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Триумфальная арка / Arc de Triomphe
Триумфальная арка / Arc de Triomphe
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Триумфальная арка / Arc de Triomphe

4

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Триумфальная арка / Arc de Triomphe

«Herr Ravic», sagte die Schwester. «Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.»

«Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.» Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. «Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?»

«Gottlob nein.»

«Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.»

«Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben wird.»

«Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem Hotel.»

«Schönes Hotel, die Judenbude.»

Ravic drehte sich um. «Eugenie, nicht alle Flüchtlinge sind Juden. Noch nicht einmal alle Juden sind Juden. Und manche sind es, von denen man es nicht glaubt. Ich kannte sogar mal einen jüdischen Neger. War ein furchtbar einsamer Mensch. Das einzige, was er liebte, war chinesisches Essen. So geht es in der Welt zu.»

Die Schwester antwortete nicht. Sie putzte eine Nickelplatte, die völlig blank war.

Ravic saß in dem Bistro an der Rue La Boissiere und starrte durch die verregneten Scheiben, als er den Mann draußen sah. Es war wie ein Schlag in den Magen. Im ersten Augenblick fühlte er nur den Schock, ohne zu realisieren, was es war – aber gleich darauf stieß er den Tisch beiseite, sprang von seinem Stuhl auf und lief durch den vollen Raum der Tür zu.

Jemand hielt ihn am Arm fest. Er drehte sich um. «Was?» fragte er verständnislos. «Was?»

Es war der Kellner. «Sie haben nicht bezahlt, mein Herr.»

«Was? – Ach so … ich komme zurück …»

Der Kellner wurde rot. «Das gibt es hier nicht! Sie …»

«Hier …»

Ravic riß einen Schein aus der Tasche, warf ihn dem Kellner zu und riß die Tür auf. Er drängte sich an einer Gruppe von Leuten vorbei und stürzte nach rechts, um die Ecke, die Rue La Boissiere entlang.

Jemand schimpft e hinter ihm her. Er ging so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Es ist unmöglich, dachte er, es ist völlig unmöglich, ich bin verrückt, es ist unmöglich! Das Gesicht, dieses Gesicht, es muß eine Ähnlichkeit sein, ein blöder Trick, den meine Nerven mir spielen – es kann nicht in Paris sein, dieses Gesicht, es ist in Deutschland, es ist in Berlin, die Scheibe war verregnet, man konnte nicht deutlich sehen, ich muß mich geirrt haben, bestimmt… Er ging weiter, eilig. An der Kreuzung der Avenue Kléber blieb er stehen. Eine Frau, eine Frau mit einem Pudel, erinnerte er sich plötzlich. Gleich hinterher war der andere gekommen. Die Frau mit dem Pudel hatte er schon längst überholt. Rasch ging er zurück. Als er die Frau mit dem Hund von weitem sah, blieb er an der Bordkante stehen.

Ravic spürte plötzlich, daß er naß von Schweiß war. Er wartete noch einige Minuten – das Gesicht kam nicht. Er musterte die geparkten Autos. Niemand saß darin. Er kehrte wieder um und ging bis zur Untergrundbahn an der Avenue Kleber. Er lief den Eingang hinunter, löste ein Billett und ging den Bahnsteig entlang. Es waren ziemlich viel Leute da. Bevor er durch war, lief ein Zug ein, hielt und verschwand in dem Tunnel. Der Bahnsteig war leer. Langsam ging er zurück in das Bistro. Er setzte sich an den Tisch, an dem er vorher gesessen hatte. Da stand noch ein Glas, halbvoll mit Calvados. Es schien sonderbar, daß es immer noch da stand … Der Kellner sah ihn «Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich wußte nicht …»

«Gut, gut», sagte Ravic. «Bringen Sie mir ein anderes Glas Calvados.»

«Ein anderes?» Der Kellner blickte auf das halbvolle Glas auf dem Tisch. «Wollen Sie dieses nicht erst trinken?»

«Nein. Bringen Sie mir ein anderes.» Der Kellner nahm das Glas. «Ist er nicht gut?»

«Doch. Ich will nur ein anderes haben.»

«Gut, mein Herr.»

Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger, er beobachtete jeden Menschen, der vorüberging … Er erinnerte sich an Berlin. Ein Sommerabend 1934 – das Haus der Gestapo; Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das blendende Licht nackter elektrischer Birnen; ein Tisch mit roten Flecken und Riemen zum Festschnallen; Schmerz, Qual, das fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Männer in Uniform, die sie hielten – und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte, was mit der Frau geschehen würde. Sybil wurde drei Tage später tod gefunden. ..

Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch. «Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.»

«Gut, gut. Danke.»

Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und bestellte einen anderen Calvados. Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er vor ein paar Minuten gesehen hatte – es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich, daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Er rief den Kellner und zahlte.

Er saß mit Morosow in der Katakombe.

«Du glaubst nicht, daß er es war?» fragte Morosow.

«Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das nicht mehr sicher ist.»

«Pech, daß du im Bistro warst.»

«Gespenster», sagte Ravic. «Dachte, ich wäre drüber weg.»

«Das ist man nie. Ich habe das auch gehabt. Im Anfang hauptsächlich. In den ersten fünf, sechs Jahren. Ich warte noch auf drei in Rußland. Es waren sieben. Vier sind gestorben. Zwei davon erschossen von der eigenen Partei. Ich warte jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Seit 1917. Einer von den dreien, die noch leben, ist jetzt an siebzig. Die anderen beiden um vierzig, fünfzig herum. Die werde ich hoffentlich noch kriegen. Es sind die für meinen Vater.»

Ravic sah Boris an. Er war ein Riese, aber über sechzig. «Du wirst sie kriegen», sagte er.

«Ja.»Darauf warte ich. Lebe deshalb vorsichtiger. Trinke nicht mehr so oft . Vielleicht dauert es noch eine Zeit. Ich muß kräftig sein dann. Ich will nicht schießen und nicht stechen.»

«Ich auch nicht.»

Sie saßen eine Zeitlang. «Wollen wir eine Partie Schach spielen?» fragte Morosow.

«Ja»

Sie machten zwei Spiele. Dann stand Morosow auf. «Ich muß gehen, Türen öffnen. Warum schaust du eigentlich nie mehr bei uns herein?»

«Ich weiß nicht.»

«Wie ist es mit morgen abend?»

«Morgen abend kann ich nicht. Da gehe ich essen. Ins Maxime.»

Morosow grinste. «Für einen illegalen Flüchtling treibst du dich eigentlich ziemlich frech in den elegantesten Lokalen von Paris herum.»

«Das sind die einzigen, in denen man völlig sicher ist, Boris. Wer sich wie ein Flühtlinge benimmt , wird bald erwischt»

«Stimmt. Mit wem gehst du denn?»

«Mit Kate Hegström.»

Morosow tat einen Pfiff . «Kate Hegström», sagte er. «Ist sie zurück?»

«Sie kommt morgen früh. Von Wien.»

«Gut. Dann sehe ich dich also doch später bei uns.»

«Vielleicht auch nicht.»

Morosow winkte ab. «Unmöglich! Die Scheherazade ist Kate Hegströms Hauptquartier, wenn sie in Paris ist.»

«Diesmal ist es anders. Sie kommt, um in die Klinik zu gehen. Wird in den nächsten Tagen operiert.» «Dann wird sie gerade kommen. Du verstehst nichts von Frauen.Oder willst du nicht, daß sie kommt?»

«Warum nicht?»

«Mir fällt gerade ein, daß du nicht bei uns warst, seit du mir damals die Frau geschickt hast. Joan Madou. Scheint mir doch kein reiner Zufall zu sein.»

«Unsinn. Ich weiß nicht einmal, daß sie noch bei euch ist. Konntet ihr sie gebrauchen?»

«Ja. Sie war zuerst im Chor. Jetzt hat sie eine kleine Solonummer. Zwei oder drei Lieder.»

«Hat sie sich inzwischen einigermaßen gewöhnt?»

«Natürlich. Warum nicht?»

«Sie war verdammt verzweifelt.»

«Was?» fragte Morosow und lächelte. «Ravic», erwiderte er väterlich mit einem Gesicht, in dem plötzlich alle Erfahrung der Welt waren. «Rede keinen Unsinn. Das ist ein ziemlich großes Luder.»

«Was?» sagte Ravic.

«Ein Luder. Keine Hure[2]. Ein Luder. Wenn du ein Russe wärest, würdest du das verstehen.»

Ravic lachte. «Dann muß sie sich sehr geändert haben. Servus, Boris! »

7

«Wann muß ich in der Klinik sein, Ravic?» fragte Kate Hegström.

«Wann Sie wollen. Morgen, übermorgen, irgendwann. Es kommt auf einen Tag nicht an.»

Sie stand vor ihm, schmal, selbstsicher, hübsch und nicht mehr ganz jung.

Ravic hatte ihr vor zwei Jahren den Blinddarm herausgenommen. Es war seine erste Operation in Paris gewesen. Sie hatte ihm Glück gebracht. Er hatte seitdem gearbeitet und keine Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt. Sie war für ihn eine Art Glücksbringer.

«Diesmal habe ich Angst», sagte sie. «Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe Angst.»

«Das brauchen Sie nicht. Es ist eine Routinesache.»

Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Draußen lag der Hof des Hotels Lancaster. Eine mächtige alte Kastanie reckte ihre alten Arme aufwärts zum nassen Himmel. «Dieser Regen», sagte sie. «Ich bin in Wien weggefahren, und es regnete. Ich bin in Zürich aufgewacht, und es regnete. Und jetzt hier …» Sie schob die Vorhänge zurück. «Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich werde alt.»

«Das glaubt man immer, wenn man es nicht ist.»

«Ich sollte anders sein. Ich bin vor zwei Wochen geschieden worden. Ich sollte froh sein. Aber ich bin müde.

Der scharmante Faulenzer, den ich vor zwei Jahren geheiratet hatte, wurde plötzlich ein brüllender Sturmführer, der den alten Professor Bernstein Straßen waschen ließ und dabeistand und lachte. Bernstein, der ihn ein Jahr vorher von einer Nierenentzündung geheilt hatte. Angeblich, weil das Honorar zu hoch gewesen war.

«Das Honorar, das ich bezahlt hatte, nicht er.»

«Seien Sie froh, daß Sie ihn los sind.»

«Er verlangte zweihundertfünfzigtausend Schilling für die Scheidung.»

«Billig», sagte Ravic. «Alles, was man mit Geld abmachen kann, ist billig.»

«Er hat nichts bekommen.Ich habe ihm gesagt, was ich über ihn, seine Partei und seinen Führer denke – und daß ich das von nun an öffentlich tun würde. Er drohte mir mit Gestapo und Konzentrationslager. Ich habe ihn ausgelacht. Ich sei immer noch Amerikanerin und unter dem Schutz der Gesandtschaft . Mir würde nichts geschehen, aber ihm, weil er mit mir verheiratet sei.»

Sie lachte. «Daran hatte er nicht gedacht. Er machte von da an keine Schwierigkeiten mehr.»

Gesandtschaft, Schutz, Protektion, dachte Ravic. Das war wie von einem anderen Planeten. «Mich wundert, daß Bernstein noch praktizieren darf», sagte er.

«Er darf nicht mehr. Er hat mich heimlich untersucht, als ich die erste Blutung hatte. Gut, daß ich kein Kind bekommen darf. Ein Kind von einem Nazi …»

Sie schüttelte sich.

Ravic stand auf. «Ich muß jetzt gehen. Veber wird Sie nachmittags noch einmal untersuchen. Nur der Form wegen.»

«Ich weiß. Trotzdem – ich habe Angst diesmal.»

«Aber Kate – es ist doch nicht das erstemal. Einfacher als der Blinddarm, den ich Ihnen vor zwei Jahren herausgenommen habe.» Ravic nahm sie leicht um die Schultern. «Sie waren meine erste Operation, als ich nach Paris kam. Das ist etwas wie eine erste Liebe. Ich werde schon aufpassen. Außerdem haben mir Glück gebracht. Das sollen Sie auch weiter.»

«Ja», sagte sie und sah ihn an.

«Gut. Adieu, Kate. Ich hole Sie abends um acht Uhr ab.»

«Adieu, Ravic. Ich gehe jetzt, mir ein Abendkleid bei Mainbocher kaufen. Ich muß diese Müdigkeit loswerden. Und das Gefühl, in einem Spinngewebe zu sitzen. Dieses Wien», sagte sie mit einem bitteren Lächeln, «die Stadt der Träume …»

Ravic fuhr mit dem Aufzug herunter und ging an der Bar vorbei durch die Halle. Im zweiten Stock des «International» war großer Betrieb. Einige Zimmer stand offen, das Mädchen und der Valet rannten hin und her und die Besitzerin dirigierte alles vom Korridor her. Ravic kam die Treppe herauf. «Was ist los?» fragte er.

Die Besitzerin war eine kräftige Frau mit mächtigem Busen und einem zu kleinen Kopf mit kurzen, schwarzen Locken. «Die Spanier sind doch fort», sagte sie.

«Das weiß ich. Aber wozu räumen Sie so spät die Zimmer noch auf?»

«Wir brauchen sie morgen früh.»

«Neue deutsche Emigranten?»

«Nein, spanische.»

«Spanische?» fragte Ravic, der einen Augenblick nicht verstand, was sie meinte. « Als Spanien dann republikanisch wurde, gingen sie zurück, und die Monarchisten und Faschisten kamen her. Jetzt gehen die letzten davon zurück, und die Republikaner kommen wieder. Die, die noch übrig sind.»

Boris stand in seiner Uniform vor der Scheherazade und öffnete die Tür des Taxis. Ravic stieg aus. Morosow lächelte an. «Ich dachte, du wolltest nicht kommen?» «Das wollte ich auch nicht.»

«Ich habe ihn gezwungen, Boris.» Kate Hegström umarmte Morosow. «Gottlob, daß ich wieder zurück bin bei euch!»

«Sie haben eine russische Seele, Katja. Der Himmel weiß, warum Sie in Boston geboren werden mußten. Komm, Ravic.» Morosow stieß die Tür zum Eingang auf. «Der Mensch ist groß in seinen Vorsätzen, aber schwach in der Ausführung[3]. Darin liegt unser Elend und unser Scharm.»

Die Scheherazade war wie ein kaukasisches Zelt eingerichtet. Die Kellner waren Russen in roten Tscherkessenuniformen. Das Orchester bestand aus russischen und rumänischen Zigeunern. Man saß an kleinen Tischen, die vor einer Bankette standen, die an der Wand entlanglief. Der Raum war dunkel und ziemlich besetzt.

«Was wollen Sie trinken, Kate?» fragte Ravic.

«Wodka. Und die Zigeuner sollen spielen. Ich habe genug vom ›Wiener Wald‹ im Parademarsch.» Sie zog zog die Füße ohne Schuhe auf die Bankette. «Ich bin jetzt nicht mehr müde, Ravic», sagte sie. «Ein paar Stunden Paris haben mich schon verändert. Aber mir ist immer noch, als wäre ich aus einem Konzentrationslager entkommen. Können Sie sich das vorstellen?»

Ravic sah sie an. «So ungefähr», sagte er.

Der Tscherkesse brachte eine kleine Flasche Wodka und die Gläser. Ravic füllte sie und gab eines an Kate Hegström. Sie trank es rasch und durstig und stellte es zurück. Dann sah sie sich um. Das weiche Licht unter der Tischplatte erleuchtete ihr Gesicht. «Warum, Ravic? Nachts wird alles farbiger. Nichts erscheint einem mehr schwer, man glaubt, alles zu können, und was man nicht erreichen kann, füllt man mit Träumen aus. Warum?»

Er lächelte. «Wir haben unsere Träume, weil wir ohne sie die Wahrheit nicht ertragen könnten.»

Das Orchester begann zu stimmen. «Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich mit Träumen betrügen würden», sagte Kate.

«Man kann sich auch mit der Wahrheit betrügen. Das ist ein noch gefährlicherer Traum.»

Das Orchester fing an zu spielen. Der Zigeuner kam an den Tisch.

Kate Hegström fühlte die Melodie auf ihrer Haut. Der Zigeuner verbeugte sich. Ravic schob ihm unter dem Tisch einen Schein in die Hand. Kate Hegström rührte sich in ihrer Ecke. «Waren Sie einmal glücklich, Ravic?»

«Oft.»

«Das meine ich nicht. Ich meine richtig glücklich. Atemlos, besinnungslos, mit allem, was Sie haben.»

«Oft , Kate», sagte er und meinte etwas ganz anderes und wußte, auch das war es nicht.

«Sie wollen mich nicht verstehen. Oder nicht darüber sprechen. Wer singt da jetzt mit dem Orchester?»

«Ich weiß es nicht. Ich war lange nicht hier.»

«Man kann die Frau von hier nicht sehen. Sie ist nicht mit den Zigeunern. Sie muß irgendwo an einem Tisch sitzen.»

«Dann ist es wahrscheinlich ein Gast. Das passiert hier oft .»

«Eine sonderbare Stimme», sagte Kate Hegström. «Traurig und rebellisch in einem.»

«Das sind die Lieder.»

«Oder ich bin es. Verstehen Sie, was sie singt?»

«Ja wass loubill» – «ich habe dich geliebt. Ein Lied von Puschkin.»

«Können Sie Russisch?»

«Nur so viel, wie Morosow mir beigebracht hat. Meistens Schimpfwörter. Russisch ist eine hervorragende Sprache für Schimpfwörter»

«Sie sprechen nicht gern über sich?»

«Ich denke sogar nicht gern über mich nach.»

Sie saß eine Weile und schwieg.

«Das ist aber nicht mehr russisch», sagte sie dann und horchte zu der Musik hinüber.

«Nein. Das ist italienisch. Santa Lucia Luntana.»

Der Scheinwerfer wanderte vom Geiger zu einem Tisch neben dem Orchester hinüber. Ravic sah die Frau jetzt, die sang. Es war Joan Madou. Sie saß allein an dem Tisch, einen Arm aufgestützt, und blickte vor sich hin, als wäre sie in Gedanken und außer ihr niemand da. Ihr Gesicht war sehr bleich in dem weißen Licht. Es hatte nichts mehr von dem verwischten Ausdruck, den er kannte. Es war plötzlich von einer aufregenden, verlorenen Schönheit. Er erinnerte sich, er hatte sie einmal schon so gesehen– nachts in ihrem Zimmer . Jetzt war es ganz da, und es war noch mehr da.

«Was ist los, Ravic?» fragte Kate Hegström.

Er wandte sich um. «Nichts. Ich kenne nur das Lied. »

«Erinnerungen.»

«Nein. Ich habe keine Erinnerungen.»

Er sagte es heftiger, als er wollte. Kate Hegström sah ihn an. «Manchmal möchte ich wissen, was mit Ihnen los ist, Ravic.»

«Nicht mehr als mit jedem anderen. Hier ist ein neuer Wodka für Sie, Kate. »

Das Orchester begann einen Blues zu spielen. Es spielte Tanzmusik ziemlich schlecht. Ein paar Gäste begannen zu tanzen. Joan Madou stand auf und ging dem Ausgang zu. Sie ging, als wäre das Lokal leer. Ravic fiel plötzlich ein, was Morosow über sie gesagt hatte. Sie kam ziemlich nahe an seinem Tisch vorbei. Es schien ihm, als hätte sie ihn gesehen; aber ihr Blick glitt gleich darauf gleichgültig über ihn hinweg, und sie verließ den Raum.

«Kennen Sie die Frau?» fragte Kate Hegström, die ihn beobachtet hatte.

«Nein.»

8

«Sehen Sie das, Veber?» fragte Ravic. «Hier – und hier – und hier…»

Ravic richtete sich auf. «Krebs», sagte er. «Klarer, Krebs! Das ist die verfluchteste Operation, die ich seit langem gemacht habe. Aber wir können nicht von unten arbeiten, müssen schneiden, und plötzlich finden wir Krebs.»

Veber sah ihn an. «Was wollen Sie machen?»

«Wir müssen weiterschneiden. Den Hysterektomieschnitt[4] machen», sagte Ravic. «Keinen Sinn, was anderes zu tun. Das verdammte ist nur, daß sie es nicht weiß. Wie ist der Puls?» fragte er die Narkoseschwester.

«Regelmäßig. Neunzig.»

«Blutdruck?»

«Hundertzwanzig.»

«Gut.» Ravic sah auf den Körper Kate Hegströms, der auf dem Operationstisch lag. «Sie müßte es vorher wissen. Sie müßte einverstanden sein. Wir können nicht so einfach in ihr herumschneiden. – Oder können wir?»

«Nach dem Gesetz nicht. Sonst … wir haben ja schon angefangen.»

«Das mußten wir. Die Ausschabung[5] war nicht von unten zu machen. Dies hier ist eine andere Operation. Eine Gebärmutter herausnehmen, ist etwas anderes als eine Auskratzung[6].»

«Ich glaube, sie vertraut Ihnen, Ravic.»

«Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber ob sie einverstanden wäre …?» Messer, Eugenie.» Er machte den Schnitt bis zum Nabel .

«Sehen Sie hier, Veber … und hier …. Die dicke, harte Masse. Es ist schon zu weit.»

Veber starrte auf die Stelle, die Ravic ihm zeigte. «Sehen Sie das hier», sagte Ravic. «Wir können die Arterien nicht mehr abklammern. Hoffnungslos …»

Er löste vorsichtig ein schmales Stück los. «Ist Boisson im Laboratorium?»

«Ja», sagte die Krankenschwester. «Er wartet schon.»

«Gut. Schicken Sie es hinüber. Wird nicht länger als zehn Minuten dauern.»

«Sagen Sie ihm, er soll telefonieren», sagte Veber. «Sofort. Wir warten mit der Operation.»

Ravic richtete sich auf.

«Wie ist der Puls?»

«Fünfundneunzig.»

«Blutdruck?»

«Hundertfünfzehn.»

«Gut. Ich glaube, Veber, wir brauchen jetzt nicht mehr nachzudenken, ob wir ohne Zustimmung operieren sollen oder nicht. Hier ist nichts mehr zu tun.»

Veber nickte.

«Zunähen», sagte Ravic. «Das Kind wegnehmen, das ist alles. Zunähen und nichts sagen.»

Er stand einen Moment und sah auf den Körper unter den weißen Tüchern. Das grelle Licht machte die Tücher noch weißer, wie frischer Schnee. Kate Hegström, vierunddreißig Jahre alt, kapriziös, schmal, braun, trainiert, voll von Willen zum Leben – zum Tode verurteilt durch Krebs , der ihre Zellen zerstört hatte. Er beugte sich wieder über den Körper. «Wir müssen ja noch …»

Das Kind. In diesem zerfallenen Körper wuchs ja noch ein Leben heran. Verurteilt mit ihm. Irgend etwas, das einmal spielen wollte in Gärten, das irgend etwas werden wollte, Ingenieur, Priester, Soldat, Mörder, Mensch, etwas, das leben, leiden, glücklich sein wollte und zerbrechen … vorsichtig ging das Instrument– fand den Widerstand, brach ihn behutsam, brachte ihn heraus – vorbei. Nichts mehr als etwas totes Fleisch und Blut.

Das Telefon klingelte von unten. Veber blickte zur Tür. Ravic sah nicht hin. Er wartete. Er hörte die Tür. Die Schwester kam herein. «Ja», sagte Veber.

«Krebs.»

Ravic nickte und begann weiterzuarbeiten. Neben ihm zählte Eugenie die Instrumente. Er begann zu nähen. Fein, methodisch, genau, völlig konzentriert und ohne jeden Gedanken.

«Fertig.»

Eugenie kurbelte mit dem Fuß den Tisch wieder horizontal und deckte Kate Hegström zu. Scheherazade, dachte Ravic, vorgestern, ein Kleid von Mainbocher, waren Sie einmal glücklich, oft , ich habe Angst, eine Routinesache; die Zigeuner spielen. – Er sah auf die Uhr über der Tür. Zwölf. Mittag. Draußen öffneten sich jetzt die Büros und Fabriken, und gesunde Leute beeilen sich.

Die beiden Schwestern schoben den flachen Wagen aus dem Operationssaal heraus. Ravic riß die Gummihandschuhe von den Händen, ging in den Waschraum und begann sich zu waschen.

«Ihre Zigarette», sagte Veber, der sich neben ihm an dem zweiten Becken wusch.

«Sie verbrennen sich die Lippen.»

«Ja. Danke. Wer wird es ihr nur sagen, Veber?»

«Sie», erklärte Veber.

«Wir müssen ihr erklären, warum wir geschnitten haben. Sie hatte erwartet, wir würden es von innen machen. Wir können ihr nicht sagen, was es wirklich war.»

«Es wird Ihnen schon etwas einfallen», sagte Veber.

«Sie haben ja bis heute abend Zeit.Sie weiß, daß Sie sie operiert haben, und wird es von Ihnen wissen wollen. Sie würde nur unruhig werden, wenn ich käme.»

«Stimmt.»

«Ich verstehe nicht, wie es sich in so kurzer Zeit entwickeln konnte.»

«Es kann. Ich wollte, ich wüßte, was ich sagen soll.»

«Ihnen wird schon etwas einfallen, Ravic. Irgendeine Zyste oder ein Myom.»

«Ja», sagte Ravic. «Irgendeine Zyste oder ein Myom.»

Nachts ging er noch einmal zur Klinik. Kate Hegström schlief. Sie war abends aufgewacht, hatte erbrochen, ungefähr eine Stunde unruhig gelegen und war dann wieder eingeschlafen.

«Hat sie irgend etwas gefragt?»

«Nein», sagte die rotbackige Schwester.

«Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen. Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an.»

Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam. «Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.»

Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas dagegen. Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur bestellt? Er winkte dem Kellner. «Einen fine.» Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen. Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren seines Lebens.

Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern. Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall – eine Granate, die mitten ins Feuer geschlagen hatte –; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei seiner Kameraden tot – und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule besuchte– er lag da, den Magen und den Bauch aufgerissen … Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett, den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide gepreßt, den Mund offen, die Augen verständnislos starr. Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er. Ravic erinnerte sich, wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. «Komm mit», hatte er gesagt. «In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst auch.» Er hatte ihn angestarrt. Wie konnte es sein? Katczinsky hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: «Du kommst mit. Du wirst heute fressen und saufen.» Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt. «Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für Meßmann tun? – Nein. – Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine Chance da wäre, ihn zu retten?» – Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er wußte das von Katczinsky.

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