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Darin hatte das Leben der Mutter bestanden. Immer nach außen gerichtet: wie sie sprach und sich ausdrückte, wie sie mit der Tochter über alles und jeden redete. Über die Verwandten, übers Essen, über die Prüfungen, dass man schauen muss, wo man bleibt, und was für Menschen es gibt – gute, schlechte, gleichgültige. Sie wusste noch, was die Mutter ihr einmal gesagt hatte – sonst wusste sie fast nichts mehr:
»Mach einen Bogen um dünne Menschen[42 - einen Bogen um j-n machen – обходить, избегать кого-либо]. Sie sind so dünn, weil sie wegen etwas traurig sind. Und das kann sich auf ihr Verhältnis zu dir auswirken.«
Mit viel Büffeln und zweimal Schmiergeld schafften sie und ihre Mutter die Aufnahmeprüfung am Technikum. Dort wurde sie ausgelacht, aber sie war gar nicht so schlecht. Die Lehrer zuckten die Achseln. Die Schüler, die zum Teil nicht einmal gut Russisch konnten, lachten trotzdem weiter, neckten sich nun aber gegenseitig: Die sei zwar bekloppt, habe aber bessere Noten als manch anderer.
Niemand wusste, dass sie alles, was sie lernte, am nächsten Tag vergessen hatte. Und dass sie für die Prüfungen noch einmal von vorne anfangen musste.
Ihr ganzes Leben bestand aus Lernen, aus der Jagd nach der Norm, nach dem Leben. Und sie nahm ihr Los an, ergeben und mit mechanischer Arglosigkeit.
XXV
Langsam vergaß Nadja ihre Mutter. Als die Mutter gestorben war, stand Nadja einfach auf und ging. Sie erinnerte sich nur noch an den Bahnhof. Wie sie den Bahnsteig auf und ab gelaufen war und gewimmert hatte. Sie hatte nichts sagen können, hörte nur immer sich selbst, ihr schreckliches Wimmern, und wurde allmählich taub.
Ein Milizionär kam, nahm sie am Arm, versuchte sie wegzuführen, fragte etwas … sie wimmerte.
Danach erinnerte sie sich an nichts mehr, an überhaupt nichts. Nicht an die Beerdigung, nicht an die Tante. Das Gedächtnis gab ihr erst viel später und stückchenweise die Vergangenheit zurück.
Alles begann mit den Äpfeln. Wie sie sie im Garten einsammelt, durch das nasse Gras kriecht, wie sie auf einem Apfel eine riesige Nacktschnecke entdeckt: schwarz glänzend, mit kleinen Fühlern, picklig wie eine Zunge.
Sie steckt die Schnecke in den Mund. Spürt den erstarrten, kalten Körper. Nimmt sie wieder heraus. Die Schnecke macht sich lang, zeigt die Fühlerchen. Aus irgendeinem Grund findet sie das lustig, lachend lässt sie sich ins Gras fallen, wird von einem Weinkrampf zerschmettert.
Alles begann damit, wie sie gierig, verzückt, schmatzend die Äpfel isst. Wie ein Pferd vorbeiläuft, zu ihr herüberschielt: Die Mähne wogt, Widerrist, Rücken, Kruppe fließen dahin. Wie der Huf aufstampft, wie unter dem schaukelnden Schweif Batzen dampfender Äpfel herauskommen und zerfallen.
Wie sie auf dem Markt in Toksowo Äpfel verkauft. Wie sie einen großen Apfel vom Stapel nimmt. Ihn in der hohlen Hand wiegt. Ihn anhebt und umdreht: Sie führt den Arm hin und her und schaut, leise lächelnd, darüber hinweg die Kunden an.
Woraufhin sie ihn langsam zum Mund führt, die Augen schließt und tief einatmet.
XXVI
Jetzt stumpfte sie ab, das wusste sie, weil sie den Verstand getrennt von sich wahrnahm. So wie jemand, bei dem die Koordination der Nervenenden verloren geht und der dann seine Glieder immer mehr als Fremdkörper empfindet.
Diese Geistesstörung hatte Farbe, Form und Stimme. Sie war ein großer grauer Vogel, von einem Stock zum Krüppel geschlagen. Der Vogel landete auf einem kräftigen Ast, der aus der rechten Schläfe wuchs, seufzte heiser und zog den zerschmetterten Flügel ein.
Das Denken fiel ihr immer schwerer. Der Vogel landete immer häufiger auf dem Ast, und sein Schatten im Augenwinkel wurde immer größer. Manchmal tat Nadja das Denken weh. Wenn es ihr ein ums andere Mal nicht gelingen wollte, eine Zahlenreihe zusammenzuzählen, biss sie sich ins Handgelenk, schlug sich auf die Hand, heulte tränenlos.
Aber sie beruhigte sich wieder, und dann trat Gleichgültigkeit in ihr Gesicht, schwere Teilnahmslosigkeit.
Die Schwachsinnigkeit durchdrang Nadja wie eine Starre. Dann kam es ihr vor, als wäre sie ein Strauch. Ein kleiner Strauch, versteinert im immerwährenden, dumpfen Schmerz. Als hätte sich die Welt rundum in Wind verwandelt, einen sanften oder kräftigen Wind, und nur er allein konnte den Strauch berühren, an ihm zupfen, ihn loslassen, biegen, umknicken.
Doch manchmal ging es besser. Dann füllte sie Seite um Seite mit Rechenreihen. Fürs Rechnen sammelte sie in den Geschäften die Kassenbons auf: Unten auf dem Bon stand die Lösung. Sie holte sich eine ganze Handvoll und addierte alle Einkäufe. Bedächtig, mit herausgestreckter Zunge, am Stift kauend. Schrieb die Lösungen auf und setzte zum Schluss ihren Namen darunter: Nadja. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte, ihn zu vergessen, aber so war es leichter, sich mit diesen Zahlen in Beziehung zu setzen: dass wirklich sie dies getan hatte und kein anderer. Es passierte ihr auf Schritt und Tritt, dass sie vergaß, dass dieses Ding hier etwas mit ihr zu tun hatte. Dass sie das hier geschrieben hatte. Dass sie diese Anziehpuppe mit einem Messer ausgeschnitten hatte. Nadja. So hieß die Puppe. Hier stand es, auf dem kleinen Knie. Das war das Schwerste – Namen zu geben. Nadja kannte nur einen Namen: Mama.
Sie wusste nicht, wie weit sie sich schon entfernt hatte, dennoch fasste sie neuen Mut[43 - neuen Mut fassen – приободриться].
Aber die bezwungene Angst, die nun tiefer im Verborgenen steckte, wurde immer stärker.
XXVII
Einmal, als sie gerade alle gesammelten Kassenbons durchgerechnet hatte, erinnerte sie sich an etwas Besonderes. Sie war mit der Mutter in eine andere Stadt gefahren, um Mutters Freundin zu besuchen. Die Freundin war nicht zu Hause, also spazierten sie durch die Stadt, liefen durch den Uferpark und am Strand entlang, dann wieder zurück, aber immer noch machte niemand auf.
In der Nähe gab es ein Internat, und sie setzten sich auf eine Bank im Schulhof. Kinder liefen herum. Sie spielten ein Spiel. Nadja kannte es nicht. Die Kinder bestimmten einen, der dran war[44 - j-d ist dran (разг.) – подошла чья-либо очередь, чей-либо черёд]. Sie sammelten Zweige im Hof zusammen. Legten ein kleines Brett schräg auf einen Ziegelstein. An dem einen Ende des Brettes häuften sie die Zweige auf. Ein Kind trat auf das Brett, und während der, der dran war, die rundum verstreuten Ästchen einsammelte, rannten die anderen in alle Richtungen davon. Als der Junge endlich alle Stöckchen wieder auf das Brett gelegt hatte, ging er los, um die anderen abzuschlagen. Allerdings konnte derjenige, hinter dem er her war, zum Brett rennen, drauftreten und wieder weglaufen, und dann musste er aufs Neue alle Stöckchen einsammeln. Kurz, das Spiel war für den, der dran war, die reinste Folter: Er musste das Holzbrett nach allen Seiten verteidigen. Nadja tat er leid – ein dicker, keuchender Junge, dessen Lippen sich beim Rennen vorwölbten, die Backen schlackerten, das Gesicht war verzerrt, als würde er weinen – ihr tat der Kopf weh.
Über dem Schulhof stieg Staub auf und legte sich langsam zu ihren Füßen nieder. Oben, in der Krone einer Akazie, gurrte eine Turteltaube. Ein Borkenkäfer, lackiert und gesprenkelt wie ein Stückchen Sternenhimmel, plumpste vom Baum herunter und zappelte jetzt heftig und kitzelig in Nadjas Hand.
Zwei Mädchen rannten dem Dicken davon und versteckten sich neben ihnen. Sie schnauften und greinten, kamen mal hinter der Bank hervor, liefen dann kreischend wieder zurück. Eines der Mädchen sah mehrmals zu Nadja hin, achtete dann aber, vom Spiel gebannt, wieder auf den Jungen.
Die Mutter sagte:
»Diese Kinder haben keine Eltern. Niemand achtet darauf, dass sie nach dem Unterricht die Schulkleidung ausziehen, sie tragen sie auch beim Spielen.«
»Mama, wo sind denn ihre Eltern?«
In diesem Moment kam das Mädchen hinter der Bank hervor und sah Nadja direkt ins Gesicht.
»Du bist bekloppt, stimmts?«
Der Dicke kam angerannt, schlug dem Mädchen auf die Schulter, das andere Mädchen kreischte auf, genau über Nadjas Ohr.
Alle stürmten davon.
Nadja verließ mit der Mutter den Schulhof. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob Tante Alja nicht zurück war.
Am Tor stand ein kleiner Junge in der prallen Sonne. Er weinte und wischte sich mit den kleinen Fäusten die Tränen ab.
Die Mutter fragte ihn:
»Kindchen, warum weinst du denn?«
Der Junge sah sie an und heulte noch lauter.
Die Mutter hockte sich vor ihn.
»Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«
Er sagte schluchzend:
»Gestern sollte mich meine Mama besuchen kommen. Ich warte auf sie. Sie hat versprochen, dass sie mir Buntstifte kauft.«
Die Mutter stand auf und nahm den Jungen bei der Hand.
»Komm, mein Junge, wir gehen. Deine Mama hat mir gesagt, dass ich dir Buntstifte kaufen soll. Komm.«
Sie gingen zusammen zur Buchhandlung.
Im Laden waren die Fenster mit schweren Samtgardinen verhangen, deshalb war es kühl. Es roch nach Buchrücken, Holzleim und Gouachefarben. Ein greller, satter Lichtstreifen voller herumwirbelnder Staubteilchen bahnte sich seinen Weg durch die Vorhänge, lief keilförmig über den Boden, warf eine Linie quer über das Gesicht des Jungen.
Er starrte stur vor sich auf den Boden.
Die Mutter erstand in der Schreibwarenabteilung drei Filzstifte, eine Packung Buntstifte, ein Lineal, einen Radiergummi und ein Malbuch.
Nadja sah die ganze Zeit den Jungen an.
Draußen kaufte die Mutter beiden ein Glas Sprudelwasser mit einer doppelten Portion Sirup.
Die Zähne des Jungen schlugen ans Glas. Hin und wieder schüttelte ihn ein Seufzer.
Sie brachten ihn zurück.
Er lief über den Schulhof – klein, schmächtig, verheult.
Die Stifte trug er behutsam auf dem Malbuch.
Einmal blickte sich der Junge um.
Nadja sah sein vom Weinen verzerrtes Gesicht.
Zoologischer Garten
XXVIII
Nadja setzte sich manchmal einfach nur auf einen Stuhl oder auf die bloße Kante – brav, würdevoll, aufrecht, legte die Hände auf die Knie, von Zeit zu Zeit seufzte sie, schaute nach oben, lächelte ein wenig, mit strahlenden Augen, rutschte, ruckelte wieder und wieder auf dem Stuhl herum, holte tief Luft und war von stiller, erwartungsvoller Freude durchdrungen. So saß sie manchmal stundenlang da, die weit geöffneten Augen auf ein unsichtbares Glück gerichtet.
Nadja war nicht von der feigen Sorte, aber ungeschickt. Machte vieles nicht so, wie sie wollte, und wenn sie etwas sagte, dann war es irgendwie komisch oder nicht das Richtige. So liebte sie auch Wadja – unbeholfen: Sagen kann sie nichts, stattdessen bespringt sie ihn, fällt im Spiel über ihn her, spielt, kitzelt: Liebt, lacht und fängt dann plötzlich an zu weinen, weint aus Scham, brummt, lächelt, wimmert, streichelt Wadja – und hat auch Mitleid mit ihm.
Eine Zeit lang träumte Nadja davon, wie sie ein Zimmer mieten, dass sie einen eigenen Haushalt, eine elektrische Herdplatte haben würden; dass sie sich ein Kätzchen zulegen und ihm aus dem abgeschnittenen Boden einer Milchpackung zu fressen geben würde. Die Krönung des Alltags bestand für Nadja im Besitz einer elektrischen Herdplatte.
In Pskow hatten Mama und sie eine besessen: Zwei Schamottesteine mit einer geschlängelten Rille, durch die sich die Heizspirale wand. Über der Platte, ganz verzückt von dem durchsichtigen Glühen, wärmte sich Nadja die Hände und röstete Brot. An frischem Brot würgte die Mutter, an geröstetem zu lutschen, fiel ihr leichter.
Wadja wollte nichts von einem Zimmer wissen, ihm war unklar, warum man für einen leeren Raum Geld zahlen sollte. Er war vollauf zufrieden mit trocken Brot (ihre Verpflegung bestand vornehmlich aus Brot und Kondensmilch) und einem Nachtlager auf Dachböden oder in verlassenen Waggons.
Zwar gab es immer weniger zugängliche Treppenhäuser, aber bis zum Winter würden sie schon etwas finden: Die Presnja war groß, es gab das Strelbischtschenski-Viertel, die alten Arbeiterbaracken am Schmitowski Projezd. Und schlussendlich die warme Toilette auf dem Georgischen Platz, zu deren Aufseherin, Sejnab, Wadja einen besonders guten Draht hatte[45 - einen guten Draht zu j-m haben – быть в хороших отношениях с кем-либо, хорошо относиться к кому-либо]. Dort lungerte er gern herum, goss sich im Dienstkabuff Heißwasser ein, manchmal auch Kaffee, und hockte unter der Heizung im Warmen (kleine, gut beheizte Räume wurden von den Obdachlosen immer geschätzt).
Nur krank werden durfte man nicht. Krankheit verdammte einen zum Tod; die Straße duldet keine Kranken – man wird verlassen, vergessen.
Trotzdem sparte Nadja heimlich, und damit Wadja ihr das Geld nicht abnahm, trug sie es nicht bei sich, sondern versteckte es. An einem unzugänglichen Ort, bei der Bärin. Dorthin brachte sie auch den Kunstband von Matisse.
XXIX
Ihr Leben in der Presnja war in vielerlei Hinsicht mit dem Zoo verbunden. Angefangen hatte es damit, dass Nadja eines Sonntags bei Sonnenaufgang vom Dachboden heruntergestiegen und zum Platz des Aufstandes geschlendert war.
Sie verpasste keinen Sonntagmorgen. Führte ständig einen Kalender, trug auf einem Block Reihen mit Buchstaben und Zahlen ein.
Sie klammerte sich an die Kalendermarken wie ans Leben, und wenn sie einen Tag verpasste – oder nicht sicher war, ob sie einen verpasst hatte oder nicht – war es für sie eine wahre Pein, so sehr quälte sie die Ungewissheit. Die Bindung an die Tage war für sie eine Grundfeste im Leben. Den Sonntag sehnte sie herbei, an ihn dachte sie während der leeren und endlosen Woche.
Nur am frühen Sonntagmorgen zeigte Moskau sein wahres Wesen. Bei Sonnenaufgang ging Nadja in den Pawlik- Morosow-Park, schlenderte über die Wiesen, sammelte eifrig Müll, legte ihn neben die überquellenden Mülleimer. Sie trat hinaus auf die Krasnaja Presnja; die weite Straße eröffnete sich vor ihr als riesenhaftes Parallelepiped von rosa Luft; die Häuser – Reihen gerippter Fassaden, wie der raue Rand einer Muschel – stützten die schwebende luftige Weite. Die helle Pyramide des Hochhauses* ließ die Ferne gewaltig nahekommen. Der Asphalt erholte sich von den tagsüber dahinjagenden, drängelnden Autos. Ein Sprengwagen kroch am Straßenrand entlang und wirbelte mit seinem spritzenden Schnurrhaar Staub und kleinen Müll auf.
Nadja nahm die Abkürzung durch die Höfe, überquerte den Wolkow Pereulok und setzte sich auf eine Bank. Ein hoher Betonzaun umgrenzte eine felsige Insel. Gekrönt wurde sie von einem Berg, der mit zapfenförmigen Lehmhütten, Bienenstöcken und schwarz gähnenden Höhlen übersät war, mit Pfählen und dazwischen gespanntem Tauwerk: Stricken, Hängebrücken, Motorradreifen und an Rohrstücken aufgehängten Tarzanseilen.
Langsam erwachten die Makaken. Sie krochen aus den Hütten, setzten sich an den Eingang, putzten und kratzten sich, erstarrten. Das verschlafene, breite Gepräge ihrer Körper empfing dankbar die ersten Sonnenstrahlen.
Unten in den Gehegen erwachten die Orang-Utans. Langgezogene jaulende Uh-uh-uhs erfüllten die Umgebung.
In den oberen Etagen wurden die Lüftungsfenster zugeschlagen.
Der Pfau schrie, Hyänen gackerten, Gänse schnatterten, Schwäne knarzten, Raubvögel kreischten, Singvögel schmetterten.
Der morgendliche Lärm weckte Nadjas Fantasie. Der kakophone Vielklang durchdrang die durchsichtigen Freudenballons. Sie wiegte den Kopf und seufzte …
Als sie eine Weile gesessen hatte, stand sie unentschlossen auf, lief langsam los, durchquerte die Grünanlage, schaute lächelnd mal auf ihre Füße, mal nach oben, auf das Band des schaukelnden Himmels, schaute die Häuser an, die Fenster, in jedem hätte sie gerne mal gewohnt. Nicht lange, nur ein bisschen, mal ehrfürchtig hineingehen, sich das Leben betrachten, eine Parzelle seiner Heiligkeit – oder vielleicht nicht einmal hineingehen, sondern nur kurz vorbeischauen, mit angehaltenem Atem, wieder hinausgehen, ausatmen, weiterziehen … Und sie ging, glitt am schwankenden Strom der Schaufenster entlang, ein vorbeifahrender Bus berührte plötzlich als Druckwelle die wankende, tiefe Spiegelung, brachte die Ordnung der Straßenwerdung durcheinander: Himmel, Äste fielen nieder, die Straße wogte, stülpte sich auf zu einem Asphaltsee, Bordsteine, Parkumzäunungen zerschlugen, Autos kippten – und Nadja schauderte (plötzlich drehte sich ihr der Kopf und entschwand langsam und unmerklich: wen soll man bitten, schneller zu machen, hilf uns, Tod, langsamer Schritt) und lief dann, wieder eingerenkt, zurückgeschreckt, weiter, lief vergnügt, warum auch immer, wie Wadja, wenn er dem Hausmeister antwortete: »Wir sind Straßenmenschen, Mann. Straßenmenschen, klar?«
Und wieder strebte ihr Atem als Rinnsal aufwärts, in das leere, blendende Blau; wie sehr wünschte sie sich, dass dieses ungreifbare Ausströmen aufhören und sie mit einer leichten Umkehrbewegung erfüllen würde. Sie wusste nicht, wohin sie floss und was da spurlos in ihr verschwand, dafür gab es keinen Namen, nur ein kaltes Ästlein durchzog sie – von der Schulter durch die Brust zur offenen Hand. Langsam zog sie den Faden der Stadt durch sich hindurch, durch die Augen, bis nichts mehr übrig war.
Einmal setzte sich lärmend ein großer grauer Vogel auf einen Baum. Einer seiner Flügel hing herunter. Der Vogel saß da und schaukelte, dann streckte er den langen Hals in die Höhe, blähte den Kropf, nickte – sein furchtbarer Schrei ließ Nadja aufspringen. Wieder nickte der Vogel, blähte den Hals, brüllte und heulte. Als er genug geschrien hatte, flog er hinunter und klopfte mit dem Flügel auf die Erde.
Nadja nahm ihn in den Arm und trug ihn zum Eingang des Zoos. Der Milizionär holte einen Mann mit Brille und Regenumhang. Der ähnelte einer schmuddeligen rostigen Maschine. Sein Brillenbügel war mit Draht umwickelt. Er zog dem Vogel vorsichtig am Flügel. Der Vogel riss sich los, verschwand unter dem Umhang, der Mann half ihm raus und schnarrte mit schreckverzerrtem Gesicht:
»Was guckst du so? Bring die Gans zu Matwejew!«
XXX
Seit Nadja die Rohrdommel hergebracht hatte, war der Zoo ihr Reich.
Der Veterinär Matwejew hatte sie bei den Raubtieren herzlich willkommen geheißen. Ein grimmiger, dicker Trinker, der seinen Hass auf die Menschen durch die Liebe zu den Tieren wettmachte. Von allen Tierpflegern konnte nur er sich im Beisein der Mutter dem Nashornjungen nähern, um es zu untersuchen. Nur er konnte rund um die Uhr bei der Schimpansin wachen, die eine schwierige Schwangerschaft durchmachte. Nadja war er aus irgendeinem Grund zugetan[46 - j-m zugetan sein (высок.) — быть расположенным к кому-либо, быть преданным кому-либо].
Im Zoo zog sie orange Arbeitskleidung an und brachte Futterrüben zu den Gehegen. Sie schob einen kleinen Wagen von Futtertrog zu Futtertrog, packte das lange, kräftige Grünzeug und schleuderte die knorrigen rosa Köpfe hinüber. Gnus, Bisons, Yaks, Wisente, langschnauzige Kulane trotteten verschlafen zu den Trögen, schubsten sich gegenseitig mit ihren grässlichen Mäulern, knirschten und knarzten das saftige Grünzeug. Für die Kropfgazellen musste man die Rüben mit einem Handbeil zerteilen. Nadja schaffte das nicht. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, in welcher Hand sie das Beil halten sollte, und wurde starr vor Anspannung.
Wenn sie mit der Fütterung der Paarhufer fertig war, eilte Nadja zur Bärin. Die lief durch die graue Ödnis des leeren, weiten Geheges und zog die linke Hintertatze nach. Die Bärin war vollkommen kahl und sah aus wie eine nackte alte Frau. Sie war grau wie ein Stein. In der glatten Betonebene sah man sie nicht sofort. Auf Anweisung der Direktion wurde dem Publikum der Blick auf das Gehege durch Sperrholzplatten verwehrt. Das abstoßende, armselige Bild der Bärin war nicht für die Besucher bestimmt. Aus irgendeinem Grund hatte Matwejew verboten, sie einzuschläfern. Dem Direktor gesagt, eher würde er eigenhändig das gesamte Personal einschläfern.
Jeden zweiten Tag gab der Doktor Nadja für die Bärin eine Handvoll Undevit und Vitamin C. Sie zählte die Tabletten sorgfältig nach und notierte sich die Zahl auf der Handfläche.
Nadja hatte von sich aus begonnen, zu der Bärin zu gehen, niemand hatte sie darum gebeten. Es waren hungrige Zeiten, und die Raubtiere im Zoo wurden mit eingeweichtem Soja gefüttert; es gab die Idee, zur Fütterung mit Hundekadavern überzugehen. Streunende Hunde gab es – wegen des Hungers – in rauen Mengen. Die Obdachlosen scheuten sie wie das Feuer. Die herrenlosen Hunde wüteten, da die Müllplätze in der Stadt leer waren. Es gab Gerüchte von Rudeln, die in verfallenen Lagerhallen im Südhafen hausten. Diese Meuten umringten Menschen auf der Straße, drängten sie in die Ecke. Einige Besitzer hatten sich von ihren Rassezöglingen losgesagt. Zuweilen konnte man in den Rudeln bis zur Unkenntlichkeit abgemagerte Rottweiler, Moskauer Wachhunde, sogar Bernhardiner entdecken. Die Abdeckerei auf der Junnatow-Straße, aus der es nach giftigem Chlor roch, hatte dem Zoo angeboten, Hundefleisch zu liefern. Matwejew hatte das Angebot abgelehnt.
Die Bärin aß kein Fleisch. Ohne Schmeicheleien trottete sie auf Nadja zu und schaute ihr in die Augen. Sie hatte keine Zähne, schlürfte und leckte mit vorgestreckten Lippen lustlos das Soja-Gemisch, das Nadja ihr mit einem Holzklötzchen zermalmte.
Wegen des Geldmangels war der Zoo verwaist. Einen Großteil der Tiere hatte man auf Tierzuchtfarmen im Moskauer Umland untergebracht und auf Grasfutter gesetzt. Besucher gab es fast keine – der Anblick leerer Gehege machte keinen Spaß. Nur am Wochenende trafen sich Jugendliche vom Stadtrand im Zoo, setzten sich auf die Bänke und tranken Bier.
Die kahle Bärin streifte durch das Betonbecken. Die herabhängenden Falten, die runzelige Haut, der schmale Kopf, die runden, ledernen Ohren weckten Mitleid, doch der Ekel überwog. Als die Bärin vollends geschwächt war, scheuchte Nadja sie nachts in den hinteren Teil des Geheges, auf einen Zwischenboden, der mit Heu ausgelegt war. Warf ihren Mantel über sie und legte sich daneben. Die Bärin ruckelte herum, näher zu ihr hin. So wärmten sie einander.
Morgens schob Nadja ein Brett zur Seite und schaute nach ihren Ersparnissen. Zählte sie nach, steckte sie wieder zurück und saß dann noch lange verlegen mit rotem Kopf da.
Nachts war es im Zoo unheimlich. Die Bärin schnarchte immer wieder laut auf, wälzte ihren großen schlaffen Körper von einer Seite auf die andere, ihr stinkender Atem streifte über Nadjas Hals. Es war, als würden überall Amphibien aus den Terrarien herumkriechen. Nadja hatte gesehen, wie eng zusammengedrängt die Schlangen lebten – in Pappkartons mit Glühbirnen. Klar, dass sie ins Freie krochen, wenn es dunkel war. Schakale heulten, Yaks keuchten und stießen Dampfwolken aus, die den Nebel, der ihnen bis zu den Knien stand, in Wallung brachten. Zebras rannten trappelnd von einer Ecke in die andere und donnerten gegen die Stangen der Einzäunung. Enten rackerten wie bekloppt am Wasser. Otter spritzten herum. Walrosse schnauften. In den Futtertrögen raschelten und schmatzten Hamster – Hamster gab es im Zoo überall, Ratten gar nicht.
Bei ihrer letzten Übernachtung im Zoo überfiel Nadja in der Morgendämmerung Schüttelfrost. Sie öffnete die Augen. Es war still. Durch die Ritzen glomm dämmernd der graue Himmel.
Sie schlug den Mantel zurück und schaute sich um. Den ganzen ungestalten kahlen Körper entblößt, lag die Bärin mit starren feuchten Äuglein ausgestreckt auf dem Rücken.
Die Lippen waren nach oben gereckt, als suchten sie den Futternapf. Mit der Zeit erschlafften sie und öffneten sich zu einem Lächeln.
Matwejew zerlegte die Bärin als Futter für die Wölfe und Hyänen.