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Rurschatten
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Rurschatten

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Rurschatten

»Kennen Sie Josef Kaiser und wieso gab es Ärger mit ihm?«

»Ich hab den jungen Mann vielleicht einmal auf dem Flur gesehen. Nein, nein. Ich kann Ihnen nicht sagen, um was es ging.«

»Frau Utzerath, das ist jetzt wichtig. Haben Sie Herrn Rütters mal mit einem jungen Mädchen überrascht?«

»Ach, die Geschichte. Das war doch nichts. Sie hat ihm vorgelesen.«

»Vorgelesen?«

»Ja, er liebte es, vorgelesen zu bekommen. Ich hab ihn außer der Reihe sonntags besucht, und da saß sie neben seinem Bett. Ich glaube, sie las ihm Heinrich Böll vor. Ja, Böll. Den mochte er so gerne. Böll lebte in Langenbroich, und Rütters schätzte ihn sehr. Wir diskutierten früher oft die neuen Romane und stritten uns heftig über die Verfilmung von ›Die verlorene Ehre der Katharina Blum‹.«

»Frau Utzerath, hatte Herr Rütters, sagen wir mal, Interesse an jungen Frauen?«

»Nein, Herr Kommissar, ich muss doch bitten. Was hat das mit dem Mord zu tun? Herr Rütters war sehr spendabel und versuchte, Gutes zu tun. Es gab dieses Hilfsprogramm mit dem Herrn Kaiser, und der brachte wiederum andere junge Menschen mit. Rütters versuchte, ich betone, er versuchte, einen guten Einfluss auszuüben. Aber im Innersten glaubte er wohl nicht an einen Erfolg. Vielleicht wollte er durch etwas Muße und Lektüre Nachdenklichkeit erzeugen. Er wollte im Alter immer mehr aufklären, anderen helfen oder die Öffentlichkeit wachrütteln.«

»Wir müssen einfach allen Spuren nachgehen«, sagte Fett und schaute auf die schlanke Marie Utzerath, ihre blauen Augen, die Jeans, die ihr wirklich gut standen, und ihre Jugendlichkeit, die sie wohl nie verlieren würde. Manchmal lohnt sich ein Mord, um Menschen zu treffen, die irgendwie anders sind, dachte Fett und riss sich sofort wieder zusammen. Marie Utzerath gefiel ihm. Er, der cineastische Dilettant, dachte an Marlene Dietrich, die Garbo, Romy Schneider, Catherine Deneuve. Ein Hauch von all den Diven, das hatte die Marie Utzerath.

»Vielen und herzlichen Dank. Wenn Ihnen etwas einfällt, bitte einfach anrufen. Wir freuen uns auf Sie. Und, ach, wie kamen Sie damals, 1985, an die Stelle bei Herrn Rütters?«

»Empfehlung. Jemand hatte mich empfohlen. Ich war einige Jahre im Haus eines Freundes von Rütters. Juwelier Goldbach. Auch hier in Düren. Das Geschäft existiert noch in der Wirtelstraße. Alte Familie. Sie kannten sich, David Goldbach und Alexander Rütters. Düren ist klein. Sie waren eine Generation. Und meine Empfehlungen waren bestens. Immer.«

»Ja, ja. Empfehlung ist immer gut. Empfehlung, Frau Utzerath«, sagte lächelnd Kommissar Fett.

Sie verließen Marie Utzerath, und Fett war gespannt auf Schmelzers Meinung. Der war beim ersten Besuch nicht dabei.

»Nun, lieber Herr Schmelzer, was sagen Sie zu Frau Utzerath?«

»Eine interessante Person. Ich werde nicht richtig schlau aus ihr. Sie haben von ihr berichtet. Eigentlich wirkt sie eher wie die Witwe eines Unternehmers und nicht wie die Hausdame eines Papierfabrikanten. Ob sie uns bei dem Mordfall helfen kann, da hab ich so meine Zweifel. Wer hier lange alleine wohnt, der bastelt sich so seine Geschichte und Geschichten. Vielleicht möchte sie wichtiger oder geheimnisvoller erscheinen, als sie tatsächlich ist. Wir sollten sie mal im Büro durch den Computer laufen lassen. Vielleicht erfahren wir dann mehr als durch die aufwendigen Fahrten nach Düren.«

»Danke, Schmelzer. Eine gute Idee. Das machen wir gleich.«

Marie Utzerath

Er ließ sie durch den Computer laufen und siehe da: Marie Utzerath war 1941 in die Pflegefamilie Utzerath gegeben und von ihr adoptiert worden. Als Mutter war eine belgische Zwangsarbeiterin eingetragen namens Silvie van der Felde, die im Juni 1940 in der Papierfabrik Rütters zum Arbeitseinsatz gezwungen wurde. Vater unbekannt. Warum hatte sie das nicht gesagt? Da gab es mehr Verbindungen als zunächst gedacht. 1941 geboren. Adoptiveltern. Grundschule, Realschule, Berufsschule, Abitur im Abendgymnasium. Hauswirtschafterin in verschiedenen Familien, so auch bei Goldbach von 1966 bis 1976, dann andere Familien, Unternehmer, Anwälte und im Alter von 44 wird sie im Jahre 1985 die Hausdame von Alexander Rütters. Bis der im Jahr 2000 ins Seniorenstift Sankt Irmgardis zieht. 1960 Geburt des Sohnes Robert. Vater unbekannt. Der Junge spielt im Sommer 1965 an der Rur mit Freunden. Da explodiert ein Blindgänger. Alle fünf Kinder sind auf der Stelle tot. Eine englische Fliegerbombe vom Angriff auf Düren, so die Vermutung.

Ob Rütters Tochter mehr über Marie Utzerath wusste? Fett zog ein paar Linien. Rurschatten. Das Wort stand in der Mitte. Daneben die Namen. Richtig weiter war er immer noch nicht. Schatten. Viele Schatten.

Johnny

Schmelzer überprüfte das Alibi von Josef Kaiser und der Freundin, hörte nach bei den Nachbarn, checkte die Handydaten und kam zu dem Ergebnis, das er erwartet hatte. Josef Kaiser war nicht auf der Annakirmes gewesen, Josef Kaiser war ein armer Hund. Pflegefamilie, Schulen abgebrochen, Sankt Irmgardis war eine Chance, und auch hier wurde er ausgebeutet. Ja, er hatte Alexander Rütters immer wieder Mädchen vorbeigebracht, die ihm vorlesen sollten. Er wollte wohl so gerne den Klang einer jungen Stimme hören. Schmelzer suchte mehrere von ihnen auf und alle bestätigten, dass der »Alte«, wie sie ihn nannten, nur zuhören wollte. Dafür zahlte er den Mädchen 100 Euro, und Johnny Kaiser kassierte die Hälfte.

Ein Hinweis an die Heimaufsicht brachte den lieben Fred ins Schwitzen. Fred Strack-Zimmermann kassierte von den Jugendämtern und den Schutzbefohlenen, stellte den Paten überhöhte Kosten in Rechnung und fuhr nach Mallorca in seine Kleinbürgerfinca. Eine einvernehmliche Trennung war zu erwarten, vielleicht sogar eine Abfindung, und Stellvertreterin Helene Schulz-Weißenbach bekam unvermittelt einen Karriereschub. Sie half übrigens bei der Aufklärung mit großer und schlecht gespielter Naivität, nur, um den Gästen im Domizil Aufregung zu ersparen. Johnny Kaiser wurde also entlastet und entlassen, eine neue Maßnahme, so sein Sozialamtsbetreuer, sei in Sicht. Schmelzer wollte sich gar nicht erst vorstellen, welche. Er schloss den Aktendeckel Johnny Kaiser.

Schmelzer denkt

»Es geht sich um …«

»Nein, Schmelzer, es geht, es geht oder sagen Sie, von mir aus, meiner Meinung nach, nicht sich um, nicht sich um, dieser verdammte rheinische Reflexiv, immer dreht sich jemand um sich, trinkt sich jemand was, isst sich jemand selbst auf. Bitte, nicht es geht sich um. Sonst schalte ich ab.«

Fett war gereizt. Da liebte er diese Formulierungen, diese Wolkenschiebereien, diese Redewendungen, dieses Dumpfdeutsch besonders; er konnte nicht mehr. Sodbrennen, Kopfschmerzen, keine tröstende Hand. Nur diese lockere Verbindung.

»Schmelzer, noch mal von vorne.«

»Also, Rütters hat eine Haushälterin, deren Mutter vermutlich ab Mai 1940 in der Fabrik des Vaters gearbeitet hat. Merkwürdig. Rütters lebt in einem Luxusstift, ist Pate von einem Junkie, wird vom Geschäftsführer ausgenommen und vielleicht von dem Junkie erpresst. Wegen der Girls. Ich finde, der Loser Johnny, den sollten wir noch mal rannehmen. Auch wenn ich ihm den Mord nicht zutraue. Wenn der den Alten erpresst und mit Kumpels gemeinsame Sache gemacht hat, dann …«

»Warum dann der Zirkus mit der Geisterbahn? Ist doch viel zu kompliziert für den Jungen. Außerdem hat er ein Alibi. Seine Kumpels haben auch nicht genug drauf für so eine Nummer. Nein, irgendwo liegt ein anderer Faden. Den haben wir noch nicht. Ein Faden mit zahlreichen Knoten. Was ist mit dem Rurschatten? Was ist mit dem Vermögen von Rütters, was wurde eigentlich aus seinem Vater? Ich will mehr über die Familie wissen. Die sind doch ziemlich gut durch den Krieg gekommen.«

Fett dachte an Rührei mit Speck. Irgendwas Herzhaftes musste er essen. Heute war nicht sein Tag. Dazu noch Schießübungen im Schießkino um 14.00 Uhr. Wieder mal auf Filme ballern.

»Herr Fett, Kimme und Korn, sonst klappt das nicht.«

Davon bekam er immer Druck im Kopf. Hundestaffel, das wäre es gewesen. Warum ist er nicht zur Hundestaffel gegangen? Immer schön mit Bello durch die Wälder. Schnüffeln, draußen sein.

»Wo steht die Jagdbude von dem Rütters?«

»Irgendwo, Moment, hinter Einruhr.«

»Einruhr. Kenn ich. Ich schau mir das mal an.«

»Soll ich mitkommen, Chef?«

»Ach, Schmelzer. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Aber nicht erschrecken. Die Eifel ist hart, kantig. Und draußen nur Kännchen.«

Die Fliegerin

Fett und Schmelzer fuhren an einem heißen Mittwoch Ende August mit dem Opel Vectra raus nach Einruhr. Sie nahmen die Himmelsleiter, bogen hinter Roetgen nach Lammersdorf ab. Dann über Kesternich die Serpentinen hinunter nach Einruhr. Schmelzer lenkt, Fett denkt. Fenster auf.

»Robert 35 von Zentrale.«

»Robert 35 hört.«

»Position?«

»B 265 vor Einruhr. Mordfall Rütters. Ortsbesichtigung.«

»Verstanden. Ende.«

»Ende.«

»Herr Fett, was machen wir hier eigentlich?«

Schmelzer ruderte mit dem Lenkrad wie W. C. Fields in seinen besten Filmen.

»Nachdenken, Schmelzer. Kaffee trinken. Wandern und nachdenken. Das ist kein einfacher Mord, Schmelzer. Hier steckt was dahinter. Etwas Geheimnisvolles.«

Schmelzer sinnierte und schaltete einen Gang runter, oder umgekehrt. Der Opel sinnierte und Schmelzer schaltete ab. Fett sprach mehr zu sich als zu Schmelzer: »Es könnte ein einfacher Fall sein. Jemand rächt sich an dem Alten. Bestimmt wegen der Fabrik oder irgendeiner Schikane vor 20 Jahren. Der Täter weiß, dass der Alte mit seiner Tochter jedes Jahr zum Feuerwerk geht. Aber was steckt genau dahinter? Warum macht der Alte das alles mit? Dann der Profimord mit Schalldämpfer. Hier stimmt was nicht. Er hätte auch im Seniorenstift erschossen werden können. Warum so spektakulär in der Geisterbahn? Da abbiegen, Hotel ›Seemöwe‹. Auf den Parkplatz.«

Schmelzer parkte ein.

»Schön hier. Muss ich mal mit den Kindern herkommen. Wenn ich mal welche habe.« Schmelzer schaute sich um und griff die Gedanken von Fett auf.

»Die Annakirmes bietet sich zur Flucht natürlich an. Wir können da keine Fahndung auslösen. Das wäre zu riskant gewesen. Ob mit dem Ort noch etwas signalisiert werden sollte? Geisterbahn, Schrecken, Grauen – aber alles nur künstlich. Sehr viel Lärm. – Wohin jetzt, Herr Fett?«

»Zu Fuß raus aus dem Ort, Rurstraße entlang und dann am Ufer weiter. Jägersweiler, so heißt dieses Waldstück, da muss die Hütte stehen. Sie haben recht, Schmelzer. Zugleich wurde seiner Tochter ein großer Schmerz zugefügt. Der Täter wusste, dass Rütters nicht alleine auf dem Platz war. Darauf nahm er keine Rücksicht. Vielleicht sollte genau das erzielt werden. Am Abend der Freude erfolgt der größte Schmerz.«

Beide gingen mit raschen Schritten und schweigend durch Einruhr. Vorbei am Freibad mit Holzverschlag als Eingang. Schmelzer schwitzte, Fett ging zügig voran.

»Der Weg ist noch asphaltiert. Keine Müdigkeit vortäuschen. Los, Schmelzer. Machen Sie mir hier nicht schlapp. Die Rurmücken fressen Sie auf.«

Schmelzer sah ein kühles Kölsch vor Augen. Fett schritt aus. Vorbei an der Kläranlage und der Behelfsanlegestelle auf die Wiesen zu.

»Hier war früher mal Sperrbezirk, aber nicht, was Sie denken. Truppenübungsplatz. Vogelsang. Nicht vom Weg abkommen. Minen. Überall.« Fett lachte.

»Da drüben ist Jägersweiler.«

Sie sahen die Reste von zwei Häusern.

»Das muss das Jagdhaus von Rütters gewesen sein. Wieso durfte der hier denn jagen? Sperrbezirk und mittendrin so ein Jagdhaus? Moment mal.« Fett zögerte. Irgendwas ging ihm durch den Kopf: »Liesel Bach.«

»Wer ist denn Liesel Bach?« Schmelzer verdrehte die Augen.

»Das da hinten, das ist das Haus von Liesel Bach. Und hier war das ehemalige Haus von Rütters.« Fett überlegte.

»Ich hab darüber gelesen. Fliegerin. Eine der ersten und besten deutschen Fliegerinnen. Das war ihr Haus. Rütters, Bach, Einruhr.«

Fett überlegte angestrengt.

»Grundbuchamt. – Schmelzer, checken Sie das. Wann ist das Haus von Liesel Bach eingetragen worden und das von Rütters? Warum durfte der im Sperrbezirk bleiben? Hier, so nah am Obersee der Rur.«

Ein lautes Tuten unterbrach seine Überlegungen. Die MS Aachen, ein Elektroausflugsdampfer, schipperte mit winkenden Niederländern in Richtung Einruhr. Fett konzentrierte sich.

Das Haus war verfallen. Nur wenige Meter daneben das Haus von Liesel Bach, ebenso verfallen. Die Natur hatte alles zurückerobert, wie man so sagt. Nichts war mehr erkennbar. Die Jagdhütte lag wunderschön eingebettet und ruhig mit Blick auf den Obersee. Vielleicht lag das Geheimnis dieses Mordes weit zurück, vielleicht war hier in einem Sommer der 30er- und 40er-Jahre etwas passiert. Fett setzte sich einen Moment in das kniehohe Gras. Die Ruhe überwältigte beide. Sie kehrten wortlos zurück nach Einruhr.

»Schmelzer, tragen Sie alles über Liesel Bach zusammen und über die Geschichte dieser Hütten. Wir müssen allen Spuren nachgehen.« Fett setzte sich auf den Beifahrersitz. Schweigend kehrten sie nach Aachen zurück. Am nächsten Tag trug Schmelzer vor.

Die geheimnisvolle Hütte

»Liesel Bach war eine Kunstfliegerin. Tolle Frau. Jahrgang 1905. 1992 in Frankreich gestorben. Hatte im Krieg Flugzeuge überführt. Nach dem Krieg flog sie durch Indien. Irgendwie unbeschadet aus der NS-Zeit rausgekommen. Die müssen sich gekannt haben. Vielleicht durch die Jagdhütte vom alten Rütters. Ach ja, dann wurde diese Jagdhütte von Rütters 1946 auf Goldbach, Düren, überschrieben. Nach dem Tod von Goldbach fiel es an Rütters zurück zur Nutzung, aber Eigentümer blieb Goldbach, Juwelier, Wirtelstraße. Der durfte auch drin bleiben während der Sperrzeit des ganzen Gebietes. Rütters, Goldbach und wieder Rütters.«

»Goldbach, Juwelier in Düren?«

Fett lief langsam auf Betriebstemperatur.

»Marie Utzerath war bei dem Juwelier doch mal Haushälterin. Liesel Bach, Alexander Rütters, David Goldbach, der Juwelier und Marie Utzerath. Mensch, Schmelzer, langsam verliere ich den Überblick.«

Diamantenfieber

Schmelzer trug alle zugänglichen Informationen über David Goldbach zusammen. Daraus ergab sich folgendes Bild:

David Goldbach, Jahrgang 1919, war mit Alexander Rütters zusammen ins Stiftische Gymnasium gegangen. Humanistische Bildung. Schmelzer tauchte wieder mal ab in Regesten, Archiven, Standesamtsakten. Der Name Goldbach hätte hellhörig machen müssen. Der Name klang nach einer jüdischen Familie. Davids Vater war hochdekorierter Weltkriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg. Die Eltern wurden 1943 deportiert, David ist irgendwie durch den Krieg gekommen. Die Goldbachs besaßen ein Juweliergeschäft und hatten beste Kontakte nach Antwerpen zu den dortigen Juwelieren.

David überlebte. Schutzengel oder wie immer der jüdische Kollege hieß. Wo und wie David genau gelebt hatte, war nicht mehr zu ermitteln. Aber 1946 übertrug der Angestellte, ein gewisser Heinrich Gülpen, das Geschäft zurück an David Goldbach, der es weiterführte und 1999, mit 80 Jahren, bei einem Segelausflug auf dem Rursee einen Unfall hatte und ertrank. Junggeselle. Keine Familie. Schmelzer hatte alles recherchiert. Bei der Polizei Düren war 1999 Oberkommissar Kuckertz der Ansprechpartner.

»Fragen Sie die Nachkommen, Schmelzer. Fragen, fragen, fragen. Wie gehören die alle zusammen? Kannten die Liesel Bach? Die war 15 Jahre älter als die beiden Burschen. Liesel Bach, fragen Sie mal nach, über sie gibt es Bücher. Vielleicht weiß jemand etwas über ihr Leben hier in der Eifel.«

Heißer Sommer

Es war Anfang September. Der Mord lag fast fünf Wochen zurück. Der Spätsommer wurde immer heißer. Im Freibad von Einruhr war Hochbetrieb. Niemand hatte sich in Aachen bei Fett gemeldet. Die Staatsanwältin Cordula Regauer war noch in den Ferien. Sie hatte genug mit anderen Fällen zu tun. Zwei, drei Mordversuche in der Elsassstraße, Westpark und im Studentenmilieu waren ruckzuck aufgeklärt. Pferdedoping beim CHIO, dem »Weltfest des Pferdesports«, wie es hieß – war nicht sein Gebiet. Fett schlenderte durch die Altstadt, ging zum Katschhof und schaute auf den Aachener Dom, das Oktogon, die Kapellen, die Domsingschule. Ruhe, Wärme, ein Cappuccino, ein Eis, luftig gekleidete Frauen, Studentinnen. Er atmete tief, eher seufzend.

Iska Sonntag aus Bonn, Leiterin SEK, die war schon bezaubernd. Sehr sportlich. Das Abendessen mit ihr in der Kunst- und Ausstellungshalle hatte er nicht vergessen. Vorher noch die Napoleon-Ausstellung. Es war ein heiterer Abend gewesen. Noch ein paar Mails. Mal ein Anruf. Sie war schwer erreichbar. Immer auf Abruf. Von Bonn aus ging es in den Erftkreis. Da hatten sich mafiöse Strukturen gebildet. Das Sondereinsatzkommando musste oft ran. Sie sah einfach gut aus. Sehr gut. Und sie lachte so erfrischend. Schlagfertig war sie auch. Irgendwie ansteckend. Fett seufzte in sich hinein. Gerade an solchen schönen Tagen fiel ihm das Alleinsein schwer. Viel wusste er noch nicht über sie, ihre Geschichte, ihr Leben. Auch da waren Geheimnisse. Was für ein schöner Sonntag. Er sagte es sich immer wieder, wenn er sie sah. Der Vorname, Iska, der Nachname, Sonntag, eine einmalige Kombination. Nordisch und vielleicht auch eine jüdische Familiengeschichte. Er würde sie beim nächsten Treffen darauf ansprechen.

»Ist hier noch frei?«

Fett blinzelte in die Sonne.

»Für schöne Frauen ist doch diese Bank reserviert«, sagte er in einem Anfall von überbordender Flirtfreude.

»Chauvi-Arsch!«, knallte es ihm entgegen.

Schade, dachte er, diese Emanzen mit dreifachem Nachnamen kontrollieren bestimmt auch noch beim Schnackseln, ob alles politisch korrekt abläuft. Er lachte über seinen Machowitz und ging auf die Rathausterrasse zum holländischen Wirt. Bach, Rütters, Goldbach, Utzerath, Johnny, Rurschatten. Alles gehörte irgendwie zusammen.

»Einen Crémant. Eiskalt, bitte.«

Er schaute auf den Dom. Mit gebeugtem Gang huschte der Dompropst aus der Ritter-Chorus-Straße über den Platz, müde vom Beten, sinnend über Spenden und Sünden, Gebote und den Gesang der Domsingschüler. Fett kannte den alten Herrn aus der Zeitung, ein begnadeter Bettler für den Dom, an dem es immer etwas zu reparieren gibt. Ablassgelder willkommen: für ein Kirchenfenster oder eine Sitzbank oder beides. Der Propst glitt wie auf Schlittschuhen über den Platz in Richtung Markt. Seine Füße waren unter der Soutane nicht zu sehen. Fett sinnierte über Rathaus und Dom, Politik und Glaube, dahinter der Marktplatz. Dreiecksverhältnisse: Politik, Religion, Wirtschaft. Alles dicht gedrängt. Dreieckig auch viele Plätze seit der Zeit Karls des Großen. Die Zahl drei ging ihm durch den Kopf: Entweder Alemannia Aachen, Mönchengladbach oder FC Köln, so waren die Vorlieben im Fußball verteilt. Der Dreiländerpunkt fiel ihm ein.

Als der Dompropst aus seinem Blickfeld verschwand, dachte er an seine Zeit als Messdiener: »Nach dem Mahl nahm er den Kelch, dankte wiederum, reichte ihn seinen Jüngern und sprach: Nehmet und trinket alle daraus, das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird.« Bong, Fett hatte wieder an der falschen Stelle auf den Gong geschlagen oder die Schellen geschüttelt. Der Pfarrer warf ihm zornige Blicke zu. Immer in der Frühmesse, da versagte Fett. Einfach zu früh. Er schellte, die Omas, mit schief gelegtem Kopf, standen rasch auf und prompt hatte er den Salat. Dann folgte eine Backpfeife in der Sakristei oder die Ohren wurden lang gezogen.

»Blut, das für euch und für alle vergossen wird.« Fett hatte genug Blut gesehen, völlig sinnlos vergossenes Blut. Ihn fröstelte bei den Erinnerungen an die Zeit als Messdiener. Ungern begleitete er den Pfarrer in die Landesklinik. Auch dort stand eine Kirche, allerdings für die behinderten Menschen, die während der Messe in der dunklen Kirche unheimliche Geräusche machten. Keiner der Messdiener sehnte sich danach, dort auf den Gong zu schlagen. Fett, der immer zu den kleinsten Messdienern zählte, stolperte in seinem Gewand durch den dunklen Bau und war immer froh, wenn er draußen war. Nun nahm er statt des Kelchs das Glas Crémant, dankte der Kellnerin und leerte den eiskalten Schaumwein in einem Zug. Leichte Gefühle der Blasphemie stiegen in ihm auf. Er dachte an den schlagenden Pfarrer, die lieblose Behandlung, und schon wurde ihm besser. Die blasphemischen Gedanken verschwanden.

Major van Bellen

Am nächsten Tag fuhr Fett zu einem der letzten Kommandanten von Camp Vogelsang: Major van Bellen. Er wohnte jetzt in Kelmis, La Calamine, direkt hinter der Grenze zu Aachen. Ein feiner, drahtiger Herr, Schnurrbart, durchtrainiert, Ordnung im Haus und ein Jaguar vor der Tür. Major van Bellen hatte die Auflösung des Camp Vogelsang vorbereitet und fast 25 Jahre seines Lebens dort verbracht. Fett wollte wissen, warum da unten in Jägersweiler die Hütten benutzt werden durften, obwohl sie im Sperrgebiet lagen. Rütters, Goldbach, Bach – vielleicht steckte mehr dahinter. Zumindest wollte er rasch Klarheit erlangen, um ansonsten andere Spuren zu verfolgen.

»Bonjour, Monsieur Fett. Entrez, entrez. Kommen Sie herein. Ja, ja. Vogelsang und Jägersweiler. Das wird mich bis zum Ende begleiten.« Major van Bellen erzählte sofort drauflos.

»Ich will mal so sagen, effektiv war das eine Missachtung der Regeln. Also dieses Jagdhaus und die zweite Bude da bei Jägersweiler, Sie wissen. Habe ich aber so übernommen. Mein Vorgänger, Colonel Rouland, der hat mich mal beiseitegenommen. Da war ich gerade angekommen. Staatsgeheimnis, très sécret, raunte er und schob mir einen Genever rüber. Ich mochte lieber Cognac. Na ja, also rein damit. Das ist nun mal so. Sagte er mit tiefem Blick in meine Augen. Diese Goldbach-Hütten bleiben, und wenn wir dort Atombomben testen müssen. Compris? – Natürlich, compris. Ich war gerade Hauptmann, er Colonel, und ich hatte den dritten Genever im Stehen erledigt. Kopfschuss. Keine Fragen. Ruhe. Silence. Sonst gibt es ein Problem. Also wir mussten nur den Goldbach anrufen, um ihm die Zeiten der Schießübungen mitzuteilen. Zweimal die Woche flogen 15,5 Zentimeter Artilleriegeschosse über die Hütte Richtung Dreiborn. Das war’s. Ansonsten konnte er jagen, wen oder was er wollte. Frauen, Hirsche, Füchse, Rehe, Hasen. War uns egal. Auch die Police Militaire war instruiert. Und pünktlich zur Weihnachtszeit trafen ein Karton Martell und fünf Kisten Moselwein bei mir ein. Für das Offizierskasino, versteht sich. Von Goldbach.«

Van Bellen roch leicht nach Cognac und hörte nicht mehr auf. Liesel Bach, nein, kenne er nicht. Schöne Frau? Alexander Rütters, nie gehört.

»Nur David Goldbach. Der tauchte bis, ja bis wann tauchte der mit Jagddackel und Gamshut eigentlich auf?« Er müsse passen. Das Gedächtnis. Und dann all die Granaten. Marke Martell, er lachte rachitisch, steckte sich eine Zigarre an.

»Sie auch?«

»Nein danke.«

Ob er etwas über Goldbachs jüdische Vergangenheit gehört habe?

»Jüdische Vergangenheit, Quatsch. Nein, nichts. Prost. Auf den Frieden. Aber diese Jagdhütte. Klasse Liebesnest. Sie wissen schon. Hervorragend. Wenn nicht gerade die Granaten drüber flogen. Könnte aber einen gewissen Reiz haben, oder?«

Van Bellen grinste und schüttete sich das Glas mit einem Zug in den Hals.

»Granaten-Nummer«, legte er nach. Und schüttelte sich. »Das ist zu gut. Goldbach, genannt die Granate.«

Er hatte Tränen in den Augen. »Excusez-moi.«

Er wischte sich die feuchten Augen. »Mon dieu«, seufzte er. »Der schiebt da drin die Nummer, und wir feuern die Begleitmusik. Das ist gut. Staatsgeheimnis! Rums, bums.«

»Sagt Ihnen das Wort Rurschatten etwas, Major?«

»Rurschatten?« Van Bellen schüttelte sich immer noch.

»Rurschatten. Absolument rien. Rien. Aber Schatten, lieber Herr Commissaire, Schatten hatten wir genug. Schatten im Sommer, im Winter und Schatten der Nazis, grausige Schatten, oui, die hatten wir. Und manche davon begleiten uns immer noch, wir werden sie nicht los, wie der na, der Schlemi«, sagte er mehr zu sich als zu Fett.

»Schlehmil, ›Peter Schlehmils wundersame Geschichte‹, ein Märchen von Adelbert von Chamisso. Er verkauft seinen Schatten an den Teufel und wird von den Menschen gemieden«, sagte Fett etwas nachdenklich zu dem erstaunten Major.

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