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Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца
Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца
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Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца

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»Ich muß Ihnen noch danken für die wunderbaren Blumen … wirklich wunderbare Blumen sind das, sehen Sie nur, wie schön sie sich in der Vase machen. Und dann … und dann … ich muß mich auch entschuldigen für meine dumme Unbeherrschtheit … Schrecklich, wie ich mich benommen habe … die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, so habe ich mich geschämt. Sie haben es doch so lieb gemeint und … wie konnten Sie denn eine Ahnung haben. Und außerdem« – (sie lacht plötzlich scharf und nervös) – »außerdem haben Sie meinen innersten Gedanken erraten … ich hatte mich doch mit Absicht so gesetzt, daß ich den Tanzenden zusehen konnte, und gerade als Sie kamen, hatte ich mir nichts so sehr gewünscht, als mitzutanzen … ich bin ja ganz vernarrt in den Tanz. Stundenlang kann ich zusehen, wie andere tanzen – so zusehen, daß ich selbst jede Bewegung bis in mich hinein spüre … wirklich, jede Bewegung. Nicht der andere tanzt dann, ich bin es selbst, die sich dreht, sich beugt, die nachgibt und sich führen, sich schwingen läßt … so närrisch kann man sein, das vermuten Sie vielleicht gar nicht … Schließlich, früher als Kind hab ich schon ganz gut getanzt und furchtbar gern … und immer, wenn ich jetzt träume, ist es vom Tanz. Ja, so dumm es klingt, ich tanze im Traum, und vielleicht ist es gut für Papa, daß mir das mit … daß mir das passiert ist, sonst wäre ich von zu Hause weggelaufen und Tänzerin geworden … Nichts passioniert mich so, und ich denk mir, es muß herrlich sein, mit seinem Körper, mit seiner Bewegung, mit seinem ganzen Sein jeden Abend hunderte und hunderte Menschen zu packen, zu fassen, aufzuheben … herrlich muß das sein … übrigens, damit Sie sehen, wie närrisch ich bin … ich sammle alle Bilder von großen Tänzerinnen. Alle habe ich, die Saharet, die Pawlowa, die Karsawina. Von allen habe ich die Photographien und in allen ihren Rollen und Posen. Warten Sie, ich zeige sie Ihnen … dort, in der Schatulle liegen sie … dort beim Kamin … dort in der chinesischen Lackschatulle« – (Ihre Stimme wird plötzlich ärgerlich vor Ungeduld) – »Nein, nein, nein, dort links neben den Büchern … ach, sind Sie ungeschickt … Ja, das ist sie« – (ich hatte die Schatulle endlich gefunden und brachte sie) – »Sehn Sie, das da, das zu oberst liegt, ist mein Lieblingsbild, die Pawlowa als sterbender Schwan … ach, wenn ich ihr nur nachreisen, wenn ich sie nur sehen könnte, ich glaube, es wäre mein glücklichster Tag.«

Die rückwärtige Tür, durch die Ilona sich entfernt hatte, beginnt sich leise in den Scharnieren zu bewegen. Hastig, wie ertappt, mit einem trockenen, knallenden Wurf klappt Edith die Schatulle zu. Es klingt wie ein Befehl, den sie mir jetzt zuwirft:

»Nichts davon vor den andern! Kein Wort von dem, was ich Ihnen gesagt habe.«

Es ist der weißhaarige Diener mit den schöngeschnittenen Franz Joseph-Koteletten, der die Tür vorsichtig öffnet; hinter ihm schiebt Ilona einen reichgedeckten Teetisch auf Gummirädern herein. Sie serviert, setzt sich zu uns, und sofort fühle ich mich wieder sicherer. Den willkommenen Anlaß zur Konversation gibt die mächtige Angorakatze, die unhörbar mit dem Teewagen hereingeschlichen ist und sich nun mit unbefangener Vertraulichkeit an meinen Beinen reibt. Ich bewundere die Katze, dann beginnt ein Hin- und Herfragen, wie lange ich hier sei und wie ich mich in der Garnison fühle, ob ich den Leutnant Soundso kenne, ob ich oft nach Wien fahre – unwillkürlich entsteht ein landläufiges, unbeschwertes Gespräch, in dem sich die arge Spannung unmerklich löst. Allmählich traue ich mich sogar schon, die beiden Mädchen ein bißchen von der Seite anzusehen, völlig verschieden ist die eine von der andern, Ilona schon ganz Frau, sinnlich warm, voll, üppig, gesund; neben ihr wirkt Edith, halb Kind und halb Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, vielleicht achtzehn, noch irgendwie unfertig. Sonderbarer Kontrast: mit der einen möchte man tanzen, möchte man sich küssen, die andere wie eine Kranke verwöhnen, sie schonend streicheln, sie behüten und vor allem beschwichtigen. Denn eine merkwürdige Unruhe geht von ihrem Wesen aus. Nicht einen Augenblick hält ihr Gesicht still; bald blickt sie nach rechts, bald nach links, bald spannt sie sich auf, bald lehnt sie sich wie erschöpft zurück; und mit der gleichen Nervosität, wie sie sich bewegt, spricht sie auch, immer sprunghaft, immer staccato, immer ohne Pausen. Vielleicht, denke ich mir, daß diese Unbeherrschtheit und Unruhe eine Kompensation ist für die aufgezwungene Unbeweglichkeit ihrer Beine, vielleicht auch ein ständiges leichtes Fieber, das ihre Gesten und ihr Gespräch rascher taktiert. Aber mir bleibt wenig Zeit zum Beobachten. Denn sie versteht mit ihren raschen Fragen und der leichten, fliegenden Art ihres Erzählens die Aufmerksamkeit völlig auf sich zu ziehen; überrascht gerate ich in ein anregendes und interessantes Gespräch.

Eine Stunde dauert das. Vielleicht sogar anderthalb Stunden. Dann schattet mit einem Mal vom Salon her eine Gestalt; vorsichtig tritt jemand ein, als hätte er Furcht, zu stören. Es ist Kekesfalva.

»Bitte, bitte«, drückt er mich, da ich respektvoll aufstehen will, und beugt sich dann zu einem flüchtigen Kuß über die Stirn des Kindes. Wieder trägt er den schwarzen Rock mit dem weißen Vorstoß und der altmodischen Binde (ich habe ihn nie anders gesehen); wie ein Arzt sieht er aus mit seinen behutsam beobachtenden Augen hinter der goldenen Brille. Und wirklich wie ein Arzt an den Rand eines Krankenbetts, setzt er sich vorsichtig hin zu der Gelähmten. Merkwürdig, mit dem Augenblick, da er gekommen, scheint das Zimmer melancholischer zu schatten; die ängstliche Art, mit der er manchmal prüfend und zärtlich von der Seite auf sein Kind blickt, hemmt und dunkelt den Rhythmus unseres bisher unbefangenen Geplauders. Auch er empfindet bald unsere Befangenheit und sucht nun seinerseits eine Konversation zu erzwingen. Er fragt gleichfalls nach dem Regiment, dem Rittmeister, erkundigt sich nach dem früheren Oberst, der jetzt als Divisionär im Kriegsministerium sei. Er scheint seit Jahren unsere Personalangelegenheiten überraschend genau zu kennen, und ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, daß er aus einer bestimmten Absicht bei jedem einzelnen hohen Offizier seine besondere Vertrautheit besonders betont.

Zehn Minuten noch, denke ich mir, dann kann ich mich unauffällig empfehlen; da klopft es abermals leise an der Tür, der Diener tritt ein, unhörbar, als ob er bloßfuß ginge, und flüstert Edith etwas ins Ohr. Unbeherrscht fährt sie auf.

»Er soll warten. Oder nein, er soll mich überhaupt heute in Ruhe lassen. Er soll weggehen, ich brauche ihn nicht.«

Wir sind alle geniert durch ihre Heftigkeit, und ich erhebe mich mit dem peinlichen Gefühl, zu lang geblieben zu sein. Aber gleich rücksichtslos wie den Diener herrscht sie mich an:

»Nein, bleiben Sie! Es hat gar nichts zu sagen.«

Eigentlich liegt in dem befehlshaberischen Ton eine Ungezogenheit. Auch der Vater scheint das Peinliche zu empfinden, denn mit hilflos bekümmertem Gesicht mahnt er:

»Aber Edith …«

Und nun spürt sie selbst, vielleicht an seiner Erschrockenheit, vielleicht an meinem verlegenen Dastehen, daß ihr die Nerven durchgegangen sind, denn sie wendet sich mir plötzlich zu.

»Verzeihen Sie. Josef hätte wirklich warten können, statt da hereinzupoltern. Es ist ja nichts als die tägliche Quälerei, der Masseur, der mit mir Streckübungen macht. Der reinste Unsinn, eins, zwei, eins, zwei, auf, ab, ab, auf; davon soll alles auf einmal gut werden. Die neueste Erfindung unseres Herrn Doktors und eine völlig überflüssige Sekkatur. Sinnlos wie alle andern.«

Herausfordernd sieht sie ihren Vater an, als ob sie ihn verantwortlich machte. Verlegen (er schämt sich vor mir) beugt sich der alte Mann zu ihr nieder.

»Aber Kind … glaubst du wirklich, daß Doktor Condor …«

Doch schon hält er inne, denn um ihren Mund hat ein Zucken begonnen, die schmalen Nasenflügel erzittern. Genau so hat es damals um die Lippen gebebt, und schon ängstige ich mich vor einem neuen Ausbruch. Aber plötzlich errötet sie und murmelt nachgiebig:

»Nun gut, ich geh schon, obwohl’s gar keinen Sinn hat, gar keinen Sinn. Verzeihen Sie, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie kommen bald wieder.«

Ich verbeuge mich und will mich verabschieden. Aber bereits hat sie sich’s wieder überlegt.

»Nein, bleiben Sie noch mit Papa, während ich abmarschiere« – sie betont das letzte Wort »abmarschiere« so scharf und staccato wie eine Drohung. Dann faßt sie die kleine bronzene Glocke, die auf dem Tisch steht, und klingelt – später erst habe ich bemerkt, daß überall im ganzen Haus in ihrer Greifnähe solche Glocken auf allen Tischen standen, damit sie jederzeit jemand herankommandieren könne, ohne auch nur einen Augenblick warten zu müssen. Die Glocke klingelt scharf und schrill. Sofort erscheint wieder der Diener, der bei ihrem Ausbruch diskret verschwunden war.

»Hilf mir«, befiehlt sie ihm und wirft die Pelzdecke ab. Ilona beugt sich zu ihr, um ihr etwas zuzuflüstern, aber »Nein«, herrscht die sichtbar Erregte die Freundin unwillig an. »Josef soll mich nur aufstützen. Ich geh schon allein.«

Was jetzt kommt, ist furchtbar. Der Diener beugt sich über sie und hebt mit einem offenbar eingelernten Griff den leichten Körper unter den Achseln mit beiden Händen hoch. Wie sie nun aufrecht steht, mit beiden Händen sich an der Lehne des Fauteuils anhaltend, mißt sie uns alle erst einzeln mit einem herausfordernden Blick; dann greift sie nach den beiden Stöcken, die unter der Decke verborgen lagen, beißt die Lippen fest zusammen, stemmt sich auf die Krücken und – tapp-tapp, tock-tock – stapft, schwankt, stößt sie sich vorwärts, schief und hexenhaft, indes der Diener hinter ihr mit vorgebreiteten Armen wacht, um sie bei einem Ausgleiten oder Nachgeben sofort aufzufangen. Tapp-tapp, tock-tock, wieder ein Schritt und wieder einer, dazwischen klirrt und knirscht etwas leise wie von gespanntem Leder und Metall: sie muß – ich traue mich nicht, auf ihre armen Beine zu sehen – irgendwelche Stützmaschinen an den Fußgelenken tragen. Wie unter einem Eisgriff krampft sich mir das Herz zusammen bei diesem forcierten Gewaltmarsch, denn ich verstehe sofort die demonstrative Absicht darin, daß sie sich nicht helfen oder in einem Rollstuhl hinausfahren läßt: sie will mir, gerade mir, sie will uns allen zeigen, daß sie ein Krüppel ist. Sie will uns wehtun aus irgendeiner geheimnisvollen Rachsucht der Verzweiflung, uns peinigen mit ihrer Pein, uns, die Gesunden, an Stelle Gottes anklagen. Aber gerade an dieser furchtbaren Herausforderung fühle ich – und noch tausendfach stärker als bei ihrem früheren verzweifelten Ausbruch, da ich sie zum Tanzen aufforderte – wie grenzenlos sie unter ihrer Hilflosigkeit leiden muß. Endlich – es dauert eine Ewigkeit – ist sie die paar Schritte bis zur Türe hin- und hergeschwankt, gewaltsam sich von einer Krücke auf die andere werfend mit dem ganzen Gewicht ihres geschüttelten, geschleuderten schmalen Körpers; ich finde nicht den Mut, ein einziges Mal scharf hinzublicken. Denn schon der harte, trockene Ton der Krücken, dieses Tock-tock des Stockaufstoßens beim Ausschreiten, das Kreischen und Schleifen der Maschinen und dazu das dumpfe Keuchen der Anstrengung beklemmt und erregt mich dermaßen, daß ich mein Herz bis an den Stoff der Uniform schlagen spüre. Schon hat sie das Zimmer verlassen, und noch immer horche ich atemlos zu, wie hinter der verschlossenen Tür das schreckliche Geräusch leiser wird und endlich erlischt.

Nun erst, da es vollkommen still geworden ist, wage ich den Blick wieder zu heben. Der alte Mann – ich merke es erst jetzt – muß unterdes leise aufgestanden sein und blickt angestrengt zum Fenster hinaus – etwas zu angestrengt blickt er hinaus. Ich sehe im unsicheren Gegenlicht nur seinen Schattenriß, aber die Schultern dieser gebeugten Gestalt zucken in zitternden Linien. Auch er, der Vater, der täglich sein Kind sich so hinquälen sieht, auch er ist von diesem Anblick zernichtet.

Die Luft steht starr im Zimmer zwischen uns beiden. Nach einigen Minuten wendet die dunkle Gestalt sich endlich um und kommt mit unsicherem Schritt, als ginge sie über glitschigen Grund, leise heran:

»Bitte nehmen Sie’s dem Kind nicht übel, Herr Leutnant, wenn sie ein wenig brüsk war, aber … Sie wissen ja nicht, wie viel man sie gequält hat in all diesen Jahren … immer etwas anderes, und es geht so furchtbar langsam vorwärts, ich versteh ja, daß sie ungeduldig wird. Aber was sollen wir tun? Man muß doch alles versuchen, man muß doch.«

Der alte Mann ist vor dem verlassenen Teetisch stehengeblieben, er blickt mich nicht an, während er spricht. Starr hält er die von den grauen Lidern fast verdeckten Augen auf den Tisch gerichtet. Wie ein Träumender greift er in die offene Zuckerdose, faßt ein viereckiges Stück, dreht es zwischen den Fingern hin und her, starrt es sinnlos an und legt es wieder weg; etwas von einem Trunkenen ist in seinem Gehaben. Noch immer kann er den Blick von dem Teetisch nicht abziehen, als hielte ihn dort etwas Besonderes im Bann. Unbewußt nimmt er einen Löffel, hebt ihn auf, legt ihn wieder hin und spricht dann gleichsam auf den Löffel zu:

»Wenn Sie wüßten, wie das Kind früher war! Den ganzen Tag ging das treppauf, treppab, sie sauste nur so über die Stiegen und durch die Zimmer, daß uns angst und bange wurde. Mit elf Jahren ritt sie auf ihrem Pony die ganzen Wiesen in einer Karriere entlang, keiner konnte sie einholen. Oft hatten wir Furcht, meine selige Frau und ich, so tollkühn war sie, so übermütig und behend, so leicht war ihr alles. Immer hatte man das Gefühl, sie brauchte nur die Arme auszubreiten und könnte fliegen … und gerade ihr mußte das zustoßen, gerade ihr …«

Der Scheitel zwischen den dünnen, weißen Haaren beugt sich immer tiefer über den Tisch. Noch immer stochert die nervöse Hand zwischen all den verstreuten Dingen herum, statt des Löffels jetzt eine müßige Zuckerzange fassend und damit runde merkwürdige Runen auf dem Tisch ziehend (ich weiß: es ist Scham, es ist Verlegenheit, er fürchtet sich nur, mich anzublicken).

»Und dabei, wie leicht ist es noch heute, sie froh zu machen. An der kleinsten Kleinigkeit kann sie sich freuen wie ein Kind. Sie kann lachen über den dümmsten Scherz und sich begeistern an einem Buch – ich wollte, Sie hätten sehen können, wie entzückt sie war, als Ihre Blumen kamen und die Angst von ihr fiel, sie hätte Sie beleidigt … Sie ahnen ja nicht, wie fein sie alles empfindet … alles spürt sie viel stärker als unsereiner. Ich weiß genau, niemand ist jetzt mehr verzweifelt als sie selbst, daß sie so unbeherrscht gewesen … Aber wie soll man … wie soll man sich denn beherrschen können … wie soll ein Kind immer wieder Geduld aufbringen, wenn es so langsam vorwärts geht, wie stillhalten, wenn man so geschlagen wird von Gott und hat doch nichts getan … niemandem etwas getan!«

Er starrte noch immer hin auf die imaginären Figuren, die seine zitternde Hand mit der Zuckerzange ins Leere zeichnete. Und plötzlich klirrte er sie wie erschreckt hin. Es war, als ob er aufwachte und dadurch erst bewußt würde, nicht zu sich allein, sondern vor einem völlig Fremden gesprochen zu haben. Mit einer ganz andern Stimme, einer wachen und gedrückten, begann er sich ungeschickt zu entschuldigen.

»Verzeihen Sie, Herr Leutnant … wie kommen Sie dazu, daß ich Sie mit unseren Sorgen beschwere! Es war nur so, weil … es kam nur so über mich … und ich wollte Ihnen doch bloß erklären … Ich möchte nicht, daß Sie von ihr schlecht denken … daß Sie …«

Ich weiß nicht, wieso ich den Mut fand, den verlegen Stammelnden zu unterbrechen und auf ihn zuzugehen. Aber plötzlich nahm ich mit beiden Händen die Hand des alten, fremden Mannes. Ich sagte nichts. Ich faßte nur seine kalte, knochige, seine unwillkürlich zurückscheuende Hand und drückte sie. Er starrte mich erstaunt an, die Brillengläser blitzten schräg empor, und hinter ihnen tastete ein unsicherer Blick weich und verlegen nach dem meinen. Ich hatte Angst, er würde jetzt etwas sagen. Aber er tat es nicht; nur die schwarzen, runden Pupillen weiteten sich mehr und mehr, als wollten sie überströmen. Auch ich spürte eine Ergriffenheit noch unerlebter Art in mir aufquellen, und um ihr zu entfliehen, verbeugte ich mich hastig und ging hinaus.

Im Vorraum half mir der Diener in den Mantel. Auf einmal spürte ich eine Zugluft im Rücken. Ohne mich umzuwenden, wußte ich, daß der alte Mann mir nachgegangen war und nun im Türrahmen stand, aus dem Bedürfnis, mir zu danken. Doch ich wollte mich nicht beschämen lassen. Ich tat, als ob ich nicht merkte, daß er hinter mir stand. Rasch, mit schlagenden Pulsen, verließ ich das tragische Haus.

* * *

Am nächsten Morgen – ein blasser Nebel hängt noch über den Häusern, und die Fensterläden sind alle geschlossen, um den braven Schlaf der Bürger zu hüten, – reitet, wie jeden Morgen, unsere Eskadron auf das Exerzierfeld. In hottelndem Schritt geht es zuerst quer über das unbequeme Pflaster; noch ziemlich schlaftrunken, steif und verdrossen, schwanken meine Ulanen in ihren Sätteln. Bald haben wir die vier, fünf Gassen durchgetrottet, bereits auf der breiten Chaussee gehen wir über in einen leichten Trab und schwenken dann rechts ab gegen die offenen Wiesen. Ich kommandiere meinem Zug »Galopp«, und mit einem einzigen atmenden Stoß schnauben die anstürmenden Pferde los. Sie kennen schon das weiche, gute, weite Feld, die klugen Tiere; man muß sie weiter nicht antreiben, locker kann man die Zügel lassen, denn kaum daß sie den Schenkeldruck gespürt haben, legen die Gäule mit aller Kraft los. Auch sie fühlen die Lust der Erregung und der Entspannung.

Ich reite voran. Ich reite leidenschaftlich gern. Rieselnd spüre ich von den Hüften her das schwingende, schlingernde Blut im aufgelockerten Leib als lebendige Lebenswärme kreisen, indes einem sausend die kalte Luft um Stirn und Backen fährt. Herrliche morgendliche Luft: den Tau der Nacht schmeckt man noch darin, den Atem der aufgelockerten Erde, den Ruch der blühenden Felder, und zugleich umfließt einen der warme, sinnliche Dampf der atmenden Nüstern. Immer begeistert mich von neuem dieser erste Morgengalopp, der den stockigen, schlaftrunkenen Leib so wohlig durchschüttelt und die Benommenheit wie dumpfen Nebel wegreißt; unwillkürlich dehnt das Gefühl der Leichtigkeit, die mich trägt, mir die Brust, und mit aufgetanen Lippen trinke ich die sausende Luft in mich ein. »Galopp! Galopp!« – ich spüre die Augen heller, die Sinne lebendiger werden, und hinter mir klingt in regelmäßigem Rhythmus das Klickern der Säbel, das stoßende Schnauben der Pferde, das weiche, knisternde Quellen und Quietschen der Sättel, der gleiche schlagende Takt der Hufe. Ein einziger centaurischer Leib ist diese sausende Gruppe der Männer und Pferde, von einem einzigen Schwung getragen. Vor, vor, vor, Galopp, Galopp, Galopp! Ah, so reiten, so reiten bis ans Ende der Welt! Mit dem heimlichen Stolz, Herr und Schöpfer dieser Lust zu sein, wende ich mich manchmal im Sattel zurück, um meine Leute anzuschauen. Und mit einemmal sehe ich, alle meine braven Ulanen haben andere Gesichter. Die schwere ruthenische Bedrücktheit, die Dumpfheit, die Unausgeschlafenheit ist wie Ruß weggewischt von ihren Augen. Straffer richten sie sich auf, da sie sich beobachtet fühlen, mit lächelndem Mund erwidern sie die Freude in meinem Blick. Ich spüre, auch diese dumpfen Bauernburschen sind durchdrungen von der Lust der sausenden Bewegung, diesem Vortraum menschlichen Flugs. Alle empfinden sie genau so beseligt wie ich das animalische Glück ihres Jungseins, ihrer angespannten und zugleich erlösten Kraft.

Aber plötzlich kommandiere ich: »Haaalt! Trab!« Mit einem überraschten Ruck reißen alle die Zügel an. Der ganze Zug fällt wie eine scharf abgebremste Maschine in die schwerfälligere Gangart. Etwas verdutzt schielen sie zu mir herüber, denn sonst – sie kennen mich und meine unbändige Reitlust – preschen wir in einem einzigen scharfen Galopp über die Wiesen bis zum abgesteckten Exerzierfeld durch. Doch mir war, als hätte jählings eine fremde Hand meinen Zügel angerissen: ich habe mich plötzlich an etwas erinnert. Unbewußt muß ich am Rand des Horizonts links drüben das weiße Karree der Mauer, die Bäume des Schloßgartens und das Turmdach wahrgenommen haben, wie ein Schuß ist es in mich hineingefahren: vielleicht sieht dir jemand von dort zu! Jemand, den du mit deiner Tanzlust gekränkt hast und mit deiner Reitlust neuerdings kränkst. Jemand mit lahmen, gefesselten Beinen, der dir’s neiden könnte, dich so vogelhaft leicht hinsausen zu sehen. Jedenfalls, plötzlich schäme ich mich, so gesund, ungehemmt und rauschhaft hinzustürmen, ich schäme mich dieses allzu körperlichen Glücks als einer ungehörigen Bevorzugung. Langsam, in schwerem Hott und Trott, lasse ich hinter mir meine enttäuschten Burschen durch die Wiesen traben. Vergebens warten sie, ich spüre es, ohne sie anzusehen, auf ein Kommando, das sie neuerdings in Schwung setzt.

Freilich, im gleichen Augenblick, da diese sonderbare Hemmung mich überfällt, weiß ich auch schon, daß solche Kasteiung dumm und zwecklos ist. Ich weiß, daß es keinen Sinn hat, sich einen Genuß zu versagen, weil er andern versagt ist, sich ein Glück zu verbieten, weil irgendein anderer unglücklich ist. Ich weiß, daß in jeder Sekunde, während wir lachen und einfältige Scherze reißen, irgendwo einer in seinem Bette röchelt und stirbt, daß hinter tausend Fenstern sich Elend duckt und Menschen hungern, daß es Krankenhäuser, Steinbrüche und Kohlenbergwerke gibt, daß in Fabriken, in Ämtern, in Zuchthäusern Unzählige in Frondienst gespannt sind zu jeder Stunde, und keinem leichter wird in seiner Not, wenn noch ein anderer sich sinnlos quält. Wollte man beginnen, darüber bin ich mir klar, das gleichzeitige Elend dieser Erde sich auszudenken, es würgte einem den Schlaf ab und erstickte einem jedes Lachen im Mund. Aber immer ist es ja nicht das erdachte, das imaginierte Leiden, das einen bestürzt und zernichtet; nur was die Seele mit mitfühlenden Augen leibhaftig gesehen, vermag sie wahrhaft zu erschüttern. So nah und wesenhaft wie in einer Vision hatte ich inmitten meiner leidenschaftlichen Beschwingtheit plötzlich das blasse, verzerrte Gesicht zu erblicken vermeint, wie sie auf ihren Krücken sich durch den Saal schleppte, und gleichzeitig das Tocken und Tappen gehört und das Klirren und Quietschen der verborgenen Maschinen an den kranken Gelenken; gleichsam im Schreck, ohne zu denken, ohne zu überlegen, hatte ich die Zügel angerissen. Es hilft nichts, daß ich mir jetzt nachträglich sage: wem nützt du damit, daß du dummen schweren Trab reitest statt des mitreißenden, aufreizenden Galopps? Aber doch, der Stoß hat irgendeine Stelle meines Herzens getroffen, die nahe dem Gewissen liegt; ich habe nicht den Mut mehr, kraftvoll, frei und gesund die Lust meines Körpers zu genießen. Langsam, schläfrig trotten wir hin bis zur Lisière, die zum Exerzierfeld führt; erst wie wir völlig außer Blickweite des Schlosses sind, rüttle ich mich auf und sage mir: »Unsinn! Laß diese dummen Sentimentalitäten!« Und kommandiere: »Vorwärts! Gaa-lopp!«

Mit diesem einen plötzlichen Zügelriß begann es. Er war gleichsam das erste Symptom jener sonderbaren Vergiftung durch Mitgefühl. Zunächst spürte ich nur dumpf – etwa wie man bei einer Krankheit mit benommenem Kopfe aufwacht –, daß etwas mit mir geschehen war oder geschah. Bisher hatte ich in meinem engumzirkten Lebenskreis achtlos dahingelebt. Ich hatte mich einzig um das gekümmert, was meinen Kameraden, was meinen Vorgesetzten wichtig oder amüsant erschien, niemals aber hatte ich an etwas persönlich Anteil genommen oder jemand an mir. Nie hatte mich etwas eigentlich erschüttert. Meine Familienverhältnisse waren geregelt, mein Beruf, meine Karriere abgegrenzt und reglementiert, und diese Unbekümmertheit hatte – ich begriff es erst jetzt – mein Herz gedankenlos gemacht. Nun plötzlich war etwas an mir, mit mir geschehen – nichts äußerlich Sichtbares, nichts dem Anschein nach Wesentliches. Aber doch, dieser eine zornige Blick, da ich in den Augen der Gekränkten eine bisher ungeahnte Tiefe menschlichen Leidens erkannt, hatte etwas in mir aufgesprengt, und nun strömte von innen eine jähe Wärme durch mich hin, jenes geheimnisvolle Fieber erregend, das mir selbst unerklärlich blieb wie immer dem Kranken seine Krankheit. Ich begriff davon zunächst nicht mehr, als daß ich den gesicherten Kreis, innerhalb dessen ich bisher unbefangen dahingelebt, nun überschritten hatte und eine neue Zone betreten, die wie jedes Neue erregend und beunruhigend zugleich war; zum erstenmal sah ich einen Abgrund des Gefühls aufgerissen, den auszumessen und in den sich hinabzustürzen mir auf unerklärliche Weise verlockend schien. Aber gleichzeitig warnte mich ein Instinkt, solch verwegener Neugier nachzugeben. Er mahnte: »Genug! Du hast dich entschuldigt. Du hast die dumme Sache ins reine gebracht.« Aber »Geh nochmals hin!« raunte eine andere Stimme in mir. »Fühle noch einmal diesen Schauer über den Rücken hinwehen, dieses Rieseln von Angst und Spannung!« Und: »Laß ab«, warnte es wieder. »Dräng dich nicht auf, dräng dich nicht ein! Du wirst, simpler junger Mensch, der du bist, diesem Übermaß nicht gewachsen sein und noch ärgere Albernheiten begehen als das erste Mal.«

Überraschenderweise wurde diese Entscheidung mir selber abgenommen, denn drei Tage später lag ein Brief von Kekesfalva auf meinem Tisch, ob ich nicht sonntags bei ihnen dinieren möchte. Es kämen diesmal nur Herren, darunter jener Oberstleutnant von F. aus dem Kriegsministerium, von dem er mir gesprochen hätte, und selbstverständlich würden sich auch seine Tochter und Ilona besonders freuen. Ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß diese Einladung mich eher schüchternen jungen Menschen sehr stolz machte. Man hatte mich also doch nicht vergessen, und die eine Bemerkung, daß Oberstleutnant von F. käme, schien sogar anzudeuten, daß Kekesfalva (ich verstand sofort, aus welchem Gefühl der Dankbarkeit) mir auf diskrete Art eine dienstliche Protektion verschaffen wollte.

Und wirklich, ich hatte es nicht zu bereuen, daß ich sofort zusagte. Es wurde ein richtiger gemütlicher Abend, und ich subalterner Offizier, um den sich beim Regiment niemand recht kümmerte, hatte das Gefühl, einer besonderen, völlig ungewohnten Herzlichkeit bei diesen älteren und soignierten Herren zu begegnen – offenbar hatte Kekesfalva sie auf eine besondere Weise auf mich aufmerksam gemacht. Zum erstenmal in meinem Leben behandelte mich ein höherer Vorgesetzter ohne jede rangliche Überlegenheit. Er erkundigte sich, ob ich zufrieden wäre bei meinem Regiment und wie es mit meinem Avancement stünde. Er ermutigte mich, wenn ich nach Wien käme oder sonst einmal etwas benötigte, bei ihm vorzusprechen. Der Notar wiederum, ein glatzköpfiger, munterer Mann mit einem gutmütig glänzenden Mondgesicht, lud mich in sein Haus, der Direktor der Zuckerfabrik richtete immer wieder das Wort an mich – welch eine andere Art Konversation als in unserer Offiziersmesse, wo ich jeder Meinung eines Vorgesetzten mit einem »gehorsamst« beipflichten mußte! Rascher als ich dachte, kam eine gute Sicherheit über mich, und schon nach einer halben Stunde sprach ich vollkommen ungehemmt mit.

Abermals tischten die beiden Diener Dinge auf, die ich bisher nur vom Hörensagen und vom Prahlen begüterter Kameraden kannte; Kaviar, köstlichen, eisgekühlten, ich schmeckte ihn zum erstenmal, Rehpastete und Fasanen, und dazu immer wieder diese Weine, die wohlig die Sinne beschwingten. Ich weiß, daß es dumm ist, von solchen Dingen sich imponieren zu lassen. Aber warum es leugnen? Ich kleiner, junger, unverwöhnter Leutnant genoß es mit geradezu kindischer Eitelkeit, mit so angesehenen älteren Herren derart schlaraffisch zu tafeln. Donnerwetter, dachte ich immer wieder, Donnerwetter, das sollte der Wawruschka sehen und der käsige Freiwillige, der uns immer anprotzt, wie üppig sie in Wien beim Sacher diniert haben! In ein solches Haus sollten sie einmal kommen, da würden sie Mund und Augen aufreißen! Ja, wenn sie zuschauen dürften, diese Neidhammel, wie ich da munter sitze und der Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium mir zutrinkt, wie ich mit dem Direktor der Zuckerfabrik freundschaftlich diskutiere und er dann ganz ernsthaft äußert: »Ich bin überrascht, wie Sie mit all dem vertraut sind.«

Der schwarze Kaffee wird im Boudoir serviert, Kognak marschiert auf in großen, bauchigen, eisgekühlten Gläsern und dazu wiederum jenes Kaleidoskop von Schnäpsen, selbstverständlich auch die famosen dicken Zigarren mit den pompösen Bauchbinden. Mitten im Gespräch beugt sich Kekesfalva zu mir heran, um diskret anzufragen, was mir lieber sei: ob ich mitspielen wolle bei der Kartenpartie oder vorzöge, mit den Damen zu plaudern. Natürlich das letztere, erkläre ich schleunigst, denn mir wäre es doch nicht ganz behaglich, mit einem Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium einen Rubber zu riskieren. Gewinnt man, so kann man ihn vielleicht verärgern, verliere ich, ist mein Monatsbudget geschmissen. Und dann, erinnere ich mich, habe ich im ganzen höchstens zwanzig Kronen in der Brieftasche.

So setze ich mich, während nebenan der Spieltisch aufgeschlagen wird, zu den beiden Mädchen, und sonderbar – ist es der Wein oder die gute Laune, die mir alles verklärt? – sie scheinen mir heute beide besonders hübsch. Edith sieht nicht so blaß, so gelblich, so kränklich aus wie das letztemal – mag sein, daß sie den Gästen zu Ehren etwas Rot aufgelegt hat, oder es ist wirklich nur die animierte Stimmung, die ihr die Wangen färbt; jedenfalls, es fehlt die gespannte, nervös flattrige Falte um ihren Mund und das eigenwillige Zucken der Brauen. In einem langen rosa Kleid sitzt sie da, kein Pelz, keine Decke verbirgt ihr Gebrest, und doch denke ich, denken wir alle in unserer guten Laune nicht »daran«. Bei Ilona hege ich sogar den leisen Verdacht, daß sie sich einen leichten Schwips angetrunken hat, ihre Augen knallen nur so, und wenn sie lachend ihre schönen, vollen Schultern zurückwirft, muß ich wirklich abrücken, um der Versuchung zu widerstehen, ihre bloßen Arme durch halben Zufall anzustreifen!

Mit einem Kognak hinter der Kehle, der einen wunderbar durchwärmt, mit einer schönen, schweren Zigarre, deren Rauch einem köstlich die Nase kitzelt, mit zwei hübschen, angeregten Mädchen neben sich und nach einem derart sukkulenten Diner fällt es auch dem Dümmsten nicht schwer, aufgeräumt zu plaudern. Ich weiß, ich kann im allgemeinen ganz gut erzählen, außer wenn mich meine verfluchte Schüchternheit hemmt. Aber diesmal bin ich ganz besonders in Form und konversiere mit wirklichem Animo. Natürlich sind es nur dumme kleine Geschichten, die ich auftische, gerade das Letzte, das sich bei uns ereignet hat, etwa wie der Oberst vorige Woche einen Eilbrief noch vor Postschluß zum Wiener Schnellzug schicken wollte und einen Ulanen rief, einen rechten ruthenischen Bauernjungen, und ihm einschärfte, der Brief müsse sofort nach Wien, worauf der dumme Kerl spornstreichs in den Stall rennt, sein Pferd sattelt und geradeaus auf der Landstraße nach Wien losgaloppiert; hätte man nicht noch telephonisch das nächste Kommando verständigt, so wäre der Esel wirklich die achtzehn Stunden geritten. Es sind also, bei Gott, keine tiefsinnigen Gescheitheiten, mit denen ich mich und die andern strapaziere, wirklich nur Allerweltsgeschichten, Kasernenhofblüten ältester und neuester Fechsung, aber – ich bin selbst darüber erstaunt – sie amüsieren die beiden Mädels unbändig, beide lachen ununterbrochen. Ediths Lachen klingt besonders übermütig mit seinem hohen silbrigen Ton, der im scharfen Diskant manchmal leicht überschlägt, aber die Lustigkeit muß bei ihr wirklich und ehrlich von innen kommen, denn die porzellanen dünne und durchsichtige Haut ihrer Wangen zeigt immer lebhaftere Tönung, ein Hauch von Gesundheit und sogar Hübschheit erhellt ihr Gesicht, und ihre grauen Augen, sonst etwas stählern und scharf, funkeln von einer kindlichen Freude. Gut ist es, sie anzusehen, solange sie ihren gefesselten Körper vergißt, denn freier und immer freier werden dadurch ihre Bewegungen, lockerer ihre Gesten; völlig unbefangen lehnt sie sich zurück, sie lacht, sie trinkt, sie zieht Ilona an sich heran und legt ihr den Arm um die Schulter; wirklich, die beiden amüsieren sich mit meinen Kinkerlitzchen ganz famos. Erfolg im Erzählen hat nun immer etwas Anfeuerndes für den Erzähler; eine Menge Geschichten fallen mir ein, die ich längst vergessen hatte. Sonst eher ängstlich und verlegen, finde ich einen mir ganz neuen Mut: ich lache mit und mache sie lachen. Wie übermütige Kinder kuscheln wir drei uns in der Ecke zusammen.

Und doch, während ich so ununterbrochen spaße und ganz eingetan scheine in unseren munteren Kreis, spüre ich gleichzeitig halb unbewußt, halb bewußt einen Blick, der mich beobachtet. Er kommt über ein Brillenglas, dieser Blick, er kommt herüber vom Kartentisch, und es ist ein warmer, ein glücklicher Blick, der mein eigenes Glücklichsein noch steigert. Ganz heimlich (ich glaube, er schämt sich vor den andern), ganz vorsichtig schielt der alte Mann von Zeit zu Zeit über seine Karten zu uns herüber, und einmal, da ich seinen Blick auffange, nickt er mir vertraulich zu. Sein Gesicht hat in diesem Augenblick den gesammelten, spiegelnden Glanz eines, der Musik hört.

Das dauert beinahe bis Mitternacht; nicht ein einzigesmal kommt unser Plaudern ins Stocken. Noch einmal wird etwas Gutes serviert, wunderbare Sandwiches, und merkwürdigerweise bin ich es nicht allein, der fest zugreift. Auch die beiden Mädchen packen kräftig ein, auch sie trinken ausgiebigst von dem schönen, schweren, schwarzen, alten englischen Port. Aber schließlich muß doch Abschied genommen werden. Wie einem alten Freunde, einem lieben, verläßlichen Kameraden, schütteln Edith und Ilona mir die Hand. Selbstverständlich muß ich ihnen versprechen, bald zu kommen, morgen schon oder übermorgen. Und dann gehe ich mit den drei andern Herren hinaus in die Halle. Das Auto soll uns nach Hause bringen. Ich hole mir selbst meinen Rock, indes der Diener beschäftigt ist, dem Oberstleutnant behilflich zu sein. Plötzlich spüre ich, wie mir jemand beim Umschwingen des Rocks helfen will: es ist Herr von Kekesfalva, und während ich ganz erschrocken abwehre (wie kann ich mich von ihm bedienen lassen, ich grüner Junge von dem alten Herrn?), drängt er flüsternd heran.

»Herr Leutnant«, raunt mir der alte Mann ganz scheu zu. »Ach Herr Leutnant, Sie wissen gar nicht. Sie können’s sich nicht denken, wie mich das glücklich gemacht hat, das Kind wieder einmal richtig lachen zu hören. Sie hat ja sonst gar keine Freude. Und heute war sie beinah wie früher, wenn …«

In diesem Augenblick tritt der Oberstleutnant auf uns zu. »Na, gehn wir?« lächelt er mich freundlich an. Selbstverständlich wagt Kekesfalva nicht, vor ihm weiterzusprechen, aber ich spüre, wie plötzlich die Hand des alten Mannes mir über den Ärmel streift, ganz, ganz leise und schüchtern über den Ärmel streift, so wie man ein Kind liebkost oder eine Frau. Eine unermeßliche Zärtlichkeit, unermeßliche Dankbarkeit liegt gerade im Versteckten und Verdeckten dieser scheuen Berührung; so viel Glück und so viel Verzweiflung fühle ich darin, daß ich abermals ganz erschüttert bin, und während ich militärisch respektvoll neben dem Herrn Oberstleutnant zum Auto die drei Stufen hinabschreite, muß ich mich gut zusammenhalten, damit niemand meine Benommenheit bemerkt.

* * *

Ich konnte nicht gleich schlafen gehen an jenem Abend, ich war zu erregt. So winzig der Anlaß sich auch, von außen gesehen, darstellen mochte – es war doch schließlich nichts Weiteres geschehen, als daß ein alter Mann mir zärtlich den Ärmel gestreichelt hatte – diese eine verhaltene Geste inbrünstigen Danks hatte schon ausgereicht, um ein Innerlichstes in mir zum Fluten und Überfluten zu bringen. Ich hatte in dieser überwältigenden Berührung eine Zärtlichkeit von so keuscher und doch leidenschaftlicher Innigkeit erfahren, wie nicht einmal von einer Frau. Zum erstenmal in meinem Leben war mir jungem Menschen Gewißheit geworden, irgend jemandem auf Erden geholfen zu haben, und maßlos war mein Staunen, daß ich kleiner, mittelmäßiger, unsicherer Offizier wirklich Macht haben sollte, jemanden derart glücklich zu machen. Vielleicht muß ich, um das Berauschende, das für mich in dieser jähen Entdeckung lag, zu erklären, mich selbst erst wieder erinnern, daß nichts seit meiner Kindheit mir dermaßen auf der Seele gelastet hatte wie die Überzeugung, ich sei ein völlig überflüssiger Mensch, allen andern uninteressant und bestenfalls gleichgültig. In der Kadettenschule, in der Militärakademie hatte ich immer nur zu den mittleren, völlig unauffälligen Schülern gehört, nie zu den beliebten oder besonders bevorzugten, und nicht besser ging’s mir beim Regiment. So war ich im tiefsten überzeugt, daß wenn ich plötzlich verschwinden würde, etwa vom Pferd fallen und mir das Genick brechen, die Kameraden vielleicht sagen würden »Schad um ihn« oder »Der arme Hofmiller«, aber nach einem Monat würde ich niemandem wirklich fehlen. An meine Stelle, auf mein Pferd würde ein anderer gesetzt, und dieser andere würde genau so gut oder schlecht meinen Dienst machen. Genau wie bei den Kameraden war es mir bei den paar Mädeln ergangen, mit denen ich in meinen zwei Garnisonen Verhältnisse gehabt hatte; in Jaroslau mit der Assistentin eines Zahnarztes, in Wiener Neustadt mit einer kleinen Näherin; wir waren zusammen ausgegangen, ich hatte Annerl an ihrem freien Tag ins Zimmer genommen, ihr zum Geburtstag ein kleines Halsband aus Korallen geschenkt; man hatte sich die üblichen zärtlichen Worte gesagt, wahrscheinlich sie auch wirklich ehrlich gemeint. Doch als ich dann abkommandiert wurde, hatten wir beide uns rasch getröstet; die ersten drei Monate schrieben wir uns noch ab und zu die obligaten Briefe, dann freundeten wir uns jeder mit anderen an; der ganze Unterschied blieb, daß sie in zärtlicher Aufwallung nun dem andern Ferdl sagte statt Toni. Vorüber, vergessen. Nirgends aber hatte bisher ein starkes, ein leidenschaftliches Gefühl mich, den Fünfundzwanzigjährigen, zum Anlaß genommen, und ich selbst erwartete und forderte im Grunde vom Leben gar nicht mehr, als sauber und korrekt meinen Dienst zu tun und in keiner Weise unangenehm aufzufallen.

Nun aber war das Unerwartete geschehen, und staunend blickte ich mit aufgeschreckter Neugier mich selber an. Wie? Auch ich mittelmäßiger junger Mensch hatte Macht über andere Menschen? Ich, der keine fünfzig Kronen ehrlich meinen Besitz nennen konnte, vermochte einem reichen Manne mehr Glück zu schenken als alle seine Freunde? Ich, Leutnant Hofmiller, konnte jemandem helfen, ich konnte jemanden trösten? Wenn ich mich einen Abend, zwei Abende zu einem lahmen, verstörten Mädchen setzte und mit ihr plauderte, wurden ihre Augen hell, ihre Wangen atmeten Leben, und ein ganzes verdüstertes Haus ward licht durch meine Gegenwart?

Ich gehe so rasch in meiner Erregung durch die dunkeln Gassen, daß mir ganz warm wird. Am liebsten möchte ich den Rock aufreißen, so dehnt sich mir das Herz. Denn in dieser Überraschung drängt und enthüllt sich unvermutet eine neue, eine zweite, die noch berauschender wirkt – nämlich, daß es so leicht war, so rasend leicht, diese fremden Menschen zu Freunden zu gewinnen. Was hatte ich denn viel geleistet? Ich hatte ein bißchen Mitleid gezeigt, ich hatte zwei Abende und zwar fröhliche, heitere, beschwingte Abende in dem Hause verbracht, und schon das war genug gewesen? Wie dumm dann, seine ganze freie Zeit tagtäglich im Kaffee zu verdösen, mit langweiligen Kameraden stumpfsinnig Karten zu spielen oder den Korso hinauf und hinunter zu promenieren. Nein, von nun ab nicht mehr diesen Stumpfsinn, diesen ludrigen Leerlauf! Mit wirklicher Leidenschaft nehme ich junger, plötzlich aufgeweckter Mensch mir vor, während ich immer hastiger hinschreite durch die weiche Nacht: Ich will von nun ab mein Leben ändern. Ich werde weniger ins Kaffeehaus gehen, werde aufhören mit dem dummen Tarockieren und Billardspiel, werde energisch Schluß machen mit allen diesen Zeittotschlägereien, die niemandem nützen und mich selber verdummen. Ich werde lieber dieser Kranken öfters Besuch machen, mich sogar jedesmal besonders vorbereiten, damit ich den beiden Mädchen immer etwas Nettes und Lustiges erzählen kann, wir werden zusammen Schach spielen oder sonst die Zeit behaglich verbringen; schon dieser bloße Vorsatz, zu helfen, und von nun ab andern nützlich zu sein, erregt in mir eine Art Begeisterung. Ich möchte am liebsten singen, ich möchte etwas Unsinniges tun aus diesem Gefühl der Beschwingtheit; immer erst, sobald man weiß, daß man auch andern etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz.

So kam es und nur so, daß ich in den nächsten Wochen die Spätnachmittage und meist auch die Abende bei den Kekesfalvas verbrachte; bald wurden diese freundschaftlichen Plauderstunden schon Gewöhnung und eine nicht ungefährliche Verwöhnung dazu. Aber welche Verlockung auch für einen seit den Knabenjahren von einer Militäranstalt in die andere herumgestoßenen jungen Menschen, unverhofft ein Zuhause zu finden, eine Heimat des Herzens statt kalter Kasernenräume und rauchiger Kameradschaftsstuben! Wenn ich nach erledigtem Dienst, halb fünf oder fünf, hinauswanderte, schlug meine Hand noch nicht recht auf den Klopfer, und schon riß der Diener freudigst die Tür auf, als hätte er durch ein magisches Guckloch mein Kommen beobachtet. Alles deutete mir liebevoll-sichtbar an, wie selbstverständlich man mich als zur Familie gehörig rechnete; jeder meiner kleinen Schwächen und Vorlieben war vertraulicher Vorschub geleistet. Von Zigaretten lag immer just meine Lieblingssorte bereit, ein beliebiges Buch, von dem ich das letzte Mal zufällig erwähnt hatte, ich würde es gerne einmal lesen, fand sich wie durch Zufall neu und doch schon vorsorglich aufgeschnitten auf dem kleinen Taburett, ein bestimmter Fauteuil gegenüber Ediths Chaiselongue galt unumstößlich als »mein« Platz – Kleinigkeiten, Nichtigkeiten dies alles, gewiß, aber doch solche, die einen fremden Raum wohltuend mit Heimischkeit durchwärmen und den Sinn unmerklich erheitern und erleichtern. Da saß ich dann, sicherer als je im Kreis meiner Kameraden, plauderte und spaßte, wie es mir vom Herzen kam, zum erstenmal wahrnehmend, daß jede Form der Gebundenheit die eigentlichen Kräfte der Seele bindet und das wahre Maß eines Menschen erst in seiner Unbefangenheit zutage tritt.

Aber noch ein anderes, viel Geheimnisvolleres hatte unbewußt Anteil daran, daß mich das tägliche Beisammensein mit den beiden Mädchen so sehr beschwingte. Seit meiner frühzeitigen Auslieferung an die Militäranstalt, seit zehn, seit fünfzehn Jahren also, lebte ich unausgesetzt in männlicher, in männischer Umgebung. Von morgens bis nachts, von nachts bis früh, im Schlafraum der Militärakademie, in den Zelten der Manöver, in den Stuben, bei Tisch und unterwegs, in der Reitschule und im Lehrzimmer, immer und immer atmete ich im Luftraum nur Dunst des Männlichen um mich, erst Knaben, dann erwachsene Burschen, aber immer Männer, Männer, schon gewöhnt an ihre energischen Gebärden, ihren festen, lauten Gang, ihre gutturalen Stimmen, ihren knastrigen Geruch, ihre Ungeniertheit und manchmal sogar Ordinärheit. Gewiß, ich hatte die meisten meiner Kameraden herzlich gern und durfte wahrhaftig nicht klagen, daß sie es nicht ebenso herzlich meinten. Aber eine letzte Beschwingtheit fehlte dieser Atmosphäre, sie enthielt gleichsam nicht genug Ozon, nicht genug spannende, prickelnde, elektrisierende Kräfte. Und wie unsere prächtige Militärkapelle trotz ihres vorbildlich rhythmischen Schwungs doch immer nur kalte Blechmusik blieb, also hart, körnig und einzig auf Takt eingestellt, weil ihr der zärtlich-sinnliche Streicherton der Violinen fehlte, so entbehrten sogar die famosesten Stunden unserer Kameraderie jenes sordinierenden Fluidums, das immer die Gegenwart oder auch nur Atemnähe von Frauen jeder Geselligkeit beimischt. Schon damals, als wir Vierzehnjährigen je zwei und zwei in unseren verschnürten kleidsamen Kadettenmonturen durch die Stadt promenierten, hatten wir, wenn wir andern jungen Burschen mit Mädchen flirtend oder nachlässig plaudernd begegneten, wirr sehnsüchtig empfunden, daß durch die seminaristische Einkasernierung etwas unserer Jugend gewalttätig entzogen wurde, was unseren Altersgenossen tagtäglich auf Straße, Korso, Eisbahn und im Tanzsaal ganz selbstverständlich zugeteilt war: der unbefangene Umgang mit jungen Mädchen, indessen wir, die Abgesonderten, die Eingegitterten, diesen kurzröckigen Elfen wie zauberischen Wesen nachstarrten, von einem einmaligen Gespräch mit einem Mädchen schon wie von einer Unerreichbarkeit träumend. Solche Entbehrung vergißt sich nicht. Daß späterhin rasche und meist billige Abenteuer mit allerhand gefälligen Weibspersonen sich einstellten, bot keinerlei Ersatz für diese sentimentalen Knabenträume, und ich spürte an der Ungelenkigkeit und Blödigkeit, mit der ich jedesmal (obwohl ich schon mit einem Dutzend Frauen geschlafen) in der Gesellschaft herumstotterte, sobald ich zufällig an ein junges Mädchen geriet, daß mir jene naive und natürliche Unbefangenheit durch allzulange Entbehrungen für allezeit versagt und verdorben war.

Und nun hatte sich plötzlich dies uneingestandene knabenhafte Verlangen, eine Freundschaft statt mit bärtigen, männischen, ungehobelten Kameraden einmal mit jungen Frauen zu erleben, auf die vollkommenste Weise erfüllt. Jeden Nachmittag saß ich, Hahn im Korbe, zwischen den beiden Mädchen; das Helle, das Weibliche ihrer Stimmen tat mir (ich kann es nicht anders ausdrücken) geradezu körperlich wohl, und mit einem kaum zu beschreibenden Glücksgefühl genoß ich zum erstenmal mein eigenes Nichtscheusein mit jungen Mädchen. Denn es steigerte nur das besonders Glückhafte in unserer Beziehung, daß durch eigenartige Umstände jener elektrisch knisternde Kontakt abgeschaltet war, der sich sonst unaufhaltsam bei jedem längeren Zuzweitsein von jungen Leuten verschiedenen Geschlechts ergibt. Völlig fehlte unseren ausdauernden Plauderstunden alles Schwülende, das sonst ein tête-à-tête im Halbdunkel so gefährlich macht. Zuerst freilich – ich gestehe es willig ein – hatten die küßlich vollen Lippen, die fülligen Arme Ilonas, die magyarische Sinnlichkeit, die sich in ihren weichen, schwingenden Bewegungen verriet, mich jungen Menschen auf die angenehmste Art irritiert. Ich mußte einigemal meine Hände in straffer Dressur halten gegen das Verlangen, einmal dies warme, weiche Ding mit den schwarzen, lachenden Augen an mich heranzureißen und ausgiebigst abzuküssen. Aber erstlich vertraute mir Ilona gleich in den Anfangstagen unserer Bekanntschaft an, daß sie seit zwei Jahren einem Notariatskandidaten in Becskeret verlobt sei und nur die Wiederherstellung oder Besserung im Befinden Ediths abwarte, um ihn zu heiraten ich erriet, daß Kekesfalva der armen Verwandten eine Mitgift zugesagt hatte, falls sie bishin ausharre. Und überdies, welcher Roheit, welcher Perfidie hätten wir uns schuldig gemacht, im Rücken dieser rührenden, ohnmächtig an den Rollstuhl gefesselten Gefährtin kleine Küßlichkeiten oder Handgreiflichkeiten ohne rechte Verliebtheit zu versuchen. Sehr rasch also versickerte der anfängliche sinnlich flirrende Reiz, und was ich an Zuneigung zu empfinden imstande war, wandte sich auf immer innigere Weise der Hilflosen, der Zurückgesetzten zu, denn zwanghaft bindet sich in der geheimnisvollen Chemie der Gefühle Mitleid für einen Kranken unmerklich mit Zärtlichkeit. Neben der Gelähmten zu sitzen, sie im Gespräch zu erheitern, ihren schmalen unruhigen Mund durch ein Lächeln beschwichtigt zu sehen oder manchmal, wenn sie, einer heftigen Laune nachgebend, ungeduldig aufzuckte, schon durch das bloße Auflegen der Hand beschämte Nachgiebigkeit zu erzielen und dafür noch einen dankbaren grauen Blick zu empfangen – solche kleinen Vertraulichkeiten einer seelischen Freundschaft beglückten mich bei dieser Wehrlosen, dieser Kraftlosen mehr, als es die leidenschaftlichsten Abenteuer mit ihrer Freundin vermocht hätten. Und dank dieser leisen Erschütterungen entdeckte ich – wie viele Erkenntnisse verdankte ich schon diesen wenigen Tagen! – mir völlig unbekannte und ungeahnt zartere Zonen des Gefühls.

Unbekannte und zartere Zonen des Gefühls – aber freilich gefährlichere auch! Denn vergeblich die schonendste Bemühung: nie vermag die Beziehung zwischen einem Gesunden und einer Kranken, einem Freien und einer Gefangenen auf die Dauer völlig in reiner Schwebe zu bleiben. Unglück macht verletzbar und unablässiges Leiden ungerecht. Genau wie zwischen Gläubiger und Schuldner unausrottbar ein Peinliches beharrt, weil eben dem einen unabänderlich die Rolle des Gebenden und dem andern die des Empfangenden zugeteilt ist, so bleibt in dem Kranken eine heimliche Gereiztheit gegen jede sichtbare Besorgtheit ständig im Ansprung. Unablässig mußte man auf der Hut sein, nicht die kaum merkliche Grenze zu überschreiten, wo Anteilnahme, statt zu beschwichtigen, die leicht Verwundbare noch mehr verletzte; einerseits verlangte sie, verwöhnt wie sie war, daß alles sie bediente wie eine Prinzessin und verhätschelte wie ein Kind, aber schon im nächsten Augenblick konnte diese Rücksicht sie erbittern, weil sie ihr die eigene Hilflosigkeit deutlicher zum Bewußtsein brachte. Rückte man etwa das Taburett gefällig heran, um ihr den anstrengenden Handgriff nach Buch und Tasse möglichst zu ersparen, so herrschte sie einen blitzenden Auges an: »Glauben Sie, daß ich mir nicht selbst nehmen kann, was ich will?« Und wie ein eingegittertes Tier sich manchmal ohne jeden Anlaß gegen den sonst so umschmeichelten Wärter wirft, kam ab und zu eine boshafte Lust über die Gelähmte, unsere unbefangene Stimmung mit einem plötzlichen Prankenschlag zu zerfleischen, indem sie ganz unvermittelt von sich selbst als »einem elenden Krüppel« sprach. In solchen gespannten Augenblicken mußte man wirklich alle Kraft in sich zusammennehmen, um nicht ungerecht gegen ihren aggressiven Unmut zu werden.

Aber zu meinem eigenen Erstaunen fand ich immer wieder diese Kraft. Immer wachsen einer ersten Erkenntnis im Menschlichen andere geheimnisvoll zu, und wem nur einmal die Fähigkeit zuteil ward, eine einzige Form irdischen Leidens wahrhaft mitzufühlen, der versteht durch diese magische Belehrung alle Formen, auch die fremdartigsten und scheinbar widersinnigen. So ließ ich mich nicht beirren durch Ediths gelegentliche Revolten; im Gegenteil, je ungerechter und schmerzlicher ihre Ausbrüche waren, umsomehr erschütterten sie mich; allmählich verstand ich auch, warum mein Kommen dem Vater und Ilona, warum mein Mitdabeisein dem ganzen Hause so willkommen war. Ein lang dauerndes Leiden ermüdet im allgemeinen nicht nur den Kranken, sondern auch das Mitleid der andern; starke Gefühle lassen sich nicht ins Ungemessene verlängern. Nun litten sicherlich der Vater und die Freundin bis in den Grund ihrer Seele mit dieser armen Ungeduldigen, aber sie litten schon in einer erschöpften und resignierten Art. Sie nahmen die Kranke als Kranke, die Tatsache der Lähmung als Tatsache, sie warteten jedesmal gesenkten Blicks, bis diese kurzen Nervengewitter sich ausgetobt. Aber sie erschraken nicht mehr so, wie ich jedesmal von neuem erschrak. Ich dagegen, der einzige, dem ihr Leiden eine immer erneute Erschütterung bedeutete, wurde bald der einzige, vor dem sie sich ihrer Maßlosigkeit schämte. Ich brauchte nur, wenn sie unbeherrscht auffuhr, ein kleines mahnendes Wort wie »Aber liebes Fräulein Edith« zu sagen, und schon duckte sich gehorsam der ganze Blick. Sie errötete, und man sah, am liebsten wäre sie, wenn ihre Füße sie nicht gefesselt hätten, vor sich selber geflüchtet. Und nie konnte ich von ihr Abschied nehmen, ohne daß sie mit einer gewissen flehenden Art, die mir durch und durch ging, gesagt hätte: »Aber Sie kommen doch morgen wieder? Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse wegen all der Dummheiten, die ich heute gesagt habe?« In solchen Minuten fühlte ich eine Art rätselhaften Staunens, daß ich, der ich doch nichts zu geben hatte als mein ehrliches Mitleid, soviel Macht besaß über andere Menschen.

Aber es ist der Sinn der Jugend, daß jede neue Erkenntnis ihr zu Exaltation wird und sie, einmal angeschwungen von einem Gefühl, davon nicht genug zu bekommen vermag. Eine sonderbare Verwandlung begann in mir, sobald ich entdeckte, daß dies mein Mitfühlen eine Kraft war, die nicht nur mich selbst geradezu lustvoll erregte, sondern auch über mich hinaus wohltätig wirkte: seit ich zum erstenmal dieser neuen Fähigkeit des Mitleidens Einlaß in mich gegeben, schien es mir, als sei ein Toxin in mein Blut eingedrungen und hätte es wärmer, röter, geschwinder, pulsender, vehementer gemacht. Mit einem Schlage verstand ich die Stumpfheit nicht mehr, in der ich bislang so schlendrig dahingelebt wie in einer grauen gleichgültigen Dämmerung. Hundert Dinge beginnen mich zu erregen, zu beschäftigen, an denen ich früher achtlos vorübergegangen. Überall gewahre ich, als wäre mit jenem ersten Blick in ein fremdes Leiden ein schärferes, wissenderes Auge in mir erwacht, Einzelheiten, die mich beschäftigen, begeistern, erschüttern. Und da doch unsere ganze Welt voll ist, Straße um Straße und Zimmer um Zimmer, mit fühlbarem Schicksal und durchflutet von brennender Not bis zum untersten Grund, so ist mein Tag jetzt ununterbrochen von Aufmerksamkeit und Spannung erfüllt. Ich ertappe mich zum Beispiel beim Remontenreiten, daß ich auf einmal nicht mehr wie früher einem stützigen Pferd mit voller Wucht einen Hieb über die Kruppe schlagen kann, denn ich spüre schuldbewußt den von mir verursachten Schmerz, und die Strieme brennt mir auf der eigenen Haut. Oder unwillkürlich krampfen sich mir die Finger zusammen, wenn unser cholerischer Rittmeister einem armen ruthenischen Ulanen, der den Sattel schlecht aufgezäumt hat, die geballte Faust ins Gesicht knallt, und der Bursche steht stramm, die Hand an der Hosennaht. Ringsum starren oder lachen blöd die andern Soldaten, ich aber, ich allein sehe, wie unter den beschämt gesenkten Augenlidern des dumpfen Burschen die Wimpern sich feuchten. Mit einmal kann ich in unserer Offiziersmesse die Witze über ungeschickte oder unbeholfene Kameraden nicht mehr ertragen; seit ich an diesem wehrlosen, machtlosen Mädchen die Qual der Unkraft begriffen habe, erregt mich haßvoll jede Brutalität und anteilfordernd jede Wehrlosigkeit. Unzählige Kleinigkeiten, die mir bisher entgangen sind, bemerke ich, seit mir der Zufall diesen einen heißen Tropfen Mitleid ins Auge geträufelt, einfältige, simple Dinge, aber von jedem einzelnen geht für mich Spannung und Erschütterung aus. Es fällt mir zum Beispiel auf, daß die Tabaktrafikantin, bei der ich immer meine Zigaretten kaufe, die hingereichten Geldstücke auffällig nah an die rundgeschliffene Brille hält, und sofort beunruhigt mich der Verdacht, daß sie den Star bekommen könne. Morgen will ich sie vorsichtig ausfragen und vielleicht auch den Regimentsarzt Goldbaum bitten, daß er sie einmal untersucht. Oder es fällt mir auf, daß die Freiwilligen den kleinen rothaarigen K. in der letzten Zeit so sichtlich schneiden, und ich erinnere mich, daß in der Zeitung gestanden hat (was kann er dafür, der arme Junge?), sein Onkel sei wegen betrügerischer Malversationen eingesperrt worden; mit Absicht setze ich mich bei der Menage zu ihm hin und fange ein langes Gespräch an, an seinem dankbaren Blick sofort spürend, daß er versteht, ich tu’s nur, um den andern zu zeigen, wie ungerecht und ordinär sie ihn behandeln. Oder ich bettle einen von meinem Zug heraus, dem der Oberst sonst unbarmherzig vier Stunden Spangen aufgebrummt hätte; immer neu und an täglich anderen Proben genieße ich diese plötzlich in mich gefahrene Lust. Und ich sage mir: von jetzt ab helfen, soviel du kannst, jedem und jedem! Nie mehr träge, nie mehr gleichgültig sein! Sich steigern, indem man sich hingibt, sich bereichern, indem man jedem Schicksal sich verbrüdert, jedes Leiden durch Mitleiden versteht und besteht. Und mein über sich selbst erstauntes Herz zittert vor Dankbarkeit für die Kranke, die ich unwissend gekränkt, und die durch ihr Leiden mich diese schöpferische Magie des Mitleids gelehrt.

* * *

Nun, aus derart romantischen Gefühlen wurde ich bald erweckt, und zwar auf die allergründlichste Art. Das kam so: Wir hatten an jenem Nachmittag Domino gespielt, dann lange geplaudert und so angeregt die Zeit verbracht, daß wir alle nicht bemerkten, wie spät es geworden war. Endlich, um halb zwölf, blicke ich erschrocken auf die Uhr und empfehle mich hastig. Aber schon während mich der Vater hinaus in die Halle begleitet, hören wir von draußen ein Summen und Brummen wie von hunderttausend Hummeln. Ein veritabler Wolkenbruch trommelt auf das Vordach. »Das Auto bringt Sie hinein«, beruhigt mich Kekesfalva. Ich protestiere, das sei keineswegs nötig; der Gedanke ist mir wirklich peinlich, der Chauffeur solle einzig um meinetwillen jetzt um halb zwölf sich noch einmal anziehen und den schon abgestellten Wagen aus der Garage herausholen (alles dies Nachfühlen und Rücksichtnehmen auf fremde Existenzen ist völlig neu bei mir, ich habe es erst in diesen Wochen gelernt). Aber schließlich liegt doch gute Verlockung darin, in einem weichen, gut gefederten Coupé bei solchem Hundewetter bequem heimzusausen, statt eine halbe Stunde lang triefnaß mit dünnen Lackstiefeletten durch die aufgeschlammte Chaussee zu stapfen: so gebe ich nach. Der alte Mann läßt sich’s nicht nehmen, trotz des Regens mich selbst ans Auto zu begleiten und mir die Decke umzuschlagen. Der Chauffeur kurbelt an; in einem Schwung sause ich durch das trommelnde Unwetter nach Hause.

Wunderbar bequem und behaglich fährt sich’s in dem lautlos gleitenden Wagen. Aber doch, wie wir jetzt zauberhaft schnell ist das gegangen – auf die Kaserne zusteuern, klopfe ich gegen die Scheibe und ersuche den Chauffeur, er möge schon auf dem Rathausplatz anhalten. Denn lieber nicht in Kekesfalvas elegantem Coupé bei der Kaserne vorfahren! Ich weiß, es macht sich nicht gut, wenn ein kleiner Leutnant wie ein Erzherzog im fabelhaften Auto vorknattert und sich von einem livrierten Chauffeur heraushelfen läßt. Derlei Protzereien sehen bei uns die goldenen Kragen nicht gern, außerdem rät mir längst ein Instinkt, meine beiden Welten möglichst wenig zu vermengen, den Luxus des Draußen, wo ich ein freier Mann bin, unabhängig, verwöhnt, und die andere, die Dienstwelt, in der ich mich ducken muß, ein armer Schlucker, den es mächtig entlastet, wenn der Monat nur dreißig Tage hat statt einunddreißig. Unbewußt will mein eines Ich nicht gerne von dem anderen wissen; manchmal vermag ich schon nicht mehr zu unterscheiden, wer eigentlich der wirkliche Toni Hofmiller ist, der im Dienst oder der bei Kekesfalvas, der draußen oder der drinnen.

Der Chauffeur hält wunschgemäß am Rathausplatz, zwei Straßen von der Kaserne. Ich steige aus, schlage den Kragen hoch und will rasch den weiten Platz überqueren. Aber gerade in diesen Augenblick strubelt das Unwetter mit verdoppelter Wucht los, mit nassem Hieb schlägt der Wind mir gradaus ins Gesicht. Besser darum unter einem Haustor ein paar Minuten warten, ehe man die zwei Gassen zur Kaserne hinüberläuft. Oder am Ende ist das Kaffeehaus noch offen und ich kann dort im Sicheren sitzen, bis der liebe Himmel seine dicksten Gießkannen verschüttet hat. Zum Kaffeehaus hinüber sind es nur sechs Häuser, und siehe da, hinter den schwimmenden Scheiben glänzt schummrig das Gaslicht. Am Ende hocken die Kameraden noch am Stammtisch; famose Gelegenheit das, allerhand gutzumachen, denn es gehört sich längst, daß ich mich wieder einmal zeige. Gestern, vorgestern, die ganz Woche und die letzte bin ich vom Stammtisch weggeblieben. Eigentlich hätten sie guten Grund, gegen mich verärgert zu sein; wenn man schon untreu wird, soll man wenigstens die Formen wahren.

Ich klinke auf. In der vorderen Hälfte des Lokals sind die Lampen aus Sparsamkeitsgründen bereits abgelöscht, ausgespannt liegen die Zeitungen herum und der Markeur Eugen zählt die Losung zusammen. Jedoch im Spielzimmer rückwärts sehe ich noch Licht und einen Schimmer von blanken Uniformknöpfen; wahrhaftig, da sitzen sie noch, die ewigen Tarockkumpane, Jozsi, der Oberleutnant, Ferencz, der Leutnant, und der Regimentsarzt Goldbaum. Anscheinend haben sie ihre Partie längst ausgespielt und lehnen nur noch duslig herum in jener mir wohlbekannten Kaffeehausfaulheit, die sich vor dem Aufstehen fürchtet; so wird’s ein rechtes Gottesgeschenk für sie, daß mein Erscheinen ihr langweiliges Dösen unterbricht.

»Hallo, der Toni«, alarmiert Ferencz die andern, und »Welch ein Glanz in unserer niedern Hütte«, deklamiert der Regimentsarzt, der, wie wir zu spotten pflegen, an chronischer Zitatendiarrhöe leidet. Sechs schläfrige Augen blinzeln und lachen mir entgegen. »Servus! Servus!«

Ihre Freude freut mich. Sind doch wirklich brave Burschen, denke ich mir. Haben’s mir gar nicht übelgenommen, daß ich die ganze Zeit über ohne Entschuldigung und Erklärung ausgepascht bin.

»Einen Schwarzen«, bestelle ich bei dem schläfrig heranschlurfenden Kellner und rücke mir den Sessel zurecht mit dem unausweichlichen »No, was gibt’s denn Neues?«, das bei uns jedes Zusammensein eröffnet.

Ferencz schiebt sein breites Gesicht noch mehr in die Breite, die blinzelnden Augen verschwinden beinahe in den rötlichen Apfelbacken; langsam, teigig geht ihm der Mund auf.

»Also, das Allerneueste war«, schmunzelt er behäbig, »daß euer Wohlgeboren die Gnad haben, wieder einmal bei uns in unserm bescheidenen Czoch zu erscheinen.«

Und der Regimentsarzt lehnt sich zurück und beginnt mit Kainzens Tonfall: »Mahadöh, der Gott der Erde – stieg herab zum letztenmal – daß er ihresgleichen werde – mitzufühlen Lust und Qual.«

Alle drei schauen mich amüsiert an, und sofort überkommt mich ein saures Gefühl. Am besten, denke ich mir, jetzt rasch selber loslegen, ehe sie anfangen zu fragen, warum ich alle die Tage ausgeblieben bin und woher ich heut komme. Aber ehe ich einhaken kann, hat schon der Ferencz merkwürdig gezwinkert und den Jozsi angestoßen.

»Da schau her«, deutet er unter den Tisch. »No, was sagst? Lackstiefeletten trägt er bei dem Sauwetter und die noble Montur! Ja, der versteht’s, der Toni, der hat sich gut ins Warme gesetzt! Soll ja fabelhaft draußen zugehn bei dem alten Manichäer! Fünf Gänge jeden Abend, hat der Apotheker erzählt, Kaviar und Kapaune, echten Bols und piekfeine Zigarren – anders als unser Saufraß im ›Roten Löwen‹! Ja, den Toni, den ham wir alle unterschätzt, der hat’s faustdick hinter den Ohren.«

Jozsi sekundiert sofort. »Nur mit der Kameradschaft, da steht’s halt schwach bei ihm. Ja, mein lieber Toni, statt daß du draußen deinem Alten einmal sagen tätst: ›Du, Alter, ich hab’ da ein paar fesche Kameraden, bildsaubere, brave Kerle, die auch nicht mit dem Messer fressen, die luchs ich euch einmal her‹ – statt dem denkt er sich: sollen nur ihr saures Pilsner saufen und sich die Gurgel mit ihrem öden Rindsgulasch auspaprizieren! Ja, piekfeine Kameradschaft, das muß ich schon sagen! Alles für sich und nix für die andern! Na – hast mir wenigstens eine dicke Upman mitgebracht? Dann bist du für heut noch pardoniert.«

Sie lachen und schmatzen alle drei. Aber mir steigt plötzlich das Blut vom Kragen her bis an die Ohren hoch. Denn, Teufel, woran kann der verdammte Jozsi erraten haben, daß mir wirklich Kekesfalva zum Abschied im Vorzimmer – er tut das immer – eine seiner feinen Zigarren zugesteckt hat? Steht sie mir am Ende zwischen den beiden Brustknöpfen beim Rock heraus? Wenn die Burschen nur nichts merken! In meiner Verlegenheit zwinge ich mich zu einem Lachen:

»Natürlich – eine Upman! Billiger gibst du’s nicht! Ich glaub’, eine Zigarette dritter Sorte wird’s dir auch tun«, und halte ihm offen die Tabatiere hin. Doch im selben Augenblick zuckt mir schon die Hand. Denn vorgestern war mein fünfundzwanzigster Geburtstag gewesen, irgendwie hatten die beiden Mädel das herausspekuliert, und bei dem Abendessen, als ich von meinem Teller die Serviette aufhob, spürte ich etwas Schweres darin eingefaltet: eine Zigarettendose als Geburtstagsgeschenk. Aber schon hatte der Ferencz das neue Etui bemerkt – in unserem engen Klüngel wird ja auch die kleinste Kleinigkeit zum Ereignis.

»Hallo, was ist das?« brummt er. »Ein neues Ausrüstungsstück!« Er nimmt mir die Zigarettendose einfach aus der Hand (was kann ich dagegen tun?), betastet, beschaut und wiegt sie schließlich auf der Handfläche. »Du, mir scheint«, wendet er sich hinüber zum Regimentsarzt, »die ist sogar echt. Geh, schau dir die einmal gut an – dein würdiger Erzeuger soll ja mit derlei handeln, da wirst dich doch auch einigermaßen auskennen.«

Der Regimentsarzt Goldbaum, wirklich Sohn eines Goldschmieds in Drohobycz, stülpt den Zwicker auf die etwas dickliche Nase, nimmt die Tabatière, wiegt sie, beschaut sie von allen Seiten und klopft sie geschult mit dem Knöchel ab.

»Echt«, diagnostiziert er endlich. »Echtes Gold, punziert und verdammt schwer. Damit könnt man dem ganzen Regiment die Zähne plombieren. Preislage etwa siebenhundert bis achthundert Kronen.«

Nach diesem Verdikt, das mich selbst überrascht (ich hatte sie wirklich nur für vergoldet gehalten), gibt er die Dose an Jozsi weiter, der sie schon viel ehrfürchtiger anfaßt als die beiden andern (ach, was für Respekt wir jungen Kerle doch vor allem Kostbaren haben!). Er beschaut, bespiegelt, betastet sie, klappt sie schließlich am Rubin auf und stutzt:

»Hallo – eine Inschrift! Hört, hört! Unserem lieben Kameraden Anton Hofmiller zum Geburtstag. Ilona, Edith.«

Alle drei starren mich jetzt an. »Donnerwetter«, schnauft schließlich Ferencz, »du suchst dir aber deine Kameraden neuestens gut aus! Alle Hochachtung! Von mir hättst höchstens eine tombakene Zündholzdosen statt so was bekommen.«

Ein Krampf sitzt mir in der Kehle. Morgen weiß prompt das ganze Regiment die peinliche Neuigkeit von der goldenen Zigarettendose, die ich von den Kekesfalvas zum Präsent gekriegt habe, und kennt die Inschrift auswendig. »Zeig sie einmal her, deine noble Dosen«, wird der Ferencz bei der Offiziersmesse sagen, um mit mir zu protzen, und gehorsamst werde ich sie dem Herrn Rittmeister, gehorsamst dem Herrn Major, gehorsamst vielleicht sogar dem Herrn Oberst vorweisen müssen. Alle werden sie in der Hand wiegen, abschätzen, die Inschrift ironisch anschmunzeln, und dann kommt unvermeidlich das Gefrage und Gewitzel, und ich darf angesichts der Vorgesetzten nicht unhöflich werden.

In meiner Verlegenheit, rasch dem Gespräch ein Ende zu bereiten, frage ich: »Na – habt’s noch Lust auf einen Tarock?«

Aber sofort wird ihr gutmütiges Schmunzeln zu breitem Lachen. »Hast schon so was gehört, Ferencz?« stupft ihn der Jozsi an, »jetzt um halber eins, wo die Bude schließt, möcht er noch einen Tarock anfangen!«

Und der Regimentsarzt lehnt sich zurück, faul und gemütlich: »Ja, ja, dem Glücklichen schlägt keine Stunde.«

Sie lachen und schmatzen noch ein bißchen an dem schalen Witz herum. Doch schon ist mit bescheidenem Drängen der Markeur Eugen herangetreten: Polizeistunde! Wir gehen – der Regen hat nachgelassen – zusammen bis zur Kaserne und schütteln dort einander zum Abschied die Hand. Ferencz klopft mir auf die Schulter. »Brav, daß d’ wieder einmal eingerückt bist«, und ich spüre, es kommt ihm vom Herzen. Warum war ich eigentlich so wütend auf sie? Sind doch einer wie der andere kreuzbrave, anständige Kerle ohne eine Spur von Neid und Unfreundlichkeit. Und wenn sie ein bissel Spaß mit mir machten, so haben sie’s nicht bös gemeint.

Sie haben es wahrhaftig nicht bös gemeint, die braven Jungen – aber doch, mit ihrem tölpischen Staunen und Raunen haben sie etwas unwiederbringlich in mir zerstört: meine Sicherheit. Denn bisher hatte jene sonderbare Beziehung zu den Kekesfalvas mein Selbstgefühl in einer wunderbaren Weise gesteigert. Ich hatte zum ersten Male in meinem Leben mich als der Gebende, als der Helfende gefühlt; nun wurde ich gewahr, wie die andern diese Beziehung sahen, oder vielmehr, wie man sie von außen, in Unkenntnis all der geheimen Zusammenhänge, unvermeidlich sehen mußte. Was konnten Fremde denn verstehen von dieser subtilen Lust des Mitleidens, der ich – ich kann es nicht anders sagen – wie einer dunklen Leidenschaft verfallen war. Für sie blieb es ausgemacht, daß ich mich einzig deshalb einnistete in dieses üppige, gastliche Haus, um mich reichen Leuten anzubiedern, ein Nachtmahl zu sparen und mir Geschenke zu holen. Dabei meinen sie’s innerlich nicht böse, sie gönnen mir, die guten Jungen, die warme Ecke, die schönen Zigarren; sie sehen zweifellos – und gerade das ärgert mich – nicht das geringste Unehrenhafte oder Unsaubere darin, daß ich mich von diesen »Wurzen« fêtieren und hofieren lasse, weil unsereiner, nach ihrer Auffassung, so einem Pfeffersack doch nur eine Ehre antut, wenn man als Kavallerieoffizier sich an seinen Tisch setzt; nicht die geringste Mißbilligung hatte dabei mitgespielt, wenn der Ferencz und der Jozsi jene goldene Zigarettendose bewunderten im Gegenteil, es hatte ihnen sogar einen gewissen Respekt eingeflößt, daß ich es verstand, meine Mäzene derart hochzunehmen. Aber was mich jetzt so sehr verdrießt, ist, daß ich selber an mir irre zu werden beginne. Führe ich mich denn nicht wirklich wie ein Schmarotzer auf? Darf ich als Offizier, als erwachsener Mensch mich Abend für Abend freihalten und hofieren lassen? Die goldene Tabatiere zum Beispiel, die hätte ich keinesfalls annehmen dürfen und ebensowenig den seidenen Schal, den sie mir jüngst umhängten, als es draußen so stürmte. Man läßt sich als Kavallerieoffizier keine Zigarren für den Nachhauseweg in die Tasche schieben, und – um Gottes willen, das muß ich morgen gleich Kekesfalva ausreden, – das mit dem Reitpferd! Jetzt fällt’s mir erst auf, daß er vorgestern etwas gemurmelt hat, mein brauner Wallach (den ich natürlich auf Raten abzahle) halte nicht gut Form, und damit hat er schließlich recht. Aber daß er mir aus seinem Gestüt einen Dreijährigen leihen will, einen famosen Renner, mit dem ich Ehre einlegen könne, das paßt mir nicht. Ja, »leihen« – ich verstehe schon, was das bei ihm heißt! So wie er Ilona eine Mitgift versprochen hat, nur damit sie bei dem armen Kind als Pflegerin durchhält, will er mich kaufen, mich bar bezahlen für mein Mitleid, für meine Späße, meine Gesellschafterei! Und ich einfältiger Mensch wäre beinahe darauf hereingefallen, ohne zu merken, daß ich mich damit zum Schmarotzer herabwürdige!

Unsinn, sage ich mir dann wieder und erinnere mich, wie erschüttert der alte Mann meinen Ärmel gestreichelt, wie jedesmal sein Gesicht hell wird, kaum daß ich die Tür hereintrete. Ich erinnere mich an die herzliche, brüderlich-schwesterliche Kameradschaft, die mich mit den beiden Mädchen verbindet; die achten gewiß nicht darauf, ob ich vielleicht ein Glas zuviel trinke, und wenn sie’s merken, so freut sie’s doch nur, daß ich’s mir bei ihnen wohl sein lasse. Unsinn, Irrsinn, wiederhole ich mir immer wieder, Unsinn – dieser alte Mann liebt mich mehr als mein eigener Vater.

Aber was hilft alles Sichzureden und Sichaufrichten, wenn einmal das innere Gleichgewicht ins Schwanken gekommen ist! Ich spüre: das Schmatzen und Staunen von Jozsi und Ferencz hat mir meine gute, meine leichte Unbefangenheit zerstört. Gehst du wirklich nur aus Mitleid, nur aus Mitgefühl zu diesen reichen Leuten, frage ich mich argwöhnisch? Steckt nicht auch ein gutes Stück Eitelkeit und Genießerei dahinter? Jedenfalls, da muß Klarheit geschaffen werden. Und als erste Maßnahme beschließe ich, von nun ab Pausen in meine Visiten einzuschalten und gleich morgen den üblichen Nachmittagsbesuch bei den Kekesfalvas zu unterlassen.

* * *

Ich bleibe also am nächsten Tage aus. Gleich nach Beendigung des Dienstes bummle ich mit Ferencz und Jozsi hinüber ins Café, wir lesen die Zeitung und beginnen dann den unvermeidlichen Tarock. Aber ich spiele verdammt schlecht, denn gerade mir gegenüber ist in der getäfelten Wand eine runde Uhr eingelassen: vier Uhr zwanzig, vier Uhr dreißig, vier Uhr vierzig, vier Uhr fünfzig, anstatt die Tarocke richtig mitzuzählen, zähle ich die Zeit. Halb fünf, da rücke ich gewöhnlich an zum Tee, alles steht gedeckt und bereit, und wenn ich mich einmal um eine Viertelstunde verspäte, so sagen und fragen sie schon: »Was war denn heute los?« So selbstverständlich ist mein pünktliches Kommen bereits geworden, daß sie damit wie mit einer Verpflichtung rechnen; seit zweieinhalb Wochen habe ich keinen Nachmittag versäumt, und wahrscheinlich blicken sie jetzt genau so unruhig wie ich selbst auf die Uhr und warten und warten. Ob sich’s nicht doch gehören würde, daß ich wenigstens hinaustelephonierte, um abzusagen? Oder vielleicht noch besser, ich schicke meinen Burschen …

»Aber Toni, das ist doch ein Skandal, was du heut zusamm’patzt. Paß doch anständig auf«, ärgerte sich der Jozsi und sieht mich ganz fuchtig an. Meine Zerstreutheit hat ihn ein Rekontra gekostet. Ich raffe mich zusammen.

»Sag, kann ich mit dir Platz tauschen?«

»Natürlich, aber warum denn?«

»Ich weiß nicht«, lüge ich, »ich glaube, der Lärm in der Bude hier macht mich so nervios.«

In Wirklichkeit ist es die Uhr, die ich nicht ansehen will, und ihr unerbittliches Vorrücken Minute um Minute. Ein kribbeliges Gefühl sitzt mir in den Nerven, immer wieder flattern mir die Gedanken weg, immer wieder bedrückt’s mich, ob ich nicht doch ans Telephon gehen und mich entschuldigen sollte. Zum erstenmal beginne ich zu ahnen, daß wirkliche Teilnahme sich nicht einschalten und abschalten läßt wie ein elektrischer Kontakt, und jedwedem, der teilnimmt an fremdem Schicksal, etwas genommen wird an Freiheit des eigenen.

Aber Kreuzteufel, fahre ich mich selber an, ich bin doch nicht verpflichtet, täglich die halbe Stunde weit hinauszustiefeln. Und gemäß dem geheimen Gesetz der Gefühlsverschränkung, demzufolge ein Geärgerter seinen Ärger unbewußt gegen ganz Unbeteiligte weitergibt wie eine Billardkugel den empfangenen Stoß, wendet sich meine Verstimmung statt gegen Jozsi und Ferencz gegen die Kekesfalvas. Sie sollen nur einmal auf mich warten! Sollen sehen, daß ich mit Geschenken und Liebenswürdigkeiten nicht zu kaufen bin, daß ich nicht auf die Stunde antrete wie der Masseur oder Turnlehrer. Nur kein Präjudiz schaffen, Gewohnheit verpflichtet, und ich will mich nicht festlegen. So versitze ich in meinem dummen Trotz dreieinhalb Stunden bis halb acht im Kaffeehaus, einzig um mir einzureden und zu beweisen, daß ich vollkommen frei bin, zu kommen und zu gehen, wann ich will, und daß mir das gute Essen und die noblen Zigarren der Kekesfalvas total gleichgültig sind.

Um halb acht Uhr machen wir uns zusammen auf. Ferencz hat einen kleinen Bummel über den Korso vorgeschlagen. Aber kaum daß ich hinter den beiden Freunden aus dem Kaffeehaus trete, streift mich ein bekannter Blick im raschen Vorübergehen an. Ist das nicht Ilona gewesen? Natürlich – selbst wenn ich das weinrote Kleid und den breiten bebänderten Panamahut nicht gerade vorgestern bewundert hätte, würde ich sie von rückwärts erkannt haben an dem weichen, wiegenden Hüftgang. Aber wohin eilt sie denn so hitzig? Das ist doch kein Promenierschritt, sondern eher Sturmlauf – jedenfalls dem hübschen Vogel nach, so geschwind er auch flattern mag!

»Pardon«, empfehle ich mich etwas brüsk von meinen verblüfften Kameraden und eile dem schon über die Straße wehenden Rock nach. Denn wirklich, ich freue mich unbändig über den Zufall, die Kekesfalvanichte einmal in meiner Garnisonswelt zu erwischen.

»Ilona, Ilona, stopp, stopp!« rufe ich ihr nach, die merkwürdig rasch geht; schließlich bleibt sie doch stehen, ohne dann im geringsten überrascht zu tun. Natürlich hat sie mich bei dem Vorüberstreifen längst bemerkt.