Monat abgespielt. Ich lüge wirklich schlecht).

Sie zögerte und will etwas erwidern. Aber warum zerrt sie am Handschuh, warum wippt sie so nervös mit dem Fuß? Dann sagt sie plötzlich hastig: »Wollen Sie nicht wenigstens jetzt mit mir hinaus zum Abendessen?«

Durchhalten, sage ich mir innerlich rasch. Nicht nachgeben! Wenigstens einmal einen einzigen Tag! So seufze ich bedauernd. »Wie schade, ich käme ja furchtbar gerne. Aber der heutige Tag ist schon ganz verknackst, wir haben abends eine gesellige Veranstaltung, und da darf ich nicht fehlen.«

Sie sah mich scharf an – merkwürdig, daß sich jetzt dieselbe ungeduldige Falte zwischen ihren Brauen spannt wie bei Edith – und sagt kein Wort, ich weiß nicht, ob aus bewußter Unhöflichkeit oder Geniertheit. Der Chauffeur öffnet ihr die Tür, sie schlägt sie krachend zu und fragt durch die Scheibe: »Aber morgen kommen Sie?«

»Ja, morgen bestimmt.« Und schon fährt das Auto los.

Ich bin nicht sehr zufrieden mit mir. Warum diese merkwürdige Eile Ilonas, diese Geniertheit, als fürchte sie sich, mit mir gesehen zu werden, und wozu dieses hitzige Losfahren? Und dann: wenigstens einen Gruß hätte ich höflicherweise mitschicken sollen an den Vater, irgendein nettes Wort an Edith, sie haben mir doch nichts getan! Aber anderseits bin ich auch zufrieden mit meiner reservierten Haltung. Ich habe standgehalten. Jetzt können sie wenigstens von mir nicht denken, daß ich mich ihnen aufdrängen will.

Obwohl ich Ilona zugesagt hatte, am nächsten Nachmittag zur gewohnten Stunde zu kommen, melde ich vorsichtigerweise meinen Besuch noch vorher telephonisch an. Besser strenge Formen einhalten, Formen sind Sicherungen. Ich will damit klarmachen, daß ich niemandem unerwünscht ins Haus falle, ich will von nun ab jedesmal anfragen, ob mein Besuch erwartet und gern erwartet ist. Das allerdings brauche ich diesmal nicht zu bezweifeln, denn der Diener wartet bereits vor der geöffneten Tür, und gleich beim Eintreten vertraut er mir mit dringlicher Beflissenheit an: »Das gnädige Fräulein sind auf der Turmterrasse und lassen Herrn Leutnant bitten, gleich hinaufzukommen.« Und er fügt hinzu: »Ich glaube, Herr Leutnant sind noch niemals oben gewesen. Herr Leutnant werden staunen, wie schön es dort ist.«

Er hat recht, der wackere alte Josef. Ich hatte wirklich noch nie jene Turmterrasse betreten, wiewohl dies merkwürdige und abstruse Gebäude mich oftmals interessiert hatte. Ursprünglich – ich sagte es bereits früher – der Eckturm eines längst zerfallenen oder abgerissenen Schlosses (selbst die Mädchen kannten die Vorgeschichte nicht genau), hatte dieser wuchtige vierkantige Turm durch Jahre hindurch leer gestanden und als Speicher gedient; während ihrer Kindheit war Edith zum Schrecken ihrer Eltern oftmals auf den ziemlich defekten Leitern emporgeklettert bis in den Dachraum, wo zwischen altem Gerümpel Fledermäuse schlaftrunken schwirrten und bei jedem Schritt über die alten vermorschten Balken Staub und Moder in dicker Wolke aufquoll. Aber das phantastisch veranlagte Kind hatte dieses unnütze Gemach, das von den verschmutzten Fenstern unbeschränkten Blick in die Ferne gab, gerade wegen seiner geheimnisvoll nutzlosen Art sich als eigenste Spielwelt und Versteck gewählt; und als dann das Unglück kam und sie nicht mehr hoffen durfte, jemals wieder mit ihren damals noch völlig unbeweglichen Beinen jene hochgelegenen romantischen Rumpelkammern zu erklimmen, fühlte sie sich wie beraubt; oft beobachtete der Vater, wie sie mit bitterem Blick hinaufsah zu diesem geliebten und plötzlich verlorenen Paradies ihrer Kinderjahre.

Um sie zu überraschen, nützte nun Kekesfalva die drei Monate, die Edith in einem deutschen Sanatorium verbrachte, um einen Wiener Architekten zu beauftragen, den alten Turm umzubauen und oben eine bequeme Aussichtsterrasse anzulegen; als Edith im Herbst nach kaum merkbarer Besserung ihres Zustandes zurückgebracht wurde, war der aufgestockte Turm bereits mit einem Lift versehen, breit wie der eines Sanatoriums, und der Kranken damit Gelegenheit gegeben, zu jeder Stunde im Rollstuhl zu dem geliebten Ausblick hinaufzufahren; die Welt ihrer Kindheit war ihr damit unvermutet zurückgewonnen.

Auf Stilreinheit war freilich der etwas eilige Architekt weniger bedacht gewesen als auf technische Bequemlichkeit; der nackte Kubus, welchen er dem schroffen, vierkantigen Turm aufgestülpt hatte, hätte mit seinen geometrisch geraden Formen viel eher in ein Hafendock oder zu einem Elektrizitätswerk als zu den behaglichen schnörkeligen Barockformen des wohl auf die Maria-Theresianische Zeit zurückreichenden Schlößchens gepaßt. Aber der wesentliche Wunsch des Vaters erwies sich als geglückt; Edith zeigte sich völlig begeistert von dieser Terrasse, die sie in unverhoffter Weise von der Enge und Einförmigkeit ihrer Krankenstube erlöste. Von diesem ihrem eigensten Aussichtsturm aus konnte sie mit Ferngläsern die weite tellerflache Landschaft überschauen, alles was im Umkreis geschah, Saat und Mahd, Geschäft und Geselligkeit. Nach endloser Abgeschiedenheit wieder mit der Welt verbunden, blickte sie stundenlang von dieser Warte auf das muntere Spielzeug der Eisenbahn, die mit ihrem kleinen Rauchkringel die Landschaft durchquerte, kein Wagen auf der Chaussee entging ihrer müßigen Neugier, und wie ich später erfuhr, hatte sie auch viele unserer Ausritte, Übungen und Paraden mit ihrem Teleskop begleitet. Aus einer merkwürdigen Eifersucht heraus hielt sie aber diesen ihren abseitigen Ausflugsplatz vor allen Hausgästen als ihre Privatwelt verborgen; erst an der impulsiven Begeisterung des treuen Josef merkte ich, daß die Einladung, diese sonst unzugängliche Warte zu betreten, als eine besondere Auszeichnung gewertet werden sollte.

Der Diener wollte mich mit dem eingebauten Lift hinaufführen; man sah ihm den Stolz an, daß dieses kostspielige Vehikel ihm zu alleiniger Führung anvertraut war. Aber ich lehnte ab, sobald er mir berichtete, daß außerdem noch eine kleine, von seitlichen Loggiendurchbrüchen in jedem Stockwerk erhellte Wendeltreppe zur Dachterrasse emporführe; ich malte mir gleich aus, wie anziehend es sein müßte, von Treppenabsatz zu Treppenabsatz die Landschaft sich immer weiter ins Ferne auffalten zu sehen; tatsächlich bot jede dieser schmalen unverglasten Luken ein neues bezauberndes Bild. Über dem sommerlichen Lande lag wie ein goldenes Gespinst ein windstiller, durchsichtig heißer Tag. In fast reglosen Ringen schnörkelte sich der Rauch über den Schornsteinen der verstreuten Häuser und Höfe, man sah – jede Kontur wie mit einem scharfen Messer aus dem stahlblauen Himmel geschnitten – die strohgedeckten Hütten mit ihrem unvermeidlichen Storchennest auf dem Giebel, und die Ententeiche vor den Scheunen blitzten wie geschliffenes Metall. Dazwischen in den wachsfarbenen Feldern liliputanisch winzige Figuren, weidende Kühe in gesprenkelten Farben, jätende und waschende Frauen, ochsengezogene schwere Gespanne und behend hinflitzende Wägelchen inmitten der sorgfältig rastrierten Felderkarrees. Als ich die etwa neunzig Stufen emporgestiegen war, umfaßte der Blick gesättigt die ganze Runde des ungarischen Flachlands bis an den leicht dunstigen Horizont, wo in der Ferne ein erhobener Streifen blaute, vielleicht die Karpathen, und zur Linken leuchtete zierlich zusammengedrängt unser Städtchen mit seinem zwiebligen Turm. Freien Auges erkannte ich unsere Kaserne, das Rathaus, das Schulhaus, den Exerzierplatz, zum erstenmal seit meiner Transferierung in diese Garnison empfand ich die anspruchslose Anmut dieser abseitigen Welt.

Aber mich gelassen dieser freundlichen Schau hinzugeben, ging nicht an, denn, bereits an die flache Terrasse emporgelangt, mußte ich mich bereitmachen, die Kranke zu begrüßen. Zunächst entdeckte ich Edith überhaupt nicht; der weiche Strohfauteuil, in dem sie ruhte, wandte mir seine breite Rücklehne zu, die wie eine bunte wölbige Muschel ihren schmalen Körper völlig verdeckte. Nur an dem danebenstehenden Tisch mit Büchern und dem offenen Grammophon gewahrte ich ihre Gegenwart. Ich zögerte, zu unvermittelt gegen sie vorzutreten; das konnte die Ruhende oder Träumende vielleicht erschrecken. So wanderte ich das Viereck der Terrasse entlang, um ihr lieber Auge in Auge entgegenzukommen. Aber da ich behutsam nach vorne schleiche, merke ich, daß sie schläft. Man hat den schmalen Körper sorgfältig eingebettet, eine weiche Decke um die Füße geschlagen, und auf einem weißen Kissen ruht, ein wenig zur Seite geneigt, das ovale, von rötlichblondem Haar umrahmte Kindergesicht, dem die schon sinkende Sonne einen bernsteingoldenen Schein von Gesundheit leiht.

Unwillkürlich bleibe ich stehen und nutze dies zögernde Warten, um die Schlafende wie ein Bild zu betrachten. Denn eigentlich habe ich bei unserem oftmaligen Beisammensein noch nie wirklich Gelegenheit gehabt, sie geradewegs anzuschauen, denn wie alle Empfindlichen und Überempfindlichen leistet sie einen unbewußten Widerstand, sich betrachten zu lassen. Auch wenn man sie nur zufällig im Gespräch anblickt, spannt sich sofort die kleine ärgerliche Falte zwischen den Brauen, die Augen werden fahrig, die Lippen nervös, nicht einen Augenblick gibt sich unbewegt ihr Profil. Nun erst, da sie mit geschlossenen Augen liegt, widerstandlos und reglos, kann ich (und ich habe das Gefühl eines Ungehörigen, eines Diebstahls dabei) das ein wenig eckige und gleichsam noch unfertige Antlitz betrachten, in dem sich Kindliches mit Fraulichem und Kränklichem auf die anziehendste Weise mischt. Die Lippen, leicht wie die eines Dürstenden aufgetan, atmen sacht, aber schon diese winzige Anstrengung hügelt und hebt ihre kindlich karge Brust, und wie erschöpft davon, wie ausgeblutet lehnt das blasse Gesicht, eingebettet in das rötliche Haar, in den Kissen. Ich trete vorsichtig näher. Die Schatten unter den Augen, die blauen Adern an den Schläfen, der rosige Durchschein der Nasenflügel verraten, mit wie dünner und farbloser Hülle die alabasterblasse Haut dem äußeren Andrang wehrt. Wie empfindlich muß man sein, denke ich mir, wenn so nah, so unbeschirmt die Nerven unter der Oberfläche pochen, wie unermeßlich leiden mit solch einem flaumleichten elfischen Leibe, der wie zum leichten Lauf geschaffen scheint, zu Tanz und Schweben, und dabei grausam der harten schweren Erde verkettet bleibt! Armes gefesseltes Geschöpf – abermals fühle ich das heiße Quellen von innen, jenen schmerzhaft erschöpfenden und gleichzeitig wild erregenden Aufschwall des Mitleids, der mich jedesmal übermannt, wenn ich an ihr Unglück denke; mir zittert die Hand vor Verlangen, ihr zart über den Arm zu streichen, mich hinzubeugen über sie und das Lächeln gleichsam wegzupflücken von ihren Lippen, falls sie aufwacht und mich erkennt. Ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, das sich bei mir dem Mitleid jedesmal beimengt, wenn ich an sie denke oder sie betrachte, drängt mich näher heran. Aber nicht diesen Schlaf stören, der sie weghält von sich selbst, von ihrer körperlichen Wirklichkeit! Gerade dies ist ja so wunderbar, Kranken während ihres Schlafes innig nahe zu sein, wenn alle Angstgedanken in ihnen gefangen sind, wenn sie so restlos ihr Gebrest vergessen, daß sich manchmal auf ihre halboffenen Lippen ein Lächeln niederläßt wie ein Schmetterling auf ein schwankes Blatt, ein fremdes, gar nicht ihnen selbst gehöriges Lächeln, das auch sofort wegschrickt beim ersten Erwachen. Welches Glück von Gott, denke ich mir, daß die Verkrüppelten, die Verstümmelten, die vom Schicksal Beraubten wenigstens im Schlaf nicht um Form oder Unform ihres Leibes wissen, daß der milde Betrüger Traum wenigstens dort ihnen ihre Gestalt in Schönheit und Ebenmaß vortäuscht, daß der Leidende zumindest in dieser einen, dunkel umrandeten Welt des Schlummers dem Fluch zu entfliehen vermag, in den er leiblich verkettet ist. Das Ergreifendste aber für mich sind die Hände, die über der Decke verkreuzt liegen, matt durchäderte, langgestreckte Hände mit zerbrechlich schmalen Gelenken und spitz zugeformten, etwas bläulichen Nägeln – zarte, ausgeblutete, machtlose Hände, gerade vielleicht noch stark genug, kleine Tiere zu streicheln, Tauben und Kaninchen, aber zu schwach, etwas festzuhalten, etwas zu fassen. Wie kann man, denke ich mir erschüttert, mit solch ohnmächtigen Händen sich gegen wirkliches Leiden wehren? Wie irgend etwas erkämpfen und fassen und halten? Und es widert mich fast, wenn ich an meine eigenen Hände denke, diese festen, schweren, muskulösen, starken Hände, die mit einem Zügelriß das unbotmäßigste Pferd bändigen können. Gegen meinen Willen muß mein Blick nun auch auf die Decke hinabstarren, die zottig und schwer, viel zu schwer für dies vogelleichte Wesen, auf ihren spitzen Knien lastet. Unter dieser undurchsichtigen Hülle liegen tot – ich weiß nicht, ob zerschmettert, gelähmt oder bloß geschwächt, ich habe nie den Mut gehabt, zu fragen – die ohnmächtigen Beine in jene stählerne oder lederne Maschinerie gespannt. Bei jeder Bewegung, erinnere ich mich, hängt sich schwer wie Kettenkugeln diese grausame Apparatur an die versagenden Gelenke, unablässig hat sie dies Widrige klirrend und knirschend mit sich zu schleppen, sie, die Zarte, die Schwächliche, gerade sie, von der man fühlt, daß ihr Schweben und Laufen und Sichaufschwingen natürlicher wäre als Gehen!

Unwillkürlich schauere ich zusammen bei dem Gedanken, und so stark rinnt und rieselt der Riß bis zu den Sohlen, daß die Sporen klingelnd aufzittern. Es kann nur ein ganz minimales, ein kaum hörbares Geräusch gewesen sein, dies silberne Klirren und Klingeln, aber es scheint ihren dünnen Schlaf durchdrungen zu haben. Noch öffnet die beunruhigt Aufatmende nicht die Lider, aber die Hände beginnen bereits aufzuwachen: lose falten sie sich auseinander, dehnen sich, spannen sich; als ob die Finger im Aufwachen gähnten. Dann blinzeln versucherisch die Lider, und befremdet tasten die Augen um sich.

Plötzlich entdeckt mich ihr Blick und wird sofort starr; noch hat der Kontakt vom bloß optischen Schauen nicht hinübergezündet zum gewußten Denken und Erinnern. Aber dann ein Ruck, und sie ist völlig erwacht, sie hat mich erkannt; mit purpurnem Guß stürzt ihr das Blut in die Wangen, vom Herzen mit einem Stoß hochgepumpt. Wieder ist es, als schüttete man in ein kristallenes Glas plötzlich roten Wein.

»Wie dumm«, sagt sie mit scharf zusammengezogenen Brauen und rafft mit einem nervösen Griff die abgesunkene Decke näher an sich, als hätte ich sie nackt überrascht. »Wie dumm von mir! Ich muß einen Augenblick eingeschlafen sein.« Und schon beginnen – ich kenne das Wetterzeichen – die Nasenflügel leise zu zucken. Herausfordernd sieht sie mich an.

»Warum haben Sie mich nicht sofort aufgeweckt? Man beobachtet einen nicht im Schlaf! Das gehört sich nicht. Jeder Mensch sieht lächerlich aus, wenn er schläft.«

Peinlich berührt, sie mit meiner Rücksicht verärgert zu haben, versuche ich, mich in einen dummen Scherz hinüberzuretten. »Besser lächerlich, während man schläft«, sage ich, »als lächerlich, wenn man wach ist.«

Aber schon hat sie sich mit beiden Armen höher die Lehne emporgestemmt, die Falte zwischen den Brauen schneidet tiefer, jetzt beginnt auch um die Lippen das wetterleuchtende Flattern und Flackern. Scharf springt ihr Blick mich an.

»Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«

Der Stoß ist zu unerwartet losgefahren, als daß ich gleich antworten könnte. Aber schon wiederholt sie inquisitorisch:

»Nun, Sie werden doch eine besondere Ursache gehabt haben, uns einfach sitzen und warten zu lassen. Sonst hätten Sie wenigstens abtelephoniert.«

Dummkopf, der ich bin! Gerade diese Frage hätte ich doch voraussehen und im voraus mir eine Antwort zurechtlegen sollen! Statt dessen trete ich verlegen von einem Fuß auf den andern und kaue an der altbackenen Ausrede herum, wir hätten plötzlich Remonteninspektion bekommen. Noch um fünf Uhr hätte ich gehofft, wegpaschen zu können, aber der Oberst hätte uns allen dann noch ein neues Pferd vorführen wollen, und so weiter und so weiter.

Ihr Blick, grau, streng und scharf, weicht nicht von mir. Je umständlicher ich schwätze, um so argwöhnischer spitzt er sich zu. Ich sehe, wie die Finger an der Lehne auf und nieder zucken.

»So«, antwortet sie schließlich ganz kalt und hart. »Und wie endet diese rührende Geschichte von der Remonteninspektion? Hat es der Herr Oberst schließlich gekauft, das funkelnagelneue Pferd?«

Ich spüre bereits, daß ich mich gefährlich verrannt habe. Ein-, zwei-, dreimal schlägt sie mit ihrem losen Handschuh auf den Tisch, als wollte sie eine Unruhe in den Gelenken loswerden. Dann blickt sie drohend auf.

»Schluß jetzt mit dieser dummen Lügerei! Kein einziges Wort von all dem ist wahr. Wie können Sie wagen, mir solchen Unsinn aufzutischen?«

Heftig und heftiger klatscht der lose Handschuh gegen die Tischplatte. Dann schleudert sie ihn entschlossen im Bogen weg.

»Kein Wort ist wahr von Ihrer ganzen Faselei! Kein Wort! Sie sind nicht in der Reitschule gewesen, Sie haben keine Remonteninspektion gehabt. Schon um halb fünf sind Sie im Kaffeehaus gesessen, und dort reitet man meines Wissens keine Pferde zu. Machen Sie mir nichts vor! Unser Chauffeur hat Sie ganz zufällig noch um sechs beim Kartenspiel gesehen.«

Mir stockt noch immer das Wort. Aber sie unterbricht sich brüsk:

»Übrigens, wozu brauch ich mich vor Ihnen zu genieren? Soll ich, weil Sie die Unwahrheit sagen, vor Ihnen Verstecken spielen? Ich fürchte mich ja nicht, die Wahrheit zu sagen. Also, damit Sie es wissen – nein, nicht durch Zufall hat Sie unser Chauffeur im Kaffeehaus gesehen. Sondern ich hab ihn eigens hineingeschickt, um nachzufragen, was mit Ihnen los ist. Ich dachte, Sie seien am Ende krank oder es sei Ihnen was zugestoßen, weil Sie nicht einmal telephoniert haben, und … nun, bilden Sie sich meinetwegen ein, daß ich nervös bin … ich vertrag es eben nicht, daß man mich warten läßt … ich vertrag’s einfach nicht … so hab ich den Chauffeur hineingeschickt. Aber in der Kaserne hat er gehört, Herr Leutnant tarockierten wohlbehalten im Kaffeehaus, und da hab ich dann noch Ilona gebeten, sich zu erkundigen, warum Sie uns derart brüskieren … ob ich Sie vielleicht vorgestern mit etwas beleidigt habe … ich bin ja manchmal wirklich unverantwortlich in meiner blöden Hemmungslosigkeit … So – damit Sie’s sehen – ich schäme mich nicht, Ihnen das alles einzugestehen … Und Sie kramen solche einfältigen Ausreden aus – spüren Sie nicht selbst, wie schäbig das ist, unter Freunden so miserabel zu lügen?«

Ich wollte antworten – ich glaube, ich hatte sogar den Mut, ihr die ganze dumme Geschichte von Ferencz und Jozsi zu erzählen. Aber ungestüm befiehlt sie:

»Keine neuen Erfindungen jetzt … nur keine neuen Unwahrheiten, ich ertrag keine mehr! Mit Lügen bin ich überfüttert bis zum Erbrechen. Von früh bis abends löffelt man sie mir ein: ›Wie gut du heute aussiehst, wie famos du heute marschierst … großartig, es geht schon viel, viel besser‹ – immer dieselben Beruhigungspillen von früh bis abends, und keiner merkt, daß ich daran ersticke. Warum sagen Sie nicht kerzengrad: Ich habe gestern keine Zeit, keine Lust gehabt. Wir haben doch kein Abonnement auf Sie und nichts hätt mich mehr gefreut, als wenn Sie mir durchs Telephon hätten sagen lassen: ›Ich komm heut nicht hinaus, wir bummeln lieber in der Stadt lustig herum.‹ Halten Sie mich für so albern, daß ich’s nicht verstehen sollte, wie Ihnen das manchmal über sein muß, hier tagtäglich den barmherzigen Samariter zu spielen, und daß ein erwachsener Mann lieber herumreitet oder seine gesunden Beine spazierenführt, statt an einem fremden Lehnstuhl herumzuhocken? Nur eins ist mir widerlich und eins ertrag ich nicht: Ausreden und Schwindel und Lügereien – damit bin ich eingedeckt bis an den Hals. Ich bin nicht so dumm, wie ihr alle meint, und kann schon einen guten Brocken Aufrichtigkeit vertragen. Sehen Sie, vor ein paar Tagen kriegten wir eine neue böhmische Aufwaschfrau ins Haus, die alte war gestorben, und am ersten Tag – sie hatte noch mit niemandem gesprochen – merkt sie, wie man mir mit meinen Krücken hinüberhilft in den Fauteuil. Im Schreck läßt sie die Schrubbürste fallen und schreit laut: ›Jeschusch, so ein Unglück, so ein Unglück! Ein so reiches, so vornehmes Fräulein … und ein Krüppel!‹ Wie eine Wilde ist Ilona auf die ehrliche Person losgefahren; gleich wollten sie die Arme entlassen und wegjagen. Aber mich, mich hat das gefreut, mir hat ihr Schrecken wohlgetan, weil es eben ehrlich, weil es menschlich ist, zu erschrecken, wenn man unvorbereitet so was sieht. Ich hab ihr auch sofort zehn Kronen geschenkt, und gleich ist sie in die Kirche gelaufen, um für mich zu beten … Den ganzen Tag hat’s mich noch gefreut, ja, faktisch gefreut, endlich einmal zu wissen, was ein fremder Mensch wirklich empfindet, wenn er mich zum erstenmal sieht … Aber ihr, ihr meint immer, mit eurer falschen Feinheit mich ›schonen‹ zu müssen, und bildet euch ein, daß ihr mir am End’ noch wohltut mit eurer verfluchten Rücksicht … Aber meint ihr, ich hab keine Augen im Kopf? Meint ihr, ich spür nicht hinter eurem Geschwätz und Gestammel das gleiche Grausen und Unbehagen heraus wie bei jener braven, jener einzig ehrlichen Person? Glaubt ihr, ich merk’s nicht, wie es euch mitten in den Atem fährt, wenn ich die Krücken anfaß, und wie ihr hastig Konversation forciert, nur daß ich nichts merke – als ob ich euch nicht durch und durch kennte mit eurem Baldrian und Zucker, Zucker und Baldrian, diesem ganzen ekelhaften Geschleim … Oh, ich weiß haargenau, daß ihr jedesmal aufatmet, wenn ihr die Tür wieder hinter euch habt und mich liegen laßt wie einen Kadaver … genau weiß ich’s, wie ihr dann augenverdreherisch seufzt ›Das arme Kind‹, und gleichzeitig doch höchst zufrieden seid mit euch selbst, da ihr so schonungsvoll eine Stunde, zwei Stunden dem ›armen kranken Kind‹ geopfert habt. Aber ich will keine Opfer! Ich will nicht, daß ihr euch verpflichtet glaubt, mir die tägliche Portion Mitleid zu servieren – ich pfeif auf allergnädigstes Mitgefühl – ein für allemal – ich verzichte auf Mitleid! Wenn Sie kommen wollen, dann kommen Sie, und wenn Sie nicht wollen, dann eben nicht! Aber ehrlich dann und keine Geschichten von Remonten und Pferdeausprobiererei! Ich kann … ich kann die Lügerei und euer ekelhaftes Geschone nicht mehr ertragen!«

Ganz unbeherrscht hat sie die letzten Worte herausgestoßen, brennend die Augen, fahl das Gesicht. Dann löst sich mit einemmal der Krampf. Wie erschöpft fällt der Kopf an die Lehne, und erst allmählich füllt wieder Blut die von der Erregung noch zitternden Lippen.

»So«, atmet sie ganz leise und wie beschämt. »Das mußte einmal gesagt sein! Und jetzt erledigt! Reden wir nicht weiter davon. Geben Sie mir … geben Sie mir eine Zigarette.«

Nun geschieht mir etwas Sonderbares. Ich bin doch sonst leidlich beherrscht und habe feste, sichere Hände. Aber dieser unvermutete Ausbruch hat mich derart erschüttert, daß ich alle Glieder wie gelähmt fühle; nie hat mich irgend etwas in meinem Leben so bestürzt gemacht. Mühsam hole ich eine Zigarette aus der Dose, reiche sie hinüber und zünde ein Streichholz an. Aber beim Hinüberreichen zittern mir die Finger dermaßen, daß ich das brennende Zündhölzchen nicht gerade zu halten vermag und die Flamme im Leeren zuckt und verlischt. Ich muß ein zweites Streichholz anzünden; auch dieses schwankt unsicher in meiner zitternden Hand, ehe es ihre Zigarette entflammt. Sie aber muß unverkennbar an der augenfälligen Ungeschicklichkeit meine Erschütterung wahrgenommen haben, denn es ist eine ganz andere, eine staunend beunruhigte Stimme, mit der sie mich leise fragt:

»Aber was haben Sie denn? Sie zittern ja … Was … was erregt Sie denn so? … Was geht Sie denn das alles an?«

Die kleine Flamme des Streichhölzchens ist erloschen. Ich habe mich stumm gesetzt, und sie murmelt ganz betroffen: »Wie können Sie sich denn so aufregen über mein dummes Geschwätz? … Papa hat recht: Sie sind wirklich ein … ein sehr merkwürdiger Mensch.«

In diesem Augenblick flirrt hinter uns ein leises Surren. Es ist der Lift, der zu unserer Terrasse herauffährt. Johann öffnet den Verschlag, und heraus tritt Kekesfalva mit jener schuldbewußten, scheuen Art, die ihm unsinnigerweise immer die Schultern niederdrückt, sobald er sich der Kranken nähert.

* * *

Ich stehe schleunigst auf, um den Eintretenden zu begrüßen. Er nickt befangen und beugt sich gleich über Edith, um ihr die Stirn zu küssen. Dann entsteht ein merkwürdiges Schweigen. Alle spüren ja alles von allen in diesem Haus; zweifellos muß der alte Mann gefühlt haben, daß eben eine gefährliche Spannung zwischen uns beiden schwingt; so steht er mit gesenkten Augen beunruhigt herum. Am liebsten, ich merke es, flüchtete er gleich wieder zurück. Edith versucht zu helfen.

»Denk dir, Papa, der Herr Leutnant hat heute zum erstenmal die Terrasse gesehen.«

Und »Ja, wunderschön ist es hier«, sage ich, sofort peinlich bewußt werdend, daß ich etwas beschämend Banales ausspreche, und stocke schon wieder. Um die Befangenheit zu lösen, beugt sich Kekesfalva über den Fauteuil.

»Ich fürchte, es wird hier bald zu kühl für dich. Wollen wir nicht lieber hinunter?«

»Ja«, antwortet Edith. Wir sind alle froh, dadurch ein paar ablenkende nichtige Beschäftigungen zu finden; die Bücher zusammenzupacken, ihr den Shawl umzulegen, mit der Glocke zu schellen, deren eine hier wie auf jedem Tisch dieses Hauses bereitliegt. Nach zwei Minuten surrt der Fahrtstuhl hoch und Josef rollt den Fauteuil mit der Gelähmten behutsam hin bis zum Schacht.

»Wir kommen gleich hinunter«, winkt ihr Kekesfalva zärtlich nach, »vielleicht machst du dich zum Abendessen zurecht. Ich kann unterdes mit dem Herrn Leutnant noch ein bißchen im Garten Spazierengehen.«

Der Diener schließt die Tür des Lifts; wie in eine Gruft sinkt der Rollstuhl mit der Gelähmten in die Tiefe. Unwillkürlich haben der alte Mann und ich uns abgewendet. Wir schweigen beide, aber mit einem Mal spüre ich, daß er sich mir ganz zaghaft nähert.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Leutnant, möchte ich gerne etwas mit Ihnen besprechen … das heißt, Sie um etwas bitten … Vielleicht gehen wir hinüber in mein Büro drüben im Verwaltungsgebäude … ich meine natürlich nur, falls es Ihnen nicht lästig ist … Sonst … sonst können wir natürlich auch im Park spazierengehen.«

»Aber es ist mir doch nur eine Ehre, Herr von Kekesfalva«, antworte ich. In diesem Augenblick surrt der Lift zurück, um uns abzuholen. Wir fahren hinab, schreiten quer über den Hof zum Verwaltungsgebäude; mir fällt auf, wie vorsichtig, wie sehr an die Wand gedrückt Kekesfalva am Haus entlangschleicht, wie schmal er sich macht, als fürchte er, ertappt zu werden. Unwillkürlich – ich kann ja nicht anders – gehe ich mit ebenso leisen, vorsichtigen Schritten hinter ihm her.

Am Ende des niederen und nicht sehr sauber gekalkten Verwaltungsgebäudes öffnet er eine Tür; sie führt in sein Kontor, das sich als nicht viel besser eingerichtet erweist als mein eigenes Kasernenzimmer: ein billiger Schreibtisch, morsch und verbraucht, alte verfleckte Strohsessel, an der Wand ein paar alte, offenbar seit Jahren unbenutzte Tabellen über der zerschlissenen Tapete. Auch der muffige Geruch erinnert mich mißlich an unsere eigenen ärarischen Büros. Schon mit dem ersten Blick – wieviel habe ich verstehen gelernt in diesen wenigen Tagen! erkenne ich, daß dieser alte Mann allen Luxus, alle Bequemlichkeit einzig auf sein Kind häuft und für sich selber spart wie ein knickriger Bauer; zum erstenmal habe ich auch, da er mir vorausging, bemerkt, wie abgestoßen sein schwarzer Rock an den Ellbogen glänzt; wahrscheinlich trägt er ihn schon seit zehn oder fünfzehn Jahren.

Kekesfalva schiebt mir den breiten, schwarzledernen Bocksessel des Kontors hin, den einzig bequemen. »Setzen Sie sich, Herr Leutnant, bitte setzen Sie sich«, sagt er mit einem gewissen zärtlich eindringlichen Ton, während er sich selbst, ehe ich zugreifen kann, bloß einen der fragwürdigen Strohsessel heranholt. Nun sitzen wir hart aneinander, er könnte, er sollte jetzt beginnen, und ich warte darauf mit einer begreiflichen Ungeduld, denn was kann er, der reiche Mann, der Millionär, mich armseligen Leutnant zu bitten haben. Aber hartnäckig hält er den Kopf gesenkt, als betrachtete er angelegentlich seine Schuhe. Nur den Atem höre ich aus der vorgeneigten Brust. Er geht gepreßt und schwer.

Endlich hebt Kekesfalva die Stirn, sie ist feucht überperlt, nimmt die angehauchte Brille ab, und ohne diesen blitzenden Schutz wirkt sein Gesicht sofort anders, gleichsam nackter, ärmer und tragischer; wie oft bei Kurzsichtigen erscheinen seine Augen viel stumpfer und müder als unter dem verstärkenden Glas. Auch meine ich an den leicht entzündeten Lidrändern zu erkennen, dieser alte Mann schläft wenig und schlecht. Wieder spüre ich jenes warme Quellen innen – das Mitleid, ich weiß es jetzt schon, bricht vor. Mit einmal sitze ich nicht mehr dem reichen Herrn von Kekesfalva gegenüber, sondern einem alten sorgenvollen Mann.

Aber jetzt setzt er räuspernd an: »Herr Leutnant« – die eingerostete Stimme gehorcht ihm noch immer nicht – »ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten … Ich weiß natürlich, ich habe kein Recht, Sie zu bemühen, Sie kennen uns ja kaum … übrigens, Sie können auch ablehnen … selbstverständlich können Sie ablehnen … Vielleicht ist es eine Anmaßung von mir, eine Zudringlichkeit, aber ich habe vom ersten Augenblick an zu Ihnen Vertrauen gehabt. Sie sind, man spürt das gleich, ein guter, ein hilfreicher Mensch. Ja, ja, ja« – ich mußte eine abwehrende Bewegung gemacht haben – »Sie sind ein guter Mensch. Es ist etwas in Ihnen, das einen sicher macht, und manchmal … habe ich das Gefühl, als ob Sie mir geschickt wären von …« – er stockte, und ich spürte, er wollte sagen, »von Gott« und hatte nur nicht den Mut dazu – »geschickt wären als jemand, zu dem ich ehrlich sprechen kann … Es ist übrigens nicht viel, um das ich Sie bitten möchte … aber ich rede so weiter und weiter und frag Sie gar nicht, ob Sie mir zuhören wollen.«

»Aber gewiß.«

»Ich danke Ihnen … wenn man alt ist, braucht man einen Menschen nur anzusehen und kennt ihn durch und durch … Ich weiß, was ein guter Mensch ist, ich weiß es durch meine Frau, Gott hab sie selig … Das war das erste Unglück, wie sie mir weggestorben ist, und doch, heut sag ich mir, vielleicht war es besser, daß sie das Unglück mit dem Kind nicht hat mitansehen müssen … sie hätte es nicht ertragen. Wissen Sie, wie das anfing vor fünf Jahren … da glaubte ich zuerst nicht dran, daß das lange so bleiben könnte … Wie soll man sich vorstellen können, daß da ein Kind ist wie alle andern und läuft und spielt und saust wie ein Kreisel herum … und plötzlich soll das vorbei sein, für immer vorbei … Und dann, man ist doch aufgewachsen mit einer Ehrfurcht vor den Ärzten … in der Zeitung liest man, was für Wunder sie wirken können, Herzen können sie vernähen und Augen umpflanzen, heißt es … Da mußte doch unsereins überzeugt sein, nicht wahr, daß sie das Einfachste können, was es gibt … daß sie einem Kind … einem Kind, das gesund geboren ist, das immer ganz gesund gewesen war, rasch wieder aufhelfen. Deshalb war ich am Anfang gar nicht sehr erschrocken, denn ich glaubte doch nie daran, nicht einen Augenblick glaubte ich daran, daß Gott so etwas tun könne, daß er ein Kind, ein unschuldiges Kind, für immer schlägt … Ja, wenn es mich getroffen hätte – mich haben meine Beine lang genug herumgetragen. Was brauch ich sie noch … und dann, ich war kein guter Mensch, viel Schlechtes habe ich getan, ich hab auch … Aber was, was sagte ich eben? … Ja … ja also, wenn es mich getroffen hätte, das hätt ich begriffen. Doch wie kann Gott so daneben schlagen auf den Unrechten, den Unschuldigen … und wie soll unsereins begreifen, daß an einem lebendigen Menschen, an einem Kind, die Beine plötzlich tot sein sollen, weil so ein Nichts, ein Bazillus, haben die Ärzte gesagt, und meinen, sie hätten etwas damit gesagt … Aber das ist doch nur ein Wort, eine Ausrede, und das andere, das ist wirklich, daß ein Kind daliegt, auf einmal sind ihm die Glieder starr, es kann nicht mehr gehen und sich nicht mehr regen und man selber steht wehrlos dabei … Das kann man doch nicht begreifen.«

Er wischte sich heftig mit dem Handrücken den Schweiß von dem angenäßten, verwirrten Haar. »Natürlich habe ich alle Ärzte befragt … wo nur einer von den Berühmten war, sind wir zu ihm gefahren … alle habe ich sie mir kommen lassen, und sie haben doziert und lateinisch geredet und diskutiert und Konsilien gehalten, der eine hat das versucht und der andere das, und dann haben sie gesagt, sie hoffen und sie glauben, und haben ihr Geld genommen und sind gegangen und alles ist geblieben, wie es war. Das heißt, etwas besser ist es geworden, eigentlich schon bedeutend besser. Früher hat sie immer flach auf dem Rücken liegen müssen und der ganze Leib war gelähmt … jetzt sind doch wenigstens die Arme, ist der Oberkörper normal, und sie kann allein an ihren Krücken gehn … etwas besser, nein, viel besser, ich darf nicht ungerecht sein, ist es geworden … Aber ganz geholfen hat ihr noch keiner … Alle haben die Achseln gezuckt und gesagt: Geduld, Geduld, Geduld … Nur einer hat ausgehalten mit ihr, einer, der Doktor Condor … ich weiß nicht, ob Sie je von ihm gehört haben. Sie sind doch aus Wien.«

Ich mußte verneinen. Ich hatte den Namen nie gehört.

»Natürlich, wie sollen Sie ihn kennen, Sie sind ja ein gesunder Mensch, und er gehört nicht zu denen, die von sich viel Wesens machen … er ist auch gar nicht Professor, nicht einmal Dozent … ich glaub auch nicht, daß er eine gute Praxis hat … das heißt, er sucht keine große Praxis. Er ist eben ein merkwürdiger, ein ganz besonderer Mensch … ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen recht erklären kann. Ihn interessieren nicht die gewöhnlichen Fälle, nicht, was jeder Bader behandeln kann … ihn interessieren nur die schweren Fälle, nur die, an denen die andern Ärzte mit Achselzucken vorübergehen. Ich kann natürlich nicht, ich ungebildeter Mensch, behaupten, daß Doktor Condor ein besserer Arzt ist als die andern … nur das weiß ich, daß er ein besserer Mensch ist als die andern. Ich hab ihn zum erstenmal kennengelernt, damals, bei meiner Frau, und gesehen, wie er gekämpft hat um sie … Er war der einzige, der bis zum letzten Augenblick nicht nachgeben wollte, und damals hab ich’s gespürt – dieser Mensch lebt und stirbt mit jedem Kranken mit. Er hat, ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke … er hat eben irgendeine Passion, stärker zu sein als die Krankheit … nicht wie die andern bloß den Ehrgeiz, sein Geld zu kriegen und Professor und Hofrat zu werden … er denkt eben nicht von sich aus, sondern von dem andern her, von dem Leidenden … oh, er ist ein wunderbarer Mensch!«

Der alte Mann war ganz in Erregung geraten, seine Augen, eben noch müde, bekamen einen heftigen Glanz.

»Ein wunderbarer Mensch, sage ich Ihnen, der läßt niemanden im Stich; für ihn ist jeder Fall eine Verpflichtung … ich weiß, ich kann das nicht richtig ausdrücken … aber es ist bei ihm so, als ob er sich jemand schuldig fühlte, wenn er nicht helfen kann … selber schuldig fühlte … und darum – Sie werden’s mir nicht glauben, aber ich schwör Ihnen, es ist wirklich wahr – das eine Mal, wie ihm nicht gelungen ist, was er sich vorgenommen hat … er hatte einer Frau, die erblindete, versprochen, er bringe sie durch … und wie sie dann wirklich erblindet ist, hat er diese Blinde geheiratet, denken Sie sich, als junger Mensch eine blinde Frau, sieben Jahre älter als er, nicht schön und ohne Geld, eine hysterische Person, die jetzt auf ihm lastet und ihm gar nicht dankbar ist … Nicht wahr, das zeigt doch, was für ein Mensch das ist, und Sie verstehen, wie glücklich ich bin, so jemanden gefunden zu haben … einen Menschen, der sich sorgt um mein Kind wie ich selber. Ich hab ihn auch eingesetzt in meinem Testament … wenn einer, wird er ihr helfen, Gott geb es! Gott gebe es!«

Der alte Mann hielt beide Hände zusammengepreßt wie im Gebet. Dann rückte er mit einem Ruck näher heran.

»Und nun hören Sie, Herr Leutnant. Ich wollte Sie doch um etwas bitten. Ich sagte Ihnen schon, was für ein anteilnehmender Mensch dieser Doktor Condor ist … Aber sehen Sie, verstehen Sie … gerade, daß er so ein guter Mensch ist, das beunruhigt mich auch … Ich fürchte immer, verstehen Sie … ich fürchte, daß er aus Rücksicht auf mich mir nicht die Wahrheit sagt, nicht die ganze Wahrheit … Immer verspricht und vertröstet er, es würde bestimmt besser, ganz gesund würde das Kind werden … aber immer, wenn ich ihn genau frage, wann denn, und wie lange wird es noch dauern, dann weicht er aus und sagt bloß: Geduld, Geduld! Aber man muß doch eine Gewißheit haben … ich bin ein alter, ein kranker Mann, ich muß doch wissen, ob ich’s noch erlebe und ob sie überhaupt gesund wird, ganz gesund … nein, glauben Sie mir, Herr Leutnant, ich kann nicht mehr so leben … ich muß wissen, ob es sicher ist, daß sie geheilt wird und wann … ich muß es wissen, ich ertrag diese Unsicherheit nicht länger.«

Er stand auf, überwältigt von seiner Erregung, und trat mit drei hastig-heftigen Schritten ans Fenster. Ich kannte das nun schon an ihm. Immer wenn ihm die Tränen in die Augen stiegen, rettete er sich in dieses brüske Wegwenden. Auch er wollte kein Mitleid – weil er ihr doch ähnlich war! Ungeschickt tastete zugleich seine rechte Hand in die rückwärtige Rocktasche des tristen schwarzen Jacketts, knüllte ein Tuch heraus; und vergeblich, daß er dann so tat, als hätte er sich nur den Schweiß von der Stirne gewischt: ich sah zu deutlich die geröteten Lider. Einmal, zweimal ging er im Zimmer auf und nieder; es stöhnte und stöhnte, ich wußte nicht, waren es die abgemorschten Balken unter seinem Schritt oder war er es selbst, der morsche, alte Mann. Dann holte er wie ein Schwimmer vor dem Abstoß wieder Atem.

»Verzeihen Sie … ich wollte nicht davon sprechen … was wollte ich? Ja … morgen kommt Doktor Condor wieder aus Wien, er hat sich telephonisch angesagt … er kommt immer regelmäßig jede zwei oder drei Wochen, um nachzuschauen … Wenn’s nach mir ginge, ließe ich ihn überhaupt nicht weg … er könnte doch hier wohnen im Haus, jeden Preis würde ich ihm zahlen. Aber er sagt, er braucht eine gewisse Distanz in der Beobachtung, um … eine gewisse Distanz, um … ja … was wollte ich sagen? … Ich weiß schon … also morgen kommt er und wird nachmittags Edith untersuchen; er bleibt dann jedesmal zum Abendessen und fährt nachts mit dem Schnellzug zurück. Und nun hab ich mir gedacht, wenn jemand ihn so ganz zufällig fragte, jemand ganz Fremder, ein Unbeteiligter, jemand, den er gar nicht kennt … ihn fragte so … so ganz zufällig, wie man sich eben nach einem Bekannten erkundigt … ihn fragte, was das eigentlich auf sich hat mit der Lähmung und ob er meint, daß das Kind überhaupt noch je gesund wird, ganz gesund … hören Sie: ganz gesund, und wie lang er glaubt, daß es dauert … ich habe das Gefühl, Sie wird er nicht anlügen … Sie braucht er doch nicht zu schonen. Ihnen kann er doch ruhig die Wahrheit sagen … bei mir hält ihn vielleicht was zurück, ich bin der Vater, bin ein alter, kranker Mann, und er weiß, wie es mir das Herz zerreißt … Aber natürlich dürfen Sie ihn nicht merken lassen, daß Sie mit mir gesprochen haben … ganz zufällig müssen Sie darauf zu sprechen kommen, so wie man eben bei einem Arzt sich erkundigt … Wollen Sie … würden Sie das für mich tun?«

Wie sollte ich mich weigern? Vor mir saß mit schwimmenden Augen der alte Mann und wartete auf mein Ja wie auf die Posaune des Jüngsten Gerichts. Selbstverständlich versprach ich ihm alles. Mit einem Ruck stießen mir seine beiden Hände entgegen.

»Ich habe es gleich gewußt … schon damals, als Sie wiederkamen und so gut waren mit dem Kind, nach … nun, Sie wissen ja … da habe ich gleich gewußt, das ist ein Mensch, der mich versteht … der und nur der wird ihn für mich fragen und … ich versprech’s Ihnen, ich schwör’s Ihnen, niemand wird vorher und nachher davon erfahren, nicht Edith, nicht Condor, nicht Ilona … nur ich werde wissen, was für einen Dienst, was für einen ungeheuren Dienst Sie mir erwiesen haben.«

»Aber wieso denn, Herr von Kekesfalva … das ist doch wirklich nur eine Kleinigkeit.«

»Nein, das ist keine Kleinigkeit … das ist ein sehr großer … ein ganz großer Dienst, den Sie mir erweisen … ein ganz großer Dienst, und wenn …« – er duckte sich ein wenig und auch die Stimme kroch gleichsam scheu zurück – »… wenn ich meinerseits einmal etwas … etwas für Sie tun könnte … vielleicht haben Sie …«

Ich mußte eine erschreckte Bewegung gemacht haben (wollte er mich gleich bezahlen?), denn er fügte in jener stammeligen Art, die bei ihm jedesmal starke Erregung begleitete, hastig hinzu:

»Nein, mißverstehen Sie mich nicht … ich meine doch … ich meine nichts Materielles … ich meine nur … ich meine … ich habe gute Verbindungen … ich kenne eine Menge Leute in den Ministerien, auch im Kriegsministerium … und es ist doch immer gut, wenn man heutzutage jemanden hat, auf den man zählen kann … nur so mein ich’s natürlich … Es kann für jeden ein Augenblick kommen … nur das … nur das wollte ich sagen.«

Die scheue Verlegenheit, mit der er mir seine Hände anbot, beschämte mich. Die ganze Zeit über hatte er mich nicht ein einziges Mal angeblickt, sondern immer hinab wie zu seinen eigenen Händen gesprochen. Jetzt erst sah er unruhig auf, tastete nach der abgelegten Brille und nestelte sie mit zitternden Fingern an.

»Vielleicht wär’s besser«, murmelte er dann, »wir gehen jetzt hinüber, sonst … sonst fällt es Edith auf, daß wir so lange fortbleiben. Man muß leider furchtbar behutsam mit ihr sein; seit sie krank ist, hat sie … hat sie irgendwie schärfere Sinne bekommen, die andere nicht haben; von ihrem Zimmer her weiß sie alles, was im Haus vorgeht … alles errät sie, eh man’s recht ausgesprochen hat … Da könnte sie am Ende … darum möchte ich vorschlagen, wir gehen hinüber, ehe sie Verdacht schöpft.«

Wir gingen hinüber. Im Salon wartete Edith bereits in ihrem Rollstuhl. Als wir eintraten, hob sie ihren grauen, scharfen Blick, als wollte sie unseren etwas verlegen gesenkten Stirnen ablesen, was wir beide gesprochen. Und da wir keinerlei Andeutung machten, blieb sie den ganzen Abend auffällig einsilbig und in sich gekehrt.

* * *

Als eine »Kleinigkeit« hatte ich Kekesfalva gegenüber jenen Wunsch bezeichnet, den mir noch unbekannten Arzt möglichst unbefangen über die Genesungsmöglichkeiten der Gelähmten auszukundschaften, und von außen her betrachtet war mir damit wirklich nur eine unbeträchtliche Bemühung auferlegt. Aber ich vermag schwer zu schildern, wieviel dieser unvermutete Auftrag mir persönlich bedeutete. Nichts erhöht ja in einem jungen Menschen dermaßen das Selbstbewußtsein, nichts fördert derart die Formung seines Charakters, als wenn er unerwartet sich vor eine Aufgabe gestellt sieht, die er ausschließlich aus eigener Initiative und eigener Kraft zu bewältigen hat. Selbstverständlich war mir schon früher Verantwortung zugefallen, aber immer war es eine dienstliche, eine militärische gewesen, immer bloß eine Leistung, die ich als Offizier auf Befehl meiner Vorgesetzten und im Rahmen eines eng umschriebenen Wirkungskreises durchzuführen hatte; etwa eine Schwadron zu kommandieren, einen Transport zu führen, Pferde einzukaufen, Streitigkeiten der Mannschaft zu schlichten. All diese Befehle und ihre Durchführung aber standen innerhalb der ärarischen Norm. Sie waren gebunden an geschriebene oder gedruckte Instruktionen, und im Zweifelsfall brauchte ich nur einen älteren und erfahreneren Kameraden um Rat anzugehen, um mich meines Mandats verläßlich zu entledigen. Die Bitte Kekesfalvas dagegen sprach nicht den Offizier in mir an, sondern jenes mir noch ungewisse innere Ich, dessen Fähigkeit und Leistungsgrenzen ich erst zu entdecken hatte. Und daß dieser fremde Mensch gerade mich in seiner Not unter allen seinen Freunden und Bekannten auswählte, dieses Vertrauen beglückte mich mehr als jedes bisher erhaltene dienstliche oder kameradschaftliche Lob.

Allerdings, dieser Beglückung war auch eine gewisse Bestürzung verschwistert, denn sie offenbarte mir neuerdings, wie stumpf und lässig bisher meine Anteilnahme gewesen. Wie hatte ich Wochen und Wochen in diesem Haus verkehren können, ohne die natürlichste, die selbstverständlichste Frage zu fragen: wird diese Arme dauernd gelähmt bleiben? Kann die ärztliche Kunst nicht eine Heilung finden für diese Schwächung der Glieder? Unerträgliche Schande: nicht ein einziges Mal hatte ich mich bei Ilona, bei ihrem Vater, bei unserem Regimentsarzt erkundigt; fatalistisch hatte ich die Tatsache des Lahm-seins als Faktum hingenommen; wie ein Schuß fuhr darum die Unruhe, die den Vater seit Jahren quälte, in mich hinein. Wie, wenn jener Arzt dieses Kind wirklich von seinen Leiden erlösen könnte! Wenn diese armen gefesselten Beine wieder frei ausschreiten könnten, wenn dies von Gott betrogene Geschöpf einmal wieder hinwehen könnte im Lauf, treppauf, treppab, dem eigenen Lachen nachschwingend, beglückt und beseligt! Wie ein Rausch überfiel mich diese Möglichkeit; lustvoll war es, auszudenken, wie wir dann zu zweit, zu dritt zu Pferd über die Felder sprengen würden, wie sie, statt mich in ihrem Gefängnisraum zu erwarten, schon am Tor mich begrüßen und auf Spaziergängen begleiten könnte. Ungeduldig zählte ich jetzt die Stunden, um jenen fremden Arzt möglichst bald auszukundschaften, ungeduldiger vielleicht als Kekesfalva selbst; keine Aufgabe innerhalb meines eigenen Lebens war mir je so wichtig gewesen.

Früher als sonst (ich hatte mich eigens freigemacht) erschien ich darum am nächsten Tage. Diesmal empfing mich Ilona allein. Der Arzt aus Wien sei gekommen, erklärte sie mir, er sei jetzt bei Edith und scheine sie diesmal besonders gründlich zu untersuchen. Zweieinhalb Stunden sei er schon da, und wahrscheinlich würde Edith dann zu müde sein, um noch herüberzukommen; ich müßte diesmal mit ihr allein vorliebnehmen – das heißt, fügte sie bei, wenn ich nichts Besseres vorhätte.

Aus dieser Bemerkung ersah ich zu meiner Freude (es macht immer eitel, ein Geheimnis nur zu zweit zu wissen), daß Kekesfalva sie nicht in unsere Vereinbarung eingeweiht hatte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Wir spielten Schach, um die Zeit zu vertreiben, und es dauerte noch eine gute Weile, ehe die ungeduldig erwarteten Schritte sich im Nebenzimmer hören ließen. Endlich traten Kekesfalva und Doktor Condor in lebhaftem Gespräch herein, und ich mußte hart an mich halten, eine gewisse Betroffenheit zu unterdrücken, denn mein erster Eindruck, als ich diesem Doktor Condor gegenüberstand, war der einer großen Enttäuschung. Immer arbeitet ja, wenn uns von einem Menschen, den wir noch nicht kennen, viel und Interessantes berichtet wird, unsere visuelle Phantasie sich im voraus ein Bild aus und verwendet dazu verschwenderisch ihr kostbarstes, ihr romantischestes Erinnerungsmaterial. Um mir einen genialen Arzt, als den Kekesfalva mir Condor doch geschildert hatte, vorzustellen, hatte ich mich an jene schematischen Merkmale gehalten, mit Hilfe derer der Durchschnittsregisseur und Theaterfriseur den Typus »Arzt« auf die Szene stellt: durchgeistigtes Antlitz, scharf und durchdringend das Auge, überlegen die Haltung, blitzend und geistreich das Wort – rettungslos fallen wir ja immer wieder dem Wahn anheim, die Natur zeichne besondere Menschen durch eine besondere Prägung schon für den ersten Blick aus. Einen peinlichen Magenstoß empfand ich darum, als ich mich unversehens vor einem untersetzten, dicklichen Herrn, kurzsichtig und glatzköpfig, den zerdrückten grauen Anzug mit Asche bestäubt, die Krawatte schlecht gebunden, zu verbeugen hatte; statt des vorgeträumten, scharf diagnostizierenden Blicks kam mir hinter einem billigen Stahlkneifer ein ganz lässiger und eher schläfriger entgegen. Noch ehe Kekesfalva mich vorgestellt hatte, reichte Condor mir eine kleine, feuchte Hand und wandte sich bereits wieder weg, um beim Rauchtisch eine Zigarette anzuzünden. Faul reckte er die Glieder.

»So, da wären wir. Aber daß ich’s Ihnen gleich gestehe, lieber Freund, ich habe einen furchtbaren Hunger; es wäre famos, wenn wir bald zu essen kriegten. Falls das Diner noch nicht funktioniert, kann mir Josef vielleicht irgend eine Kleinigkeit vorausschicken, ein Butterbrot oder was immer.« Und, breit sich niederlassend im Fauteuil: »Jedesmal vergeß ich von neuem, daß grad dieser Nachmittagsschnellzug keinen Speisewagen hat. Wieder einmal eine echt österreichische Staatsgleichgültigkeit …« Und: »Ah, bravo«, unterbrach er sich, als der Diener die Schiebetür des Speisezimmers zurückschob, »auf deine Pünktlichkeit kann man sich verlassen, Josef. Dafür werd ich auch eurem Herrn Oberkoch Ehre antun. Ich bin heut durch die verdammte Hetzerei nicht einmal dazugekommen, Mittag zu essen.«


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