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Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке
Mit der selbstverständlichen Gelassenheit einer Dame von Welt blieb die „böhmische Liesel“ ruhig sitzen und streckte nur, geziert lächelnd, die Hand aus, die der Herr kaiserliche Leibarzt, blutrot vor Verlegenheit, zwar ergriff und drückte, aber zu küssen vermied.
Den Mangel an Galanterie liebenswürdig übersehend, eröffnete die „böhmische Liesel“ die Konversation mit ein paar einleitenden Worten über das schöne Wetter, wobei sie ungeniert ihre Suppe zu Ende schlürfte, und versicherte sodann Seine Exzellenz ihrer hohen Befriedigung, einen so lieben alten Freund bei sich begrüßen zu dürfen.
„Ein Feschak bist d’ und bleibst d’ halt doch, Pinguin“, änderte sie, unvermittelt ins Vertrauliche übergehend, die zeremonielle Tonart, ließ die hochdeutsche Ausdrucksweise fallen und bediente sich des Prager Jargons, „was man so sagt: ein sakramensky chlap[6].“ —
Erinnerungen schienen sie zu überfallen, und einen Moment lang schwieg sie, die Augen wie unter sehnsuchtsvollen Erinnerungen geschlossen; der Herr kaiserliche Leibarzt wartete gespannt, was sie wohl sagen werde.
Dann girrte sie plötzlich heiser mit gespitzten Lippen.
„Brussi, Brussi!“ – und breitete die Arme aus.
Von Grauen geschüttelt, prallte der Herr kaiserliche Leibarzt zurück und starrte sie entsetzt an.
Sie achtete nicht darauf, stürzte zu einem Wandbrett, riss ein Bild – ein altes, verblichener Daguerreotyp – , das dort inmitten vieler anderer stand, an sich und bedeckte es mit glühenden Küssen.
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt stockte fast der Atem: Er erkannte sein eigenes Konterfei, das er ihr vor wohl vierzig Jahren geschenkt hatte.
Dann stellte sie es behutsam, voll Zärtlichkeit wieder zurück, hob verschämt mit spitzen Fingern den zerlumpten Rock bis zum Knie und tanzte, den Kopf mit dem wirr zerzausten Haar wie in wollüstigen Träumen wiegend, eine gespenstische Gavotte[7].
Der Herr kaiserliche Leibarzt stand wie gelähmt; das Zimmer drehte sich vor seinen Augen; „Danse macabre“[8], sagte etwas in ihm, und die beiden Worte tauchten in kraus geschnörkelten Buchstaben als Unterschrift zu einem alten Kupferstich, den er einst bei einem Antiquar gesehen, wie eine Vision vor ihm auf.
Er konnte den Blick nicht von den skelettartigen dürren Beinen der Greisin wenden, die in schlottrigen, grünlich schimmernden schwarzen Strümpfen staken – er wollte im Übermaß des Grausens zur Tür fliehen, aber der Entschluss entfiel ihm, noch ehe er gefasst war. Die Vergangenheit verband sich mit der Gegenwart in ihm zu einem inneren und äußeren Bannbild schreckhafter Wirklichkeit, dem zu entrinnen er sich ohnmächtig fühlte; er wusste nicht mehr: War er selbst noch jung und hatte sich die, die da vor ihm tanzte, urplötzlich aus einem soeben noch schönen Mädchen in ein leichenhaftes Scheusal mit zahnlosem Mund und entzündeten, runzligen Lidern verwandelt – oder träumte er nur, und seine eigene Jugend und die ihrige hatten in Wahrheit nie existiert?
Diese platten Klumpen in den grauschwarzen, schimmligen Überresten von niedergetretenen Stiefeln, die da vor ihm im Takte sich drehten und hüpften – konnten sie wirklich dieselben zierlichen Füsschen mit den zarten Knöcheln sein, die ihn einst so verliebt gemacht und entzückt hatten?
„Sie kann sie jahrelang nicht ausgezogen haben, das Leder würde in Stücke zerfallen sein. Sie schläft in ihnen“, kam ein halber Gedanke flüsternd an seinem Bewusstsein vorbei, wuchtig verdrängt von einem andern: „Es ist furchtbar, der Mensch verwest in dem unsichtbaren Grabe der Zeit, noch während er lebt.“
„Weißt du noch, Thaddäus!“ flötete die „böhmische Liesel“ heiser und krächzte eine Melodie:
„Du, du, du – bist so kaltund machst allen so heiß,zauberst Flammen hervor aus dem Eis.“Dann hielt sie, wie mit einem Ruck zu sich gekommen, inne, warf sich in einen Sessel, krümmte sich, überwältigt von jäh ausbrechenden, namenlosem Schmerz, zusammen und verbarg weinend ihr Gesicht in den Händen. – Der kaiserliche Leibarzt erwachte aus seiner Betäubung, raffte sich auf, gewann einen Augenblick Gewalt über sich und verlor sie gleich darauf wieder. – Er erinnerte sich mit einem Mal deutlich seiner unruhig durchschlummerten Nacht und dass er denselben armen, verwitterten Körper noch vor wenigen Stunden als blühendes junges Weib liebestrunken im Traum in den Armen gehalten hatte, der jetzt, mit Lumpen bedeckt und von Schluchzkrämpfen und Leid geschüttelt, vor ihm lag.
Er öffnete ein paarmal den Mund und schloss ihn wortlos wieder – wusste nicht, was er sagen sollte.
„Liesel“, brachte er endlich mühsam hervor, „Liesel, gehts dir so schlecht?“ – Er ließ seinen Blick durch die Stube schweifen und blieb mit den Augen an dem hölzernen Suppennapf hängen, hm ja. – „Liesel, kann ich dir irgendwie helfen?“ Früher hat sie aus silbernen Tellern gegessen – schaudernd sah er zu der schmutzstarrenden Lagerstätte hinüber – hm, und – und auf Daunen geschlafen. —
Der Alte schüttelte heftig den Kopf, ohne das Gesicht zu heben.
Der Herr kaiserliche Leibarzt hörte, wie sie ihr Wimmern hinter den Händen verbiss.
Seine Photographie auf dem Wandbrett schaute ihm geradeaus ins Gesicht – der Widerschein eines blinden Spiegels am Fenster warf einen schrägen Lichtstrahl auf die ganze Reihe – lauter schlanke, junge Kavaliere, die er alle gekannt hatte, manche jetzt noch kannte als steif und weiß gewordene Fürsten und Barone – er selbst mit lachenden, lustigen Augen, in goldbetresstem Rock, den Dreispitz unter den Armen.
Schon vorhin, als er das Bild als das seinige erkannt hatte, war die Absicht in ihm aufgestiegen, es heimlich zu entfernen; unwillkürlich machte er einen Schritte darauf zu – schämte sich aber sofort seines Gedankens und blieb stehen.
Schultern und Rücken der Alten bebten und zuckten noch immer vor verhaltenem Weinen; er sah auf sie nieder, und ein tiefes, heißes Mitleid ergriff ihn.
Er vergaß seinen Ekel vor ihrem schmutzigen Haar und legte ihr die Hand vorsichtig auf den Kopf, als getraue er sich nicht recht – streichelte sie sogar schüchtern.
Er schien sie sichtlich zu beruhigen, und sie wurde allmählich still wie ein Kind.
„Liesel“ – fing er nach einer Weile wieder, ganz leise, an – „Liesel, schau, mach dir nichts draus – na ja, ich mein, wenn’s dir schlecht geht. – Weißt d’“ – er suchte nach Worten – „na ja, weißt d’, es is – es is halt Krieg. – Und – und Hunger ham wir ja alle – jetzt im Krieg“ – er schluckte ein paarmal verlegen, denn er fühlte, dass er log; er hatte doch noch niemals Hunger gehabt – wusste gar nicht, was das war; sogar frischgebackene Salzstangel aus weißem Mehl wurden ihm jeden Tag beim „Schnell“ heimlich unter die Serviette gesteckt. – „No – und jetzt, wo ich weiß, dass dir’s schlecht geht, brauchst d’ dich ieberhaupt nicht mehr sorgen, Liesel; es is ja von selbstverstehtsich, dass ich dir hilf. – No – und der Krieg“ – er trachtete, einen möglichst fröhlichen Ton in seine Rede zu legen, um sie aufzuheitern – „er is ja vielleicht iebermorgen schon ’rum – und dann kannst d’ ja auch wieder deinem Verdienst – “, er brach bestürzt ab; es fiel ihm plötzlich ein, was sie war; überdies konnte man in ihrem Falle doch kaum von „Verdienst“ reden – „hm, ja – nachgehen“, schloss er den Satz halblaut nach einer kleinen Pause, denn er wusste kein besseres Wort.
Sie haschte nach seiner Hand und küsste sie stumm und voll Dankbarkeit. – Er fühlte ihre Tränen auf seine Finger fallen. „Geh, lass doch“, wollte er sagen, brachte es aber nicht heraus. Er blickte ratlos umher.
Eine Weile schwiegen beide. Dann hörte er, dass sie etwas murmelte, verstand aber die Worte nicht.
„Ichichich dank’“, schluchzte sie endlich halberstickt, – ichich dank’ dir, Ping – , ich dank’ dir, Thaddäus. Nein, nein, kein Geld“, fuhr sie hastig fort, als er wieder davon anfangen wollte, er werde ihr helfen – „nein, ich brauch’ nichts“ – sie richtete sich schnell auf und drehte den Kopf zur Wand, damit er ihr schmerzverzerrtes Gesicht nicht sehen solle, hielt aber dabei seine Hand krampfhaft fest, „es geht mir ja ganz gut. Ich bin doch so glücklich, dass du – dich nicht vor mir graust. – Nein, nein, wirklich, mir gehts ganz gut. -W-w-weißt d’, es ist nur so schrecklich, wenn man sich erinnert, wie früher alles war.“ – Einen Augenblick würgte sie es wieder, und sie fuhr sich nach dem Hals, als bliebe ihr der Atem aus. – „Weißt d’, dass man – dass man nicht alt werden kann, ist so furchtbar.“
Der Pinguin sah sie erschrocken an und glaubte, sie rede irre; erst nach und nach begriff er, was sie meinte, als sie anfing, ruhiger zu sprechen.
„Vorhin, wie du herausgekommen bist, Thaddäus, da hab’ ich gemeint, ich bin wieder jung – und du hast mich noch lieb“, setzte sie ganz leise hinzu – „und so geht’s mir oft. Manchmal – manchmal fast eine Viertelstunde lang. – Besonders, wenn ich auf der Gassen geh, vergess’ ich, wer ich bin, und glaub’, die Leute schauen mich so an, weil ich jung und schön bin. – Dann freilich, wenn ich hör’, was die Kinder hinter mir dreinrufen – .“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. —
„Nimm’s nicht so schwer, Liesel“ – tröstete sie der kaiserliche Leibarzt – „Kinder sind immer grausam und wissen nicht, was sie tun. Du darfsts ihnen nicht nachtragen, und wenn sie sehen, dass du dir nichts drausmachst – “
„Glaubst du denn, ich bin ihnen bös deshalb? – Ich bin noch nie jemand bös gewesen. Nicht einmal dem lieben Gott. Und dem hat doch heutzutag wahrhaftig jeder Mensch Grund, böse zu sein. – Nein, das ist’s nicht. – Aber dieses Aufwachen jedesmal, wie aus einem schönen Traum, das ist fürchterlicher, Thaddäus, als wenn man bei lebendigem Leibe verbrennt.“
Der Pinguin blickte wieder in der Stube umher und sann nach. „Wenn man’s ihr ein wenig behaglicher machen würde hier“, dachte er, „vielleicht würde sie sich – “
Sie schien seinen Gedanken erraten zu haben. „Du meinst, warum’s so schauderhaft hier ist und warum ich so gar nichts mehr auf mich halte? – Du, mein Gott, wie oft hab’ ich schon versucht, das Zimmer ein bissel sauberer zu machen. Aber ich glaub’, ich müsst wahnsinnig werden, wenn ich’s tu. – Wenn ich nur damit anfang’ und rück’ bloß einen Sessel zurecht, so schreit schon alles in mir auf, dass es ja doch nie mehr so werden kann, wie’s früher war. – So ähnlich geht’s vielleicht vielen Menschen auch, nur können’s die andern nicht verstehen, die nie aus dem Licht haben in die Finsternis müssen. – Du wirst’s mir nicht glauben, Thaddäus, aber wirklich, es ist noch so etwas wie ein Trost darin für mich, dass alles um mich herum, und ich selbst, so unsagbar verkommen und scheußlich ist.“ – Sie starrte eine Weile vor sich hin, dann fuhr sie plötzlich auf: „Und ich weiß auch warum. – Jaja, warum soll nicht der Mensch auch gezwungen sein, mitten im tiefsten Schmutz zu leben, wo doch seine Seele in einem so grässlichen Kadaver stecken muss! —
Und dann – hier so mitten im Dreck“ – murmelte sie halblaut vor sich hin – „vielleicht kann ich doch einmal vergessen.“ – Sie fing an, wie geistesabwesend mit sich selbst zu sprechen. „Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär’“ – der Leibarzt horchte auf, als der Name fiel, und erinnerte sich, dass er doch eigentlich des Schauspielers wegen hergekommen sei; – „Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär’! – Ich glaub’, er ist an allem schuld. – Ich muss ihn fortschicken. – Wenn ich nur – wenn ich nur die Kraft dazu hätt’.“ —
Der Herr kaiserliche Leibarzt räusperte sich laut, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. – „Sag mal, Liesel, was ist das eigentlich mit dem Zrcadlo?“ – „Er wohnt doch bei dir?“ fragte er endlich direkt heraus.
Sie fuhr sich über die Stirn: – „Der Zrcadlo? Wieso kommst du auf ihn?“
„Nun. Halt so. Nach dem, was gestern beim Elsenwanger passiert ist. – Mich interessiert der Mensch. – Nur so. Halt als Arzt.“
Die „böhmische Liesel“ kam langsam zu sich, dann trat plötzlich ein Ausdruck des Schreckens in ihre Augen. Sie packte den kaiserlichen Leibarzt heftig am Arm:
„Weißt du, manchmal, da glaub’ ich – er ist der Teufel. Jesus Maria, Thaddäus, denk nicht an ihn! – Aber nein“ – sie lachte hysterisch auf – „das is alles dummes Zeug. – Es gibt doch gar keinen Teufel. – Er ist natürlich nur verrückt. – Oder – oder ein Schauspieler. Oder alles beides zusammen.“ Sie wollte wieder lachen, aber ihre Lippen verzerrten sich nur.
Der kaiserliche Leibarzt sah, dass ein kalter Schauer sie überlief und ihre zahnlosen Kiefer schlotterten.
„Selbstverständlich ist er krank“, sagte er ruhig, „aber manchmal muss er doch bei sich sein – und da hätt ich gern einmal mit ihm gesprochen.“
„Er ist nie bei sich“, murmelte die „böhmische Liesel“.
„Du hast aber doch gestern Nacht gesagt, er geht in den Beiseln herum und spielt den Leuten etwas vor?“
„Ja. – Ja, das tut er.“
„No, dazu muss er doch bei sich sein?“
„Nein. Das ist er nicht.“
„So. – Hm“ – der kaiserliche Leibarzt grübelte nach. – „Aber er war doch gestern geschminkt! Tut er das vielleicht auch ohne Bewusstsein? – Wer schminkt ihn denn?“
„Ich.“
„Du? Wieso?“
„Damit er für einen Schauspieler gehalten wird. Und etwas verdienen kann. – Und damit mer ihn net einsperrt.“
Der Pinguin blickte die Alte lang und misstrauisch an.
„Es kann doch gar nicht sein, dass er – ihr Zuhälter ist“, überlegte er. – Sein Mitleid war verflogen, und der Ekel fasste ihn wieder an. – „Wahrscheinlich lebt sie mit von seinen Einnahmen.“ „Jaja, natürlich, so wird’s wohl sein.“
Auch die „böhmische Liesel“ war mit einem Mal ganz verändert. – Sie hatte ein Stück Brot aus der Tasche gezogen und kaute mürrisch daran.
Der Herr kaiserliche Leibarzt trat verlegen von einem Bein aufs andere. Er fing an, sich innerlich heftig zu ärgern, dass er überhaupt hiehergekommen war. —
„Wenn d’ gehen willst – ich halt’ dich nicht“, brummte die Alte nach einer peinlichen Pause längeren beiderseitigen Stillschweigens.
Der Herr kaiserliche Leibarzt griff rasch nach seinem Hut und sagte, wie von einem Druck befreit: „Ja, freilich, Liesel, du hast recht, es ist schon spät. – Hm, ja. – No, und so gelegentlich komm’ ich wieder nach dir schauen, Liesel.“ – Er tastete mechanisch nach seinem Portemonnaie. —
„Ich hab’ dir schon einmal g’sagt, ich brauch’ kein Geld nicht“, fauchte die Alte los.
Der Herr kaiserliche Leibarzt zuckte mit der Hand zurück und wandte sich zum Gehen:
„Alsdann, grüß dich Gott, Liesel.“
„Servus, Thadd – , Servus, Pinguin.“
Im nächsten Augenblick stand der Herr kaiserliche Leibarzt, geblendet von der grellen Sonne, auf der Gasse und strebte gallig seiner Droschke zu, um so rasch wie möglich aus der „Neuen Welt“ heim zum Mittagessen zu fahren.
Hungerturm
In dem mauerumfriedeten stillen Hof der „Daliborka“[9] – des grauen Hungerturms auf dem Hradschin – warfen die alten Linden bereits schräge Schatten, und das kleine Wärterhäuschen, darin der Veteran Vondrejc mit seiner gichtbrüchigen Gattin und seinem Adoptivsohn Ottokar, einem neunzehnjährigen Konservatoristen, wohnte, lag wohl schon eine Stunde in kühlem Nachmittagsdunkel.
Der Alte saß auf einer Bank und zählte und sortierte einen Haufen Kupfer- und Nickelmünzen neben sich hin auf das morsche Brett, die ihm der Tag als Trinkgeld von den Besuchern des Turms eingebracht hatte. Jedes Mal, wenn er die Zahl zehn erreichte, machte er mit seinem Stelzbein einen Strich in den Sand.
„Zwei Gulden siebenundachtzig Kreizer“, brummte er, als er fertig war, unzufrieden zu seinem Adoptivsohn hin, der, an einen Baum gelehnt, emsig damit beschäftigt war, die spiegelnden Flecken an den Knien seines schwarzen Anzuges rauhzubürsten, und rief es dann mit lautem, militärischem Meldeton durchs offene Fenster in die Stube hinein, damit es seine bettlägerige Frau hören könne.
Gleich darauf sank er, den bis in den Nacken haarlosen Kopf mit der hechtgrauen Feldwebelmütze bedeckt, in starrer, totenähnlicher Ruhe zusammen wie ein Hampelmann, in dem der Lebensfaden plötzlich gerissen ist, und hielt seine halbblinden Augen unbeweglich auf den mit libellenförmigen Baumblüten übersäten Boden geheftet.
Er achtete nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf, dass sein Adoptivsohn den Geigenkasten von der Bank nahm, sich seine Samtkappe aufsetzte und dem schwarz-gelb gestreiften, kasernenmäßigen Ausgangstor zuschritt. Er antwortete nicht auf den Abschiedsgruß. – Der Konservatorist schlug den Weg nach abwärts ein, der Thunschen Gasse zu, in der die Gräfin Zahradka ein schmales, finsteres Palais bewohnte, blieb aber nach wenigen Schritten, wie von einem Gedanken erfasst, stehen, warf einen Blick auf seine abgeschabte Taschenuhr, kehrte hastig um und eilte, die Wiesenstege des „Hirschgrabens“ abkürzend, wo immer es ging, zur „Neuen Welt“ empor, wo er, ohne anzuklopfen, das Zimmer der „böhmischen Liesel“ betrat. —
Die Alte war so tief versponnen in ihre Jugenderinnerungen, dass sie lange nicht begriff, was er von ihr wollte.
„Zukunft? Was ist das: Zukunft?“ murmelte sie geistesabwesend, immer nur die letzten Worte seiner Sätze verstehend, „Zukunft? – Es gibt doch gar keine Zukunft!“ – sie musterte ihn langsam von oben bis unten – der verschnürte Studentenrock des jungen Mannes verwirrte sie offenbar. – „Warum nicht goldene Tressen heute? – Er ist doch Oberst-Hofmarschall!“ fragte sie halblaut in die leere Luft hinein. – „Aha, Pan Vondrejc mladsi – ah, der junge Herr Vondrejc will die Zukunft wissen! Ah so.“ – Jetzt erst erfasste sie, wen sie vor sich hatte.
Ohne weiter ein Wort zu verlieren, ging sie zur Kommode, bückte sich, fischte unter den Möbeln ein mit rötlichem Modellierton überzogenes Brett hervor, stellte es auf den Tisch, reichte dem Konservatoristen einen hölzernen Griffel und sagte: „Da! Tupfen S’, Pane Vondrejc! Von rechts nach links. – Aber ohne zu zählen! – Nur an das denken, was Sie wissen wollen! – Und sechzehn Reihen untereinander.“
Der Student nahm den Stift, zog die Augenbrauen zusammen und zögerte eine Weile, dann wurde er plötzlich leichenblass vor innerer Erregung und stach in fliegender Hast und mit zitternder Hand eine Anzahl Löcher in die weiche Masse.
Die „böhmische Liesel“ zählte sie zusammen, schrieb sie in Kolonnen neben- und untereinander auf eine Tafel, während er ihr gespannt zusah, zeichnete die Resultate in geometrische Formen geordnet in ein mehrfach geteiltes Viereck und schwätzte dabei mechanisch vor sich hin:
„Das sind die Mütter, die Töchter, die Neffen, die Zeugen, der Rote, der Weiße und der Richter, Drachenschwanz und Drachenkopf. – Alles genau, wie’s die alte böhmische Punktierkunst verlangt. – So haben wir’s gelernt von den Sarazenen, eh’ sie vernichtet wurden in den Kämpfen am weißen Berg, der ist getränkt von Menschenblut. – Böhmen ist der Herd aller Kriege. – Auch jetzt wieder war’s der Herd und wird’s immer bleiben. – Jan Zizka[10], unser Führer Zizka, der Blinde!“
„Was ist s mit Zizka?“ fuhr der Student aufgeregt dazwischen, „steht da etwas von Zizka?“
Sie achtete nicht auf die Frage. – „Wenn die Moldau nicht so rasch flösse, heut noch wäre sie rot von Blut.“ – Dann änderte sie mit einem Mal den Ton wie in grimmiger Lustigkeit: „Weißt du, Buberl, warum so viel Blutegel in der Moldau sind? Vom Ursprung bis zur Elbe – wo du am Ufer einen Stein aufhebst, immer sind kleine Blutegel darunter. Das kommt, weil früher der Fluss ganz aus Blut bestand. Und sie warten, weil sie wissen, dass sie eines Tags wieder neues Futter kriegen – Was ist das?“ – sie ließ erstaunt die Kreide aus der Hand fallen und starrte abwechselnd den jungen Mann und die Figuren auf der Tafel an – „was ist das! – Willst du vielleicht gar Kaiser der Welt werden?“
– Sie sah ihm forschend in die dunklen, flackernden Augen.
Er gab keine Antwort, aber sie bemerkte, dass er sich am Tische krampfhaft festhielt, um nicht zu taumeln. „Am End’ wegen der da?“ – sie deutete auf eine der geometrischen Figuren. „Und ich hab’ immer geglaubt, du hättst ein Gspusi mit der Bosena vom Baron Elsenwanger?“
Ottokar Vondrejc schüttelte heftig den Kopf.
„So? Es ist also schon wieder aus, Buberl? – Na, was ein ächtes böhmisches Madel is, trägt nichts nach. Auch nicht, wenn’s ein Kind kriegt. – Aber vor der da“ – sie zeigte wieder auf die Figur – „nimm dich in acht. – Die saugt Blut. – Sie is auch eine Tschechin, aber von der alten gefährlichen Rass’.“
„Das ist nicht wahr“, sagte der Student heiser.
„So? Glaubst du? – Sie ist aus dem Stamme Boriwoj, sag’ ich dir. Und du“ – sie blickte den jungen Mann lang und nachdenklich in das schmale, braune Gesicht – „und du – du bist auch aus der Rasse Boriwoj. So zwei zieht’s zueinander wie Eisen und Magnet. – Was braucht man da lang in den Zeichen zu lesen“ – sie wischte mit dem Ärmel über die Tafel, ehe sie der Student daran hindern konnte. „Gib nur acht, dass du nicht das Eisen wirst und sie der Magnet, sonst bist du verloren, Buberl. – Im Stamme Boriwoj war Gattenmord, Blutschande und Brudermord an der Tagesordnung. – Denk an Wenzel, den Heiligen[11]!“
Der Konservatorist versuchte zu lächeln. – „Wenzel der Heilige war ebensowenig aus dem Stamme Boriwoj, wie ich es bin. Ich heiß’ doch bloß Vondrejc, Frau – Frau Lisinka.“
„Sagen Sie mir nicht immer Frau Lisinka!“ – wütend schlug die Alte mit der Faust auf den Tisch; „Ich bin keine Frau! – Ich bin eine Hur. – Ich bin ein Fräulein!“
„Ich hätt’ nur noch gern gewusst – Lisinka – , was haben Sie da vorhin gemeint mit dem – ‘Kaiser werden’ und mit Jan Zizka?“ fragte der Student eingeschüchtert.
Ein Knarren von der Wand her ließ ihn innehalten. —
Er drehte sich um und sah, dass im Rahmen der langsam sich öffnenden Tür ein Mann stand, eine große, schwarze Brille im Gesicht, den übermäßig langen Gehrock zwischen den Schultern ungeschickt ausgestopft, wie um einen Buckel vorzutäuschen – die Nasenlöcher weit aufgebläht von Wattepfropfen, die darin staken – , eine fuchsrote Perücke auf dem Schädel und einen ebensolchen Backenbart, dem man auf hundert Schritt ansehen konnte, dass er angeklebt war.
„Prosim! Milostpane! Gnädigste!“ wandte sich der Fremde mit deutlich verstellter Stimme an die „böhmische Liesel“. „Bittschän, Pardon, wann ich stäare, bittschän, war sich nicht vorhin der Herr kaiserliche Leibharz von Flugbeil hier?“
Die Alte verzog ihren Mund zu einem lautlosen Grinsen.
„Bittschän, man hat mir, här’ ich, nämlich gesagt, dass er sich hier gewesen is.“
Die Alte grinste weiter wie eine Leiche.
Der sonderbare Kerl wurde sichtlich betreten.
„Ich soll nämlich dem Herrn kaiserlichen Leibharz – “
„Ich kenn’ keinen kaiserlichen Leibarzt!“ schrie die „böhmische Liesel“ jäh los – „Schauen Sie, dass Sie hinauskommen, Sie Rindvieh!“
Blitzartig schloss sich die Türe und der nasse Schwamm, den die Alte von der Schiefertafel abgerissen und nach dem Besuch geschleudert hatte, fiel klatschend zu Boden. —
„Es war nur der Stefan Brabetz“, kam sie der Frage des Konservatoristen zuvor. „Er ist ein Privatspitzel. Er verkleidet sich jedesmal anders und glaubt, dann kennt man ihn nicht. – Wenn irgendwo etwas los ist, dann schnüffelt er’s heraus. Er möcht dann immer was erpressen, aber er weiß nie, wie er’s machen soll. – Er ist von unten. Aus Prag. – Da sind sie alle so ähnlich. – Ich glaub’, das kommt von der geheimnisvollen Luft, die aus dem Boden steigt. – Alle werden sie im Lauf der Zeit so wie er. Einer früher, einer später, außer sie sterben vorher. – Wenn einer dem anderen begegnet, grinst er hämisch, bloß damit der andere glaubt, man weiß was über ihn. – Hast d’ es noch nie bemerkt, Buberl“ – sie wurde seltsam unruhig und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu wandern – „dass in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit? – Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß nicht! – Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is eine andere Art Wahnsinn. – Ganz anders als unten. – So – so mehr ein versteinerter Wahnsinn. – Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist. – Aber wenn’s einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen – hab ich“ – ihre Stimme sank zu leisem Gemurmel herab – „hab’ ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen. – Ja, na ja, und der Stefan Brabetz, der riechts wahrscheinlich, dass hier auf dem Hradschin irgendwas in der Luft is. Irgendwas los.“
Der Student verfärbte sich und blickte unwillkürlich scheu nach der Tür. „Wieso? Was soll los sein?“
Die „böhmische Liesel“ redete an ihm vorbei: „Ja, glaub mir, Buberl, du bist jetzt schon verrückt. – Vielleicht willst du wirklich Kaiser der Welt werden.“ – Sie machte eine Pause. „Freilich, warum soll’s nicht möglich sein? – Wenn’s in Böhmen nicht so viele Wahnsinnige gäb’, wie hätTs sonst immer der Herd der Krieg sein können! – Ja, sei nur verrückt, Buberl! Dem Verrückten gehört am Schluss doch die Welt. – Ich bin ja auch die Geliebte vom König Milan Obrenowitsch gewesen, bloß weil ich geglaubt hab’, dass ich’s werden kann. – Und wieviel hat gefehlt, wär’ ich Königin von Serbien geworden!“ – Es war, als erwache sie plötzlich – „Warum bist du eigentlich nicht im Krieg, Buberl? – So? Einen Herzfehler? – Noja. – Hm. – Und warum meinst du, bist du kein Boriwoj?“ – Sie ließ es nicht zur Antwort kommen – „Und wohin gehst du jetzt, Buberl, da mit der Geige?“