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Der Golem / Голем
Auch Hillels verstorbene Frau hatte den «Golem» von Angesicht zu Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefühlt, daß man sich im Starrkrampf befindet, solange das rätselhafte Wesen in der Nähe weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur ihre eigene Seele habe sein können, die – aus dem Körper getreten – ihr einen Augenblick gegenübergestanden und mit den Zügen eines fremden Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemächtigt, habe sie doch keine Sekunde die Gewißheit verlassen, daß jener andere nur ein Stück ihres eignen Innern sein konnte». —
«Es ist unglaublich», murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grübeln versunken.
Da klopfte es an die Türe und das alte Weib, das mir des Abends Wasser bringt und was ich sonst noch nötig habe, trat ein, stellte den tönernen Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer Einfluß mit der Alten zur Tür hereingeschlüpft, an den man sich erst gewöhnen mußte.
«Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht», sagte plötzlich Zwakh ganz unvermittelt. «Dieses erstarrte, grinsende Lächeln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die Großmutter, dann die Mutter! – Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe Name Rosina; – es ist immer eine die Auferstehung der andern».
«Ist Rosina nicht die Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum?» fragte ich.
«Man spricht so», meinte Zwakh, – «Aaron Wassertrum aber hat manchen Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiß. Auch bei Rosinas Mutter wußte man nicht, wer ihr Vater gewesen, – auch nicht, was aus ihr geworden ist. – Mit fünfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbwüchsigen Jungen im Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, – ich sehe ihn öfter, – doch sein Name ist mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie alle frühzeitig unter die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit überhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein Gedächtnis treiben. So hat es damals einen halbblödsinnigen Menschen gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den Gästen gegen ein paar Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken machte, geriet er in eine unsägliche Traurigkeit, und unter Tränen und Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhören, immer das gleiche scharfe Mädchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte er – fast ein Kind noch – eine gewisse Rosina, wohl die Großmutter der heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber verlor.
Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die Großmutter der jetzigen Rosina gewesen sein». —
Zwakh schwieg und lehnte sich zurück.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer wieder zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn, und ein häßliches Bild, das ich einmal mit angesehen – eine Katze mit verletzter Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd – trat vor mein Auge.
«Jetzt kommt der Kopf», hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander mit heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu schnitzen.
Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und ich rückte meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop füllte wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster; – manchmal verstummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoßen wolle, fragte mich nach einer Weile der Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, – so vollkommen war mir der Wille, mich zu bewegen, abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu öffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vrieslanders funkelndes Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Späne biß, – um die Gewißheit zu erlangen, daß ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder allerlei wunderliche Geschichten über Marionetten und krause Märchen, die er für seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische, triumphierende Miene. —
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte, überlegte ich, – dann hielt ich es nicht der Mühe für wert und für belanglos. Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte ich jetzt den Versuch machen zu sprechen.
Plötzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herüber, und Prokop sagte ganz laut: «Er ist eingeschlafen», – so laut, daß es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daß sie von mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf, das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte mir in den Augen.
Es fiel ein Wort wie: «irr sein», und ich horchte auf die Rede, die in der Runde ging.
«Gebiete, wie das vom ›Golem‹ sollte man vor Pernath nie berühren», sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, «als er vorhin von dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt».
Zwakh nickte: «Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken».
«War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst vierzig sein», sagte Vrieslander.
«Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten beunruhigen würde, aussuchen». – Wieder sah Zwakh bewegt zu mir herüber. – «Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegründet. Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen könnten, – wie oft hat mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, möchte ich’s nennen, – so wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft». —
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen Händen das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, – ein Ahnen, als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.
Jetzt lag des Rätsels Lösung offen vor mir und brannte mich unerträglich wie eine bloßgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse nachzuhängen, – dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugänglicher Gemächer gesperrt, – das beängstigende Versagen meines Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, – alles das fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte das – «Zimmer» verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern, vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, – nie würde ich sie erkennen können: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene «Zimmer» zu erzwingen, müßte ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt, in die Hände fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzählte, zog mir durch den Sinn, und plötzlich erkannte ich einen riesengroßen, geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle «würde der Strick reißen», wollte ich versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.
Ich fühlte: es sind da Dinge – unfaßbare – zusammengeschmiedet und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg führt, nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden kann, – ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! —
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es denn nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen lange auf mir, befriedigt, daß sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte unverwandt auf das hölzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plötzlich gewannen die Züge des Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen aufhörte und ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir – wie damals – des Gesichtes bewußt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoß und spähte umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte meinen Schädel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hörte seine Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:
«Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar mißlungen». Und er wand sich los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewußtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis, die von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich, wie es mir schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hörte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen. —
«Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie schüttelten», – sagte Josua Prokop zu mir, «der Punsch ist aus, und Sie haben alles versäumt».
Der heiße Schmerz über das, was ich vorhin mitangehört, übermannte mich wieder, und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt habe, als ich ihnen von dem Buche Ibbur erzählte – und es aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen könne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel und rief:
«Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre Lebensgeister erfrischen».
Nacht
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterführen lassen.
Ich spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus drang, deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen, und man hörte, wie sie draußen vor dem Torweg mitsammen sprachen.
«Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum Teufelholen».
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bückte und die Marionette suchte.
«Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst», brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen – wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
«Still doch! Hört ihr denn nichts?»
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab.
Nichts.
«Was war’s denn?» flüsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick – kaum einen Herzschlag lang – hatte es mir geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte – fast unhörbar. Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte, war alles vorbei; nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
«Gehen wir; was stehen wir da herum!» mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Häuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
«Meinen Hals möcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in Todesangst».
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie leise dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.
«SALON LOISITSCHEK».
«Heinte großes Konzehr» stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete sich die Eingangstür nach innen, und ein vierschrötiger Kerl mit gewichstem schwarzem Haar, ohne Kragen – eine grünseidene Krawatte um den bloßen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt – empfing uns mit Bücklingen.
«Jä, jä, das sin mir Gästäh. – Pane Schaffranek, rasch einen Tusch!» setzte er, über die Schulter in das von Menschen überfüllte Lokal gewendet, hastig seinem Willkommensgruß hinzu.
Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten liefe, war die Antwort.
«Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man», murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während er uns aus den Mänteln half.
«Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir versammelt», beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Geländer und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
«Ich stell’ ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön ungestört sein», krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen, und eine Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer verlöschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hörte man plötzlich wie die eisernen Gasstäbe fauchend die flachen herzförmigen Flammen aus ihren Mündern in die Luft bliesen – dann fiel die Musik über das Geräusch her und verschlang es.
Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weißen Prophetenbart, ein schwarzseidenes Käppchen – wie es die alten jüdischen Familienväter tragen – auf dem Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern – starr zur Decke gerichtet – saß dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit dürren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in speckglänzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen – ein Sinnbild erheuchelter Bürgermoral – ein schwammiges Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoß.
Ein wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instrumenten, dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riß den Mund weit auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen Röchellauten begleitet, ein wilder Baß:
«Roo – n – te, blau – we Stern —»
«Rititit» (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
«Roonte blaue Steern
Hörndlach ess i’ ach geern»;
«Rititit»
«Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern» —
«Rititit, rititit».
Die Paare traten zum Tanze an.
«Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹», erklärte uns lächelnd der Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der sonderbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. «Vor wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei Bäckergesellen, Rotbart und Grünbart, am Abend des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot – Sterne und Hörnchen – vergiftet, um ein ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ – der Gemeindediener – war infolge göttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei überliefern. Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als Bordellquadrille hören».
«Rititit – Rititit»
«Roote blaue Steern —» immer hohler und fanatischer erscholl das Gebell des Greises.
Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den Rhythmus des böhmischen «Schlapak» – eines schleifenden Schiebetanzes – über, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preßten.
«So recht. Bravo. Äh da! fang, hep, hep!» rief von der Estrade ein schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstück in der Richtung. Es erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es über das Tanzgewühl hinblitzte; da war es plötzlich verschwunden. Ein Strolch – sein Gesicht kam mir so bekannt vor; ich glaube, es muß derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben Charousek gestanden – hatte seine Hand hinter dem Busentuch seiner Tänzerin, wo er sie bisher hartnäckig ruhen gehabt, hervorgezogen – ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Münze war geschnappt. Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten leise.
«Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu schließen», sagte Zwakh lachend.
«Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehört», fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. – Ich verstand gar wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzählen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß vom Herzen in die Augen. Wenn er wüßte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine Worte einleitete, – ich weiß nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir wurde immer kälter und starrer, wie vorhin, als ich als hölzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. Dann war ich plötzlich mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig umfing, – einhüllte, wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
«Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
– No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jüngling kannte er nichts als Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch Stundengeben mühsam erwarb, mußte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie grüne Wiesen aussehen und Hecken und Hügel voll Blumen und Wälder, erfuhr er, glaube ich, nur aus Büchern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich selbstverständlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter. So berühmt, daß alle Leute – Richter und alte Advokaten – zu ihm fragen kamen, wenn sie irgend etwas nicht wußten. Dabei lebte er ärmlich wie ein Bettler in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner Wissenschaft wurde allmählich Sprichwort im ganzen Lande. Daß ein Mann wie er weichen Herzensempfindungen zugänglich sein konnte, zumal sein Haar schon anfing weiß zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt. Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glüht die Sehnsucht am heißesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als Höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: – als nämlich Seine Majestät der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer Universität ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem jungen, bildschönen Fräulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge Gattin auf Händen, und jeden Wunsch zu erfüllen, den er ihr nur irgend von den Augen abzulesen vermochte, war seine höchste Freude.
In seinem Gluck vergaß er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. «Mir hat Gott meine Sehnsucht gestillt», soll er einmal gesagt haben, – «er hat mir ein Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, daß ein Schimmer von diesem Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt». —
Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erwägung, wie wohl ihm selbst ein solch gutes Werk getan hatte, wäre es ihm am eigenen Leib und Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht gleich der einer fluchwürdigen, weil wir wohl doch nicht richtig unterscheiden können zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was heilsamen, so begab es sich auch hier, daß aus Dr. Hulberts mitleidsvollem Werk das bitterste Leid für ihn selbst sproß.