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Winnetou 4
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Winnetou 4

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Winnetou 4
Karl May

Karl May

WINNETOU 4

Erstes Kapitel. Vorzeichen

Es war in der Frühe eines schönen, warmen, hoffnungsreichen Frühlingstages. Ein lieber, lieber Sonnenstrahl schaute mir zum Fenster herein und sagte: »Grüß dich Gott!« Da kam das »Herzle« aus ihrem Erdgeschoß herauf und brachte mir die erste Morgenpost, die soeben vom Briefträger abgegeben worden war. Sie setzte sich mir gegenüber, wie alltäglich mehrere Male, so oft die Briefe kommen, und öffnete zunächst die Kuverts, um mir dann den Inhalt vorzulegen. Aber noch ehe sie damit beginnen kann, höre ich die Frage klingen: »Wer ist das Herzle? So heißt doch eigentlich niemand. Das muß ein Kosename sein.«

Ja, es ist allerdings ein Kosename. Er stammt aus dem ersten Band meiner »Erzgebirgischen Dorfgeschichten«. Da kommt ein »Musterbergle«, ein »Musterdörfle«, ein »Mustergärtle« und ein »Musterhäusle« vor, in dem das »Herzle« mit ihrer Mutter wohnt. Dieses »Herzle« ist der, wenn auch nicht körperliche, aber doch seelische Abglanz meiner Frau, und wenn ich das Porträt, indem ich an ihm arbeitete, so liebgewann, daß ich es »Herzle« nannte, so versteht es sich wohl ganz von selbst, daß dieser Name so nach und nach auch auf das Original mit überging. Doch nicht Für alle Fälle! Nämlich wenn Wolken am Himmel stehen, an denen ich aber immer nur selbst schuld bin, so sage ich »Klara«. Sind diese Wolken im Verschwinden, so sage ich »Klärchen«. Und sind sie weg, so sage ich »Herzle«. Meine, Frau aber sagt zu mir niemals anders als nur »Herzle«, weil sie eben niemals Wolken macht.

Sie hat, während die obere Etage meine Zimmer enthält, das ganze Parterre des Hauses inne. Da waltet sie als unermüdlicher, fleißiger Wirtschaftsengel, empfängt die immer zahlreicher werdenden Besuche meiner Leser und beantwortet alle die vielen Briefe, deren eigenhändige Erledigung mir selbst unmöglich ist. Vorgelesen aber werden sie mir alle, wobei sie derart zu verfahren pflegt, daß die besonders wichtigen oder besonders interessanten einstweilen beiseite gelegt und bis zum Schluß der Vorlesung aufgehoben werden.

So auch heute. Als alles Andere erledigt war, blieben zwei Sachen, die uns gleich beim ersten Blick als Besonderheiten erschienen und darum ausgeschieden worden waren, nämlich ein Brief aus Amerika und ein anthropologisches Fachblatt aus Oesterreich. Im letzteren war die Ueberschrift eines längeren Artikels durch Blaustrich hervorgehoben. Sie lautete: »Das Aussterben der indianischen Rasse in Amerika und ihr gewaltsames Verdrängen durch die Kaukasier und Chinesen.« Ich bat das Herzle, den Artikel sogleich vorzulegen, denn ich hatte zufälligerweise Zeit dazu. Sie tat es. Der Verfasser war ein wohlbekannter, hervorragender Universitätsprofessor. Er schrieb mit großer Herzenswärme, und Alles, was er über die »Roten« sagte, war nicht nur wohltuend, sondern auch gerecht. Ich hätte ihm dafür die Hand drücken mögen. Aber er beging einen Fehler, der ebenso allgemein wie unbegreiflich ist. Nämlich er verwechselte die Indianer der Vereinigten Staaten mit der ganzen Rasse, die über Nord- und Südamerika ausgebreitet liegt. Er verwechselte ferner den seelischen Schlaf der Rasse mit ihrem körperlichen Tod. Und er schien die Hauptaufgabe des Menschengeschlechts in der Entwicklung der völkerschaftlichen Sonderheit und Individualität zu suchen, nicht aber in der sich immer mehr ausbreitenden Erkenntnis, daß alle Stämme, Völker, Nationen und Rassen sich nach und nach zu vereinigen und zusammenzuschließen haben zur Bildung des einen, einzigen, großen, über alles Animalische hoch erhabenen Edelmenschen. Erst dann, wenn die Menschheit sich von innen heraus, also aus sich selbst heraus, zu dieser harmonischen, von Gott gewollten Persönlichkeit geboren hat, wird die Schöpfung des wirklichen »Menschen« vollendet sein und das Paradies sich uns, den bisher Sterblichen, von neuem öffnen.

Der Brief aus Amerika war höchstwahrscheinlich im »Fernen Westen« zur Post gegeben worden, aber wo, das war an dem ungeöffneten Kuvert nicht zu ersehen, denn beide Seiten desselben zeigten so viele Stempel und mit der Hand geschriebene Ortsnamen, daß das alles unleserlich geworden war. Nur die Adresse hatte, wohl infolge ihrer echt indianischen Kürze, ihre ursprüngliche Deutlichkeit behalten. Sie bestand nur aus drei Wörtern und lautete:

Wir öffneten den Umschlag und zogen ein Stück Papier heraus, welches sichtlich mit einem großen Messer, wahrscheinlich Bowieknife, beschnitten und dann zusammengefaltet worden war. Es enthielt folgende Zeilen in englischer Sprache, die ich natürlich verdeutsche; sie waren von einer schweren, ungeübten Hand mit Bleistift geschrieben:

»An Old Shatterhand.

Kommst Du nach dem Mount Winnetou? Ich komme ganz gewiß. Vielleicht sogar auch Avaht-Niah, der Hundertundzwanzigjährige. Siehst Du, daß ich schreiben kann? Und daß ich in der Sprache der Bleichgesichter schreibe?

Wagare-Tey.

Häuptling der Schoschonen.«

Als wir das gelesen hatten, schaute ich das HerzIe überrascht an, und sie mich ebenso. Nicht etwa das frappierte uns, daß wir einen Brief aus dem fernen Westen bekamen, und zwar von einem Indianer. Das geschieht sehr oft. Aber daß dieser Brief von dem Häuptling der Schlangenindianer kam, der mir noch nie geschrieben hatte, das verwunderte mich. Sein Name Wagare-Tey bedeutet soviel wie »Gelber Hirsch«. Ich bitte, über ihn in meinem Band »Weihnacht« nachzulesen. Damals, also vor nun über dreißig Jahren, war er noch jung und ziemlich unerfahren, aber ein guter, ehrlicher Mensch und ein treuer, zuverlässiger Freund meines Winnetou und mir. Sein Vater Avaht-Niah war über achtzig Jahre alt, ein Ehrenmann durch und durch, und hatte den großen Einfluß, den er besaß, stets nur zu unsern Gunsten in Anwendung gebracht. Wegen dieses seines hohen Alters und weil ich nie wieder von ihm hörte, hatte ich ihn dann für tot gehalten. Nun aber ersah ich aus dem Brief, daß er noch lebte und sich in guter körperlicher und geistiger Verfassung befand. Denn, wäre dieses letztere nicht der Fall gewesen, so hätte der Schreiber desselben unmöglich sagen können, daß der oberste Kriegsanführer der Schoschonen vielleicht auch mit nach dem Mount Winnetou kommen werde.

Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, wo dieser Berg lag. Ich wußte nur, daß die Apatschen sich mit den ihnen befreundeten anderen Stämmen dahin einigen wollten, irgendeinen nach seiner Lage, seinen Eigenschaften und seiner Wichtigkeit ausgezeichneten Berg nach dem Namen ihres geliebtesten Häuptlings zu nennen. Davon, daß dies geschehen sei, hatte ich nichts gehört, und noch viel weniger war mir mitgeteilt worden, auf welchen Berg die Wahl gefallen war. Doch soviel konnte ich mir denken, daß es nicht einer war, der außerhalb des Bereiches, in dem die Apatschen sich bewegen, liegt. Und weil die Schlangenindianer ihre Lager- und Weideplätze viele Tagesritte davon im Norden haben, so war es gewiß ein ganz außerordentlicher Fall, daß ein Mann, der über hundertundzwanzig Jahre zählte, es sich zutraute, diese Reise machen zu können, ohne von der Not, sondern nur von seinem jung gebliebenen Herz dazu getrieben zu sein.

Und warum wollte er mit seinem Sohn so weit nach Süden kommen? Das wußte ich nicht. Ich fand auch durch kein noch so scharfes und noch so kompliziertes Nachdenken eine einwandfreie Antwort auf diese Frage. Ich konnte nichts tun, als warten, ob sich auch von anderer Seite dergleichen Zuschriften einstellen würden. Den Brief zu beantworten, war unmöglich, weil ich den jetzigen Aufenthaltsort der beiden Häuptlinge nicht kannte. Auf alle Fälle aber war es kein unwichtiger Grund, der sie veranlaßte, das ihnen so fernliegende Gebiet der Apatschen aufzusuchen. Ich nahm an, daß dieser Grund sich nicht auf enge, rein persönliche Verhältnisse bezog, sondern eine allgemeinere Bedeutung hatte, und da meine Adresse da drüben bekannt ist und ich mit vielen, dort lebenden Personen, von denen ich in meinen Büchern erzählt habe und noch erzählen werde, im Briefwechsel stehe, so durfte ich wohl hoffen, bald weiteres zu erfahren.

Und wie gedacht, so geschehen! Kaum zwei Wochen später kam ein zweiter Brief, aber von einer Seite, von welcher ich am allerwenigsten ein Lebenszeichen oder gar eine Zuschrift erwartet hätte. Das Kuvert zeigte genau dieselbe Adresse, und der englisch geschriebene Inhalt lautete, in die deutsche Sprache übersetzt, wie folgt:

»Komm an den Mount Winnetou zum großen, letzten Kampf! Und gib mir endlich Deinen Skalp, den Du mir schon zwei Menschenalter lang schuldig bist! Dieses läßt Dir schreiben

To-kei-chun,

der Häuptling der Racurroh-Komantschen.«

Und nur eine Woche später erhielt ich, auch wieder unter derselben Adresse, folgende Zuschrift:

»Hast Du Mut, so komme herüber nach dem Mount Winnetou! Meine einzige Kugel, die ich noch habe, sehnt sich nach Dir!

Tangua,

ältester Häuptling der Kiowas.

Geschrieben von Pida, seinem Sohn, dem jetzigen Häuptling der Kiowas, dessen Seele die Deinige grüßt.«

Diese beiden Briefe waren im höchsten Grad interessant, und zwar nicht nur psychologisch. Fast schien es, als ob sie von To-kei-chun und Tangua an dem gleichen Ort und unter dem gleichen Einfluß diktiert worden seien. Beide haßten mich noch genauso unversöhnlich wie ehedem. Ganz eigenartig war es, daß der Sohn des letzteren mich trotz dieses Hasses grüßte, doch fiel es mir nicht schwer, diese Dankbarkeit zu verstehen. Aber wichtiger, viel wichtiger als das Alles war, daß auch die Feinde der Apatschen hinauf nach dem Mount Winnetou wollten. Es wurde da von einem »großen, letzten Kampf« gesprochen. Das klang außerordentlich gefährlich. Ich begann, besorgt zu werden, ernstlich besorgt! Oder gab es da drüben jemand, etwa einen alten, früheren Gegner, der sich jetzt, in meinen alten Tagen, den Spaß machen wollte, mich zu foppen und zu einer Einfaltsreise nach Amerika zu bewegen? Aber nach der Hälfte eines Monats erhielt ich folgenden Brief, der in Oklahoma aufgegeben war und für mich ein Dokument bildete, dem ich vollsten Glauben zu schenken hatte:

»Mein lieber, weißer Bruder!

Der große, gute Manitou in meinem Herzen gebietet mir, Dir zu sagen, daß ein Bund der alten Häuptlinge und ein Bund der jungen Häuptlinge nach dem Mount Winnetou berufen ist, um über die Bleichgesichter zu Gericht zu sitzen und über die Zukunft der roten Männer zu entscheiden. Du wirst kommen, und ich werde kommen. Meine Seele freut sich auf die Deinige. Ich zähle die Tage, Stunden und Minuten, bis ich Dich sehen werde!

Dein roter Bruder

Schahko Matto,

Häuptling der Osagen.«

Auch dieser Brief war englisch geschrieben, und zwar von seinem Sohn, dessen Handschrift ich kannte, weil ich im Briefwechsel mit ihm stehe. Zudem hatte Schahko Matto sein ledernes Totem beigelegt, was er immer tat, wenn es sich um etwas Wichtiges handelte. Ich konnte also die Vermutung einer Fopperei fallenlassen. Die Sache war Wirklichkeit, war Ernst. Der Gedanke, hinüberzugehen, begann, mich lebhaft zu beschäftigen. Freilich aber war es, um diesen Gedanken zum Entschluß zu bringen, nötig, vorher erst noch Näheres und Bestimmteres zu erfahren. Und das ließ nicht lange auf sich warten. Ich erhielt einen großbogigen, wie amtlich zusammengelegten Schreibebrief, welcher den Zweck hatte, eine Einladung zu sein, aber seines Tones wegen war er schon richtiger als eine »Zufertigung« zu bezeichnen. Ich gebe ihn in deutscher Uebersetzung, die Ueberschrift abgerechnet:

»Dear Sir,

In den vorjährigen Versammlungen der Häuptlinge wurde einmütig beschlossen, den hierzu geeignetsten Berg des Felsengebirges forthin mit dem Namen Winnetous, des berühmtesten Häuptlings aller Nationen, zu bezeichnen. Es wurde hierzu die höchstwahrscheinlich auch Ihnen wenigstens geographisch bekannte Kulmination gewählt, auf welche der geheimnisvolle Medizinmann Tatellah-Tatah (Thousand-years) sich zurückgezogen hat. Am Fuß resp. auf den Stufen dieses Berges sollen um die Mitte des heurigen September folgende Versammlungen abgehalten werden:

1. Das Campmeeting der alten Häuptlinge.

2. Das Campmeeting der jungen Häuptlinge.

3. Das Campmeeting der Häuptlingsfrauen.

4. Das Campmeeting aller außerdem berühmten roten Männer und roten Frauen.

5. Das Schlußmeeting unter der Leitung des hier unterzeichneten Komitees.

Es wird in Ihr Belieben gestellt, sich hierzu persönlich einzufinden und bei dem Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter zu melden, wobei Ihnen der Gegenstand aller dieser Beratungen bekanntgegeben wird. Zugleich werden Sie darauf aufmerksam gemacht, daß diese Meetings ebenso wie sämtliche Vorbereitungen zu ihnen vor den Angehörigen anderer Rassen vollständig geheimzuhalten sind. Wir verpflichten Sie hiermit zur strengsten Diskretion und fühlen uns berechtigt, anzunehmen, daß wir Ihre ehrenwörtliche Versicherung, zu schweigen, bereits bekommen haben. Nummernmarken für die bei unsern Zusammenkünften Ihnen anzuweisenden Platze haben Sie sich bei dem unterzeichneten Schriftführer persönlich abzuholen. Sämtliche Reden zum Beratungsgegenstand sind des besseren Verständnisses wegen in englischer Sprache zu halten.

Hochachtungsvoll

Das Komitee.

Gezeichnet:

Simon Bell (Tscho-lo-let),

Professor der Philosophie, als Vorsitzender.

Edward Summer (Ti-iskama),

Professor der Klassikal-Philologie,

als Stellvertreter des Vorsitzenden.

William Evening (Pe-widah),

Agent, als Schriftführer.

Antonius Paper (Okih-tschin-tscha),

Bankier, als Kassierer.

Old Surehand,

Partikulier, als Direktor.«

Ganz unten am Rand dieses Schriftstückes stand die von dem letzteren selbst geschriebene Privatbemerkung: »Ich hoffe, das Du auf alle Fälle kommst. Betrachte mein Haus als das Deinige, auch wenn wir nicht daheim sind. Ich bin als Direktor jetzt leider stets unterwegs. Es gibt für Dich eine ungeheuer freudige Überraschung. Du wirst entzückt sein über die Leistung unserer beiden Jungens.

Dein alter, treuer Old Surehand.«

Ich füge zu diesem langen Brief gleich den folgenden, kürzeren, der bei mir eintraf. Er lautete:

»Mein Bruder!

Ich weiß, daß Du eingeladen bist. Versäume ja nicht, Dich einzustellen! Ich freue mich unbeschreiblich auf Dich. Die beiden Boys werden Dir noch besonders schreiben. Dein

Apanatschka,

Häuptling der Kanean-Komantschen.«

Diese »beiden Boys« oder wie Old Surehand sich ausgedrückt hatte, »unsere beiden Jungens«, schrieben mir hierauf folgende Zeilen:

»Hochverehrter Herr!

Als Sie uns einst von unserem falschen, niedrigen Kunstweg so streng hinüber nach dem höheren, ja allernächsten wiesen, versprachen wir Ihnen, nur erst dann an die Oeffentlichkeit zu treten, wenn wir imstande seien, durch wirkliche und unanfechtbare Meisterwerke zu beweisen, daß die rote Rasse in keiner Weise weniger begabt ist, als irgendeine der anderen Rassen, auch in Beziehung auf die Kunst. Wir erbten unsere Begabung von unserer Großmutter, die, wie Sie wissen, eine Vollindianerin, ja, in rein äußerer Beziehung sogar ein Vollindianer war. Wir sind bereit, den von Ihnen verlangten Beweis jetzt nun zu führen. Sie versprachen uns, wenn diese Zeit gekommen sei, sich trotz der weiten Entfernung hier bei uns einzustellen, um unsere Werke zu prüfen. Wir sind der Meinung, daß wir diese Prüfung nicht zu fürchten haben, und erwarten Sie um die Mitte des September am Mount Winnetou, um Sie willkommen zu heißen. Wir haben erfahren, daß Sie, wie sich ganz von selbst verstand, eingeladen sind, an diesen verschwiegenen und hochwichtigen Beratungen teilzunehmen, und hegen die feste Ueberzeugung, daß Sie sich durch nichts abhalten lassen werden, zur rechten Zeit am angegebenen Ort zu erscheinen. In größter Hochachtung sind wir Ihre ganz ergebenen

Young Surehand.

Young Apanatschka.«

Diese Zuschrift hatte Hände und Füße. Sie machte mir Freude, obgleich sie von den beiden »Jungens« nur zu dem Zweck, mir einen tüchtigen Rippenstoß zu versetzen, in dieser Weise verfaßt worden war. Wer meine beiden Reiseerzählungen »Winnetou« und »Old Surehand« gelesen hat, kann sich sehr leicht denken, wer diese beiden Boys sind. Wer sie noch nicht gelesen hat, den muß ich bitten, dies nachzuholen, um den vorliegenden Band, der zu gleicher Zeit auch der vierte Band von »Old Surehand« und »Satan und Ischariot« ist, verstehen zu können.

Wie man sich erinnern wird, hatte sich herausgestellt, daß Old Surehand und Apanatschka Brüder waren, die man ihrer Mutter, einer körperlich, seelisch und geistig hochbegabten Indianerin, unterschlagen hatte. Um diesen Raub aufzuklären, hatte sie, als Indianer verkleidet, unter dem Namen Kolma Putschi viele Jahre lang die Städte des Ostens, die Savannen und die Urwälder durchforscht, ohne dieses Ziel zu erreichen, bis es Winnetou und mir gelang, die von ihr gesuchten Spuren und infolgedessen dann auch die beiden Söhne zu entdecken, den einen als hochberühmten Westmann und den andern als nicht weniger berühmten Komantschenhäuptling, zwei außerordentlich wertvolle Menschen, deren Freundschaft mir treugeblieben ist, trotz aller Wandlungen, welche sowohl ihr als auch mein Leben seit damals durchzumachen hatte.

Beide heirateten später ein schönes, intelligentes Schwesternpaar aus dem besonderen Stamm Winnetous, also der Mescaleroapatschen, und jedem von ihnen war sodann die Freude beschert, einen Sohn zu besitzen, auf den alle Begabungen Kolma Putschis in noch vermehrtem Grad vererbt worden waren. Sie hatten die Mittel, diese Gaben ausbilden zu lassen. Young Surehand und Young Apanatschka wurden nach dem Osten gebracht, um Künstler zu werden, der erstere Architekt und Bildhauer und der letztere Maler und Bildhauer. Die auf sie gesetzten Hoffnungen erfüllten sich. Sie gingen später auf einige Jahre nach Paris, um dort die berühmtesten Ateliers zu studieren, dann nach Italien und endlich gar nach Ägypten, wo sie sich die Aufgabe stellten, sich dort mit den Gesetzen der einstigen Gigantenkunst vertraut zu machen. Auf dem Rückweg kamen sie über Deutschland, um mich aufzusuchen. Sie waren mir sehr sympathisch. Ich hatte meine Freude an ihnen, und zwar nicht allein deshalb, weil sie meinen unvergleichlichen Winnetou fast als einen Halbgott verehrten. Auch ihr künstlerisches Wollen und Können war hervorragend und schien noch wachsen zu können. Leider aber war es in echt amerikanischer Weise auf den Abweg des Busineß hinübergeleitet worden, und so geschah es, daß sie von mir anstatt eines Lobes eine sehr ernste Warnung zu hören bekamen, die sie mir, wie ich aus ihrem Brief ersah, bis heute noch nicht vergessen und vergeben hatten. Dies war wohl auch der Grund, daß ich weder von ihren Vätern noch von ihnen selbst über ihre Zukunftspläne und ihr jetziges künstlerisches Schaffen unterrichtet worden war. Ganz besonders schweigsam gegen mich aber verhielt man sich über die Gründe, welche die beiden jungen Leute veranlaßt hatten, grad die Kolossaldarstellungen der alten Ägypter zu studieren. Das hatte Geheimnis bleiben sollen. jetzt aber begann ich zu ahnen, daß die »Meisterwerke«, zu deren Begutachtung ich eingeladen war, hierzu in Beziehung standen.

Ich kann ganz und gar nicht behaupten, daß die Briefe, welche in so schneller Folge bei mir anlangten, mir Freude bereiteten. Warum sagte man mir nicht gleich offen und ehrlich, um was es sich eigentlich handelte? Wozu diese heimliche Campmeetingspielerei? Große und fruchtbare Gedanken werden in heiliger, unberührter Einsamkeit geboren, nicht aber in langen Reden, die doch nur auf kurze Erfolge berechnet sein können! Warum diese Trennung der alten Häuptlinge von den jungen? Wozu noch extra die roten Frauen? Wer waren die »außerdem berühmten roten Männer und roten Frauen«? Etwa die Herren dieses mir so sonderbar, ja sogar verdächtig vorkommenden Komitees? Sie wollten das Schlußmeeting leiten, also die Beschlüsse sämtlicher Versammlungen beeinflussen und korrigieren! Die Namen der beiden Professoren, geborener Indianer, kannte ich. Sie hatten einen guten Klang. Aber den Ton, in dem sie an mich schrieben, hätte sich kein Sam Hawkens, kein Dick Hammerdull und kein Pitt Holbers gefallen lassen. Der Schriftführer und der Kassierer waren mir vollständig fremd. Und Old Surehand als Direktor? Was sollte das heißen? Wozu hier einen besonderen »Direktor«? Etwa um die moralische Verantwortung oder gar die pekuniäre Garantie auf ihn zu werfen? Old Surehand war ein Westmann allerersten Ranges gewesen; aber ob er auch imstande war, es mit der geschäftlichen Smartneß eines geriebenen, amerikanischen Pfiffikus aufzunehmen, das wußte ich leider nicht. Die Sache kam mir um so bedenklicher vor, je länger und intensiver sie mich beschäftigte. Auch meiner Frau gefiel sie nicht. Und weil ich sie hierbei mit erwähne, so sei zugleich gesagt, daß auch sie ein Schreiben bekam, nämlich folgendes:

»Meine liebe, weiße Schwester!

Nun werden meine Augen Dich endlich, endlich sehen; meine Seele sah Dich schon längst. Der Gebieter Deines Hauses und Deiner Gedanken wird nach dem Mount Winnetou kommen, um mit uns über Großes und Schönes zu beraten. Ich weiß, er wird diese Reise nicht tun, ohne daß Du ihn begleitest. Ich bitte Dich, ihm zu sagen, daß ich das beste unserer Zelte für Dich und ihn bereithalten werde und daß ich Dein Kommen vorempfinde als einen lieben, warmen Strahl der Sonne, die meinem Leben unbekannt gewesen ist bis nun, da es zum Scheiden gehen will. So komm also, und bring mir Deine Menschenliebe, Deine Herzensgüte und – – – Deinen Glauben an den großen, gerechten Manitou, den ich gern ebenso deutlich fühlen möchte, wie Du, meine Schwester, ihn fühlst.

Kolma Putschi.«

Ich muß erwähnen, daß das Herzle mit Kolma Putschi in Briefwechsel stand und heut noch steht, und daß diese Zuschrift nicht ohne Einfluß auf unsere Entschließungen war. Wenn ich wirklich ging, so verstand es sich nun ganz von selbst, daß ich diese Reise nicht allein unternahm. Es liefen noch mehrere Briefe ein. Ich wähle unter ihnen nur noch einen aus, weil er mir als der wichtigste von allen erscheint, die ich über diesen Gegenstand bekam. Er war von einer geradezu kalligraphisch geübten Hand auf sehr gutes Papier geschrieben und in das große Totem dessen, der ihn diktiert hatte, gehüllt. Dieses Totem bestand aus papierdünnem Antilopenleder, welches durch eine Behandlung, die nur die Indsmen kennen, die Weiße des Schnees und die Glätte des Porzellans erhalten hatte. Die einpunktierten Charaktere waren mit Zinnober und einer andern, mir unbekannten Farbe rot und blau gefärbt. Der Inhalt lautete:

»Mein weißer, älterer Bruder!

Ich fragte Gott nach Dir. Ich wollte wissen, ob Du noch unter Denen weilst, von denen man sagt, daß sie leben. Die Antwort kam durch die Benachrichtigung, daß man Dich eingeladen habe, an den Septemberberatungen hier in meinen Bergen, deren heilige Stille und Ruhe für immer vernichtet werden soll, teilzunehmen. Sei um aller Derer willen, die Du einst hier liebtest und vielleicht noch heute liebst, gebeten, diesem Ruf Folge zu leisten. Eile herbei, wo Du auch seist, und rette Deinen Winnetou! Man will ihn falsch verstehen, und man will auch mich nicht begreifen. Du hast weder mich, noch habe ich Dich jemals gesehen. Wie ich nie einen Laut Deiner Stimme vernahm, so hörtest auch Du niemals den Klang der meinigen. Heut aber schreit meine Angst weit über das Meer hinüber zu Dir, so laut, so laut, daß Du es hören wirst und unbedingt kommen mußt.

Niemand weiß, daß ich Dich rufe. Nur der dies schreibt, mußte es erfahren. Er ist meine Hand; er schweigt. Wende Dich, bevor Du hier erscheinst, nach dem Nugget-tsil. Die mittelste der fünf großen Blaufichten wird zu Dir sprechen und Dir sagen, was ich diesem Papier nicht anvertrauen kann. Ihre Stimme sei Dir wie die Stimme Manitous, des großen, ewigen und alliebenden Geistes! Ich bitte Dich noch einmal: Komm, o komm, und rette Deinen Winnetou. Man will ihn Dir erwürgen und erschlagen!

Tatellah-Satah,

der Bewahrer der großen Medizin.«

Was den in diesem Brief erwähnten Nugget-tsil betrifft, so versteht man unter Nuggets die mehr oder weniger großen, gediegenen Goldkörner, welche von den Goldsuchern entweder einzeln, zuweilen aber auch in ganzen, reichhaltigen Nestern gefunden werden. Tsil bedeutet in der Apatschensprache soviel wie Berg. Nugget-tsil heißt also soviel wie »Goldkörnerberg«. Auf diesem Berg sind bekanntlich der Vater und die Schwester meines Winnetou von einem gewissen Sander ermordet worden. Später, kurz vor dem Tod Winnetous, den er im Innern des Hancockberges fand, teilte er mir mit, daß er sein Testament für mich auf dem Nugget-tsil vergraben habe, und zwar zu Füßen seines dort bestatteten Vaters; ich werde da viel Gold zu sehen bekommen, sehr viel Gold. Als ich hierauf nach dem Nugget-tsil ritt, um das Testament zu holen, wurde ich dabei von diesem Sander überrascht und von einer Schar von Kiowa-Indianern, bei denen er sich befand, gefangengenommen. Der Anführer dieser Schar war der damals noch jugendliche Pida, der mich jetzt, nach über dreißig Jahren, in dem Brief seines Vaters, des ältesten Häuptlings Tangua, aus seiner »Seele« grüßte. Sander stahl das Testament und entfloh mit ihm, um das Gold zu holen, dessen Fundstelle in der letztwilligen Verfügung Winnetous beschrieben war. Ich machte mich von den Kiowas frei und eilte ihm nach. Ich kam an Ort und Stelle an, als er den Schatz soeben gefunden hatte. Das Versteck lag auf einem hohen Felsen am Ufer des einsamen Bergsees, den man »Das dunkle Wasser« zu nennen pflegt. Als er mich sah, schoß er auf mich. Was dann geschah, das ist im letzten Kapitel von »Winnetou«, Band III, zu lesen.

Und in Beziehung auf Tatellah-Satah, den »Bewahrer der großen Medizin«, mußte ich gestehen, daß es stets einer meiner Herzenswünsche gewesen war, diesen geheimnisvollsten aller roten Männer einmal zu sehen und zu sprechen; nie aber hatte eine Gelegenheit bereit gestanden, mir dieses wirklich herzliche Verlangen zu erfüllen. Tatellah-Satah ist ein Name, welcher der Taossprache angehört und wörtlich übersetzt »Tausend Sonnen« heißt, in seiner Anwendung aber »Tausend Jahre«, bedeutet. Der Träger desselben hatte also ein so ungewöhnliches, ja außerordentliches Alter, daß man die Höhe des letzteren unmöglich bestimmen konnte. Ganz ebensowenig wußte man, wo er geboren worden war. Er gehörte keinem einzelnen Stamm an. Er wurde von allen roten Völkern und Nationen gleich hoch verehrt. Was Hunderte und Aberhunderte von einzelnen Medizinmännern im Laufe der Zeit an Geistesgaben und Kenntnissen besessen hatten, das sprach man ihm, dem Höchstgestiegenen, in voller Summe zu. Um zu begreifen, was das heißt, muß man wissen, daß es grundfalsch ist, sich einen indianischen »Medizinmann« als einen Kurpfuscher, Regenmacher und Gaukler vorzustellen. Das Wort Medizin hat in dieser Zusammensetzung nicht das Allergeringste mit der Bedeutung zu tun, die es bei uns besitzt. Es ist für die Indianer ein fremder Ausdruck, dessen Sinn sich bei ihnen derart verändert hat, daß wir uns dabei grad das Gegenteil von dem zu denken haben, was wir uns bisher dabei dachten.

Als die Roten die Weißen kennenlernten, sahen, hörten und erfuhren sie gar manches, was ihnen gewaltig imponierte. Am meisten aber erstaunten sie über die Wirkung unserer Arzneimittel, unserer Medizinen. Die Sicherheit und Nachhaltigkeit dieser Wirkung war ihnen schier unbegreiflich. Sie erkannten die unendliche Größe der göttlichen Liebe, welche sich in diesem Geschenk des Himmels an das Geschlecht der Menschen offenbarte. Sie hörten das Wort Medizin zum erstenmal, und sie verbanden mit ihm den Begriff des Wunders, des Segens, der göttlichen Liebe und des für die Menschen unbegreiflichen Geheimwirkens in heiligster Verborgenheit. Kurz, der Ausdruck »Medizin« wurde für sie gleichbedeutend mit dem Wort Mysterium. Sie nahmen die Benennung »Medizin« in alle ihre Sprachen und Dialekte auf. Alles, was mit ihrer Religion, ihrem Glauben und ihrem Forschen nach ewigen Dingen in Beziehung stand, wurde als »Medizin« bezeichnet. Ebenso auch alle diejenigen Tatsachen europäischer Wissenschaft und europäischer Zivilisation, die sie nicht begreifen konnten, weil sie weder die Anfänge noch die Entwickelungen derselben kannten. Sie waren aufrichtig und ehrlich genug, unumwunden zuzugeben, daß die Vorzüge der Bleichgesichter zahlreicher und größer seien als diejenigen der roten Männer. Sie trachteten, den ersteren nachzueifern. Sie nahmen von ihnen vieles Gute, leider aber auch vieles Böse an. Sie waren so kindlich und so naiv, so manches, was bei den Weißen nur auf dem Fuß des Gewöhnlichen oder gar des Niedrigen stand, für ungewöhnlich, für hoch, für heilig zu halten und sich für immer anzueignen, ohne vorher zu prüfen und ohne zu fragen, welche Folgen das bringen werde. So nahmen sie auch das Wort »Medizin« bei sich auf und bezeichneten damit ihr Allerhöchstes und Allerheiligstes, ohne zu wissen, daß sie gerad dieses Höchste und Heiligste damit beleidigten und entwürdigten. Denn zu der Zeit, als sie dies taten, hatte der Ausdruck Medizin nicht etwa den guten, ehrenden Klang wie heut. Er besaß den starken Beigeschmack von Hokuspokus, Quacksalberei und Windbeutelei, und als die Indianer in ihrer Unbefangenheit die Träger ihrer allerdings noch bei den Anfängen stehenden Theologie und Wissenschaft als »Medizinmänner« bezeichneten, ahnten sie nicht, daß sie damit den bisherigen guten Ruf dieser Leute für immer vernichteten.

Wie hoch diese letzteren standen, ehe sie Gelegenheit hatten, die »Zivilisation« der Weißen kennenzulernen, ersehen wir heutigen Tages erst nach und nach, indem wir unsere Forschung tiefer und tiefer in die Vergangenheit der amerikanischen Rasse hinuntersteigen lassen. Diese Vergangenheit zeigt uns zahlreiche Punkte, auf denen die Völker Amerikas auf gleicher Stufe mit den Weißen standen. Alles, was bei jenen Völkern und in jenen Reichen Gutes, Großes und Edles geschah, entsprang jenen geistigen Quellen und den Köpfen jener Männer, welche von ihren Nachkommen später als »Medizinen« und »Medizinmänner« bezeichnet wurden. Hiermit sind Theologen, Politiker, Strategen, Astronomen, Tempelbaumeister, Maler, Bildhauer, Quipu-Entzifferer, Professoren, Aerzte, kurz, alle diejenigen Personen und Stände zusammengefaßt, durch welche die intellektuellen und ethischen Potenzen jener Zeiten sich betätigten. Es gab unter diesen später als »Medizinmänner« bezeichneten Koryphäen genau ebenso berühmte und hochberühmte Namen wie in der Entwicklungsgeschichte der asiatischen und europäischen Rassen, und sie sind nicht für immer, sondern nur für einstweilen verschollen, weil unsere Kenntnis und unser Verständnis noch nicht soweit vorgeschritten sind, jenes geschichtliche Dunkel zu erleuchten. Wenn die Medizinmänner der Gegenwart nicht mehr die Medizinmänner der Vergangenheit sind, so trägt der Indianer gewiß nicht allein die Schuld daran. Die geistige Elite der Inkas, der Tolteken und Azteken, also die »Medizinpflegerschaft« der Peruaner und Mexikaner, stand gewiß nicht auf einem sehr viel niedrigeren Niveau als die Abenteurer eines Cortez und Pizarro, und wenn diese damalige Höhe sich infolge der spanischen Invasion zur heutigen Tiefe neigte, so daß wir jetzt die Indianer einfach und kurzerhand als »Wilde« bezeichnen, so brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, daß auch ihre Medizinmänner mit herabgekommen sind. Sie waren gezwungen, diesen Niedergang mitzumachen.

Trotzdem aber sind sie noch lange nicht das, wofür wir sie halten. Ich habe noch keinen Weißen kennengelernt, der von irgendeinem Medizinmann in seine Geheimnisse und Anschauungen eingeweiht worden ist oder der wenigstens die Symbolik der betreffenden Gebräuche derart begreift, wie sie begriffen werden muß, ehe man behaupten kann, über sie sprechen oder gar schreiben zu dürfen. Ein wirklicher Medizinmann, der es ernst mit seinem Amt und seiner Würde nimmt, gibt sich nie zu Schaustellungen her. Die sogenannten Medizinmänner der von Zeit zu Zeit hier bei uns herumvagabundierenden Völkerwiesenindianer sind alles andere, aber nur keine wirklichen Medizinmänner, und an ihren Verrenkungen, Sprüngen und sonstigen Possen würde ein solch letzterer gewiß ebensowenig teilnehmen, wie zum Beispiel bei uns ein ernstgesinnter Gottes- oder Weltgelehrter auf den Gedanken kommen könnte, auf einem Jahrmarkt oder Vogelschießen für Geld und öffentlich einen Schuhplattler oder einen Purzelbäumler zu tanzen.

Ich bitte meine Leser, diese Ausführungen ja nicht für langweilig oder gar für überflüssig zu halten. Ich mußte das sagen, denn es gilt, von nun an gerecht zu sein und von den bisherigen Fehlern, die wir in der Psychologie der roten Rasse begingen, endlich einmal abzulassen. Wenn wir in Tatellah-Satah einen jener alten, hochstehenden Medizinmänner der Vergangenheit kennenlernen, die wie Säulen im Bild eines Tagesscheidens stehen, so war ich als gewissenhafter und wahrheitstreuer Zeichner verpflichtet, den forschenden Blick auf die Betrachtung dieses Gemäldes vorzubereiten.

Der geheimnisvolle Mann, von dem ich mit so großer Hochachtung spreche, war nicht etwa mein Freund gewesen, o nein! Aber ja auch nicht mein Feind! Er war überhaupt keines Menschen Feind. Sein Denken und Fühlen war absolut gerecht und absolut human, sein Handeln ebenso. Aber wie er zu mir stand, das war noch schlimmer und noch niederdrückender, als wenn er mein Feind gewesen wäre. Ich war nämlich für ihn gar nicht vorhanden. Er übersah mich vollständig. Warum? Weil er mich seit dem Tag, an welchem der Vater und die Schwester meines Winnetou ermordet worden waren, als ihren eigentlichen Mörder betrachtete. Sie war aus eigenem Wunsch und auf Wunsch ihres ganzen Stammes zu meiner Frau bestimmt gewesen, ich aber hatte sie abgewiesen. Sie hieß Nscho-tschi, und sie trug diesen Namen mit Recht. Nscho-tschi heißt auf deutsch »Schöner Tag«, und als sie starb, ging eine helltagende, schöne Hoffnung der Apatschen mit ihr aus dem Leben, besonders eine liebe, große Hoffnung des alten Medizinmannes Tatellah-Satah. Sie war für ihn die schönste und beste Tochter sämtlicher Apatschenstämme, und er behauptete, daß sie damals nicht erschossen worden wäre, wenn ich mich nicht abweisend, sondern entgegenkommend verhalten hätte. Ich gab dies zwar unumwunden zu, fühlte mich aber von jedem Selbstvorwurf so vollständig frei, als ob die liebe, aufopferungsvolle Freundin heut noch lebte. Sie hatte nach dem Osten gewollt, um sich eine höhere Bildung anzueignen, und war unterwegs mit Intschu-tschuna, ihrem Vater, erschossen worden, um beraubt zu werden. Nie war es Winnetou, ihrem Bruder, eingefallen, deshalb, weil sie diese Reise meinetwegen unternommen hatte, auch nur den Schatten einer Anklage gegen mich zu richten; Tatellah-Satah aber hatte mich dafür aus seinem Buch, aus seinem Leben und aus allen seinen Berechnungen gestrichen, und zwar für immer und ewig, wie es schien. Er wohnte seit Menschengedenken in größter Einsamkeit hoch oben im Gebirge. Nur Häuptlinge durften sich ihm nahen, und auch das so selten wie möglich. Es mußte sich um Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit handeln, ehe jemand die Erlaubnis bekam, zu ihm emporzusteigen. Nur Winnetou, sein ganz besonderer Liebling, durfte kommen, so oft es ihm beliebte. Ihm wurde jeder Wunsch erfüllt, dessen Erfüllung überhaupt möglich war, aber nur der eine nicht, den er oft vergebens äußerte, nämlich der, mich einmal mitbringen zu dürfen.

Und nun jetzt, nach so langer Zeit, auf einmal diese dringende Einladung! Das konnte nur sehr ernste und sehr gewichtige Gründe haben, Gründe, die keine gewöhnlichen und alltäglichen Ziele verfolgten, sondern sich auf Besseres und Wertvolleres bezogen, als ich jetzt, da ich seinen Brief soeben erst erhalten hatte, schon zu durchschauen vermochte. Aber es stand nun fest, daß ich hinüberging und daß ich zur rechten Zeit auf dem Nugget-tsil eintreffen Würde, um die mir bezeichnete Blaufichte zu mir sprechen zu lassen. Und ebenso bestimmt war es, daß das Herzle mich begleitete.

Als sie das hörte, jubelte sie nicht etwa auf, sondern sie zeigte mir ganz im Gegenteil ihr ernsthaftestes Gesicht. Sie dachte an die Anstrengungen einer solchen Reise und an die Gefahren eines solchen Rittes durch den Westen. Denn daß die von nah und fern herbeieilenden vielen Häuptlinge sich nicht der Eisenbahn bedienen würden, verstand sich ganz von selbst; das war überhaupt schon durch die Heimlichkeit, mit der Alles zu geschehen hatte, ausgeschlossen. Aber sie dachte, indem sie von diesen Anstrengungen und Gefahren sprach, nicht an sich selbst, sondern nur an mich. Es gelang mir jedoch sehr leicht, sie zu überzeugen, daß man jetzt zwar noch von einem »Westen«, aber schon langst nicht mehr von einem »Wilden Westen« sprechen könne und daß ein solcher Ritt für mich nur eine Erholung, nicht aber eine Beschwerde sei. Was sie selbst betrifft, so war sie gesund, mutig, geschickt, ausdauernd und frugal genug, um mich begleiten zu können. Sie beherrschte die englische Sprache, und sie hatte durch das fleißige Zusammenstudieren und Zusammenarbeiten mit mir sich so ganz nebenbei auch eine Menge indianischer Wörter und Redensarten angeeignet, die ihr zustatten kommen mußten. Auch was das Reiten betrifft, so war ihr unser letzter längerer Aufenthalt im Orient eine gute Lehrzeit gewesen. Sie hatte sich da ganz geschickt benommen und nicht nur Pferde, sondern auch Kamele gut zu behandeln gelernt.

Und wie stets und überall, so zeigte sie sich auch hier als klug berechnende, wirtschaftlich vorausschauende Hausfrau. Ich hatte von einigen amerikanischen Verlagsbuchhändlern Offerten erhalten, die sich auf die Herausgabe meiner Werke in englischer Sprache für da drüben bezogen. Diese Herren sollte ich, so meinte das Herzle, bei dieser Gelegenheit persönlich aufsuchen, um, falls sie auf meine Bedingungen eingingen, mit ihnen bequemer abschließen zu können, als es aus der Ferne und brieflich möglich war. Um die Deckelbilder vorzeigen zu können, machte sie sich von den Originalen derselben photographische Kopien im Großformat, die ihr sehr gut gelangen, denn das Herzle versteht das Photographieren viel, viel besser als ich. Am besten gelang ihr der Sascha Schneidersche zum Himmel aufstrebende Winnetou. Von demselben Künstler besitze ich auch zwei prächtige, ergreifende Porträts von Abu Kital, dem Gewaltmenschen, und Marah Durimeh, der Menschheitsseele. Auch diese beiden, die für die nächsten Bände bestimmt sind, wurden photographiert, um mitgenommen zu werden, und zwar nicht auf Karton, sondern unaufgezogen, also so dünn, daß sie im Koffer fast gar keinen Raum einnahmen und zusammengerollt oder zusammengebrochen in die Rocktasche gesteckt werden konnten.

Ich bitte, auch diese rein geschäftlichen Bemerkungen nicht für langweilig oder gar für überflüssig zu halten. Man wird im Verlauf der Erzählung sehen, daß einige dieser Bilder eine nicht gewöhnliche Wichtigkeit in der Kette der Ereignisse erhielten. Wer mich kennt, der weiß, daß es für mich keinen »Zufall« gibt. Ich führe Alles, was geschieht, auf einen höheren Willen zurück, mag man diesen Willen als Gott, als Schicksal, als Fügung oder sonst irgendwie bezeichnen. Diese Fügung waltete auch hier, dessen bin ich überzeugt. Die Buchhändlerofferten verliefen und zerronnen später zu nichts; ich fand gar keine Zeit, diese Herren aufzusuchen. Ihr Zweck war nur, den Anstoß zu dem Gedanken zu bilden, die Buchdeckel zu kopieren und diese Abzüge mitzunehmen.

Noch klarer und noch deutlicher trat dieser Schicksalszweck bei einer anderen Verlagsofferte hervor, die mir aber nicht schriftlich, sondern mündlich gemacht wurde, und zwar auffälligerweise genau zu derselben Zeit und auch von einem Amerikaner. Besonders beachtenswert sind hierbei die Nebenumstände, durch welche der Gedanke, es nur mit einem Zufall zu tun zu haben, vollständig ausgeschlossen wurde.

Ich habe hier in Dresden einen Freund, der ein viel in Anspruch genommener Arzt und Psychiater ist. Besonders auf dem letzteren Gebiet hat er ganz bedeutende Erfolge errungen. Er wird da als Autorität bezeichnet und von Fremden nicht weniger als von Einheimischen zu Rate gezogen. Dresden ist bekanntlich eine vielbesuchte Fremdenstadt.

Bei einem Besuch, den dieser Freund uns machte, nicht etwa Sonntags, wo er frei war, sondern mitten in der Woche, und zwar abends spät, also zu einer Zeit, in der wir noch niemals von ihm aufgesucht worden waren, kam die Rede auf unsern Entschluß, mit dem Norddeutschen Lloyd nach New York zu fahren.

»Etwa um Nuggets zu holen?« fragte er so schnell, als ob er nur auf diese unsere Mitteilung gewartet hätte.

»Wie kommen Sie grad auf Nuggets?« antwortete ich.

»Weil ich heut eines gesehen habe. Es war so groß wie ein Taubenei und wurde, als Berlocke gefaßt, an der Uhrkette getragen«, antwortete er.

»Von wem?«

»Von einem Amerikaner, der mir übrigens noch viel interessanter war als dieses sein Klümpchen Gold. Er sagte mir, er sei nur für zwei Tage hier, und erbat sich mein Gutachten in einer Angelegenheit, die für jeden Psychologen, also auch für Sie, mein lieber Freund, ein ,Fall‘ allerersten Ranges ist.«

»Wieso?«