banner banner banner
Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
Оценить:
Рейтинг: 0

Полная версия:

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

скачать книгу бесплатно

Nadja, die Unterlippe eifrig vorgereckt, half Wadja auf, führte ihn auf den Dachboden. Sie legte ihn hin, schmierte Taubendreck auf seine Schürfwunden und Prellungen.

Dann sah sie um sich. Sprang auf. Rieb verbissen die Blutspuren von der Wand am Dachfenster, mit Kies, Sand und Taubendreck, und zerkratzte sich dabei die Hände.

In der Nacht kamen die verschreckten Tauben zurück.

Gegen Morgen wurde es frostig, und an der Wand, zu der sich Nadja gedreht hatte, bildete sich ein kleiner Reiffleck.

Als sie aufwachte, tastete sie auf dem Bauch nach Matisse und schaute lange auf den nadeligen Stern, der in der schwelenden Morgendämmerung erglüht war.

XVII

Weder damals noch später unterschieden sie bei diesen Ereignissen Recht und Unrecht. Sie standen auf der Seite des Leides.

Überhaupt drang alles, was mit ihnen und um sie herum geschah, nicht bis in ihr Inneres vor, war etwas ihnen Fremdes, Aufgezwungenes. Alles Schlechte löste aus irgendeinem Grund bei ihnen Schuldgefühle aus. Das betraf in erster Linie Nadja. Wadja rebellierte von Zeit zu Zeit und schlug aus. Doch jedes Mal fühlte er sich am nächsten Morgen von Scham zerdrückt.

Wadja liebte die abstrakte Idee einer vom Volksgeist angezettelten Revolte. Koroljow hörte Wadja aufmerksam zu, hing derweil lächelnd irgendeinem eigenen besonderen Gedanken nach. Wadja fragte sich nicht, wer an dem Aufstand teilnehmen und wer ihn anführen würde und warum das Militär ihn eigentlich nicht sofort niederschlagen würde. Solche Details wusste Wadja ja selbst nicht. Er malte die Revolte aus mit Segmenten von Ungesagtem und Verweisen auf Unbekanntes. Besonders lange erzählte er von der Odyssee eines meuternden, mit mächtigem Geschütz ausgestatteten und uneinnehmbaren Schiffes, das unterwegs war, um – von der Peripherie zum Zentrum – im Menschen den gerechten Zorn zu entfachen.

Genauso sprach er auch über Ufos – ein weiteres Thema, das als mächtiges Nichts seine Fantasie peinigte. Neben vielen Fragen, die das Schweigen vermehrten, gab es bei Wadja auch einige Thesen:

a) Unser Staat verfügt über eine Mega-Geheimwaffe von derartiger Schlagkraft, dass, nachdem die Welt von ihr erfahren hat, überall das fette Leben Einzug halten wird. b) Bei der Revolte ist der Moment zu nutzen, wenn die Geschäfte geplündert werden (Mitzunehmen sind nur lange haltbare Lebensmittel wie Grieß, Salz, Konserven, Öl). c) Mit den Vorräten möge man sich in die Wälder von Brjansk aufmachen, bei Liwny, und nach den Orten suchen, an denen die Partisanen im Krieg ihre Stellungen hatten. Man möge die einstigen Lager und Erdhütten beziehen und dort auf die Zukunft warten. d) Die endgültige Zukunft war für Wadja untrennbar mit einer außerirdischen, vielleicht gar himmlischen, jedenfalls nicht näher definierten Großmacht verbunden, die sich mit den Führungsriegen der Revolte vereinigen würde, die zu diesem Zeitpunkt Begleiterscheinungen wie Finsternis und Gewalt bereits überwunden hätten.

Koroljow, dem klar war, dass er mit seinen aufgeklärten Gedanken kaum weiterkam als Wadja mit seinen barbarischen, antwortete folgendermaßen:

»Und ich sag dir, ein äußerer Aufstand bringt nichts. Der Aufstand muss im Inneren sein, nach innen gerichtet, und so durchschlagend, dass sich die Gedärme geradebiegen. Nur dann haben wir die Chance, zu unseren eigenen Kindern zu werden, zu Kindern unserer Idee: Wenn wir uns trauen, andere zu werden.

Die Straße

XVIII

Von da an hatten sie die Presnja in ihr Herz geschlossen. Dieses Moskauer Stadtviertel erwies sich als segensreicher Ort. Die Straßen wandelten sich zwar immer mehr zum Oberdeck eines Luxusliners (überall eröffneten teure Geschäfte und Restaurants, entlang der Uferstraße schossen Casinos, Bars, Lasterhöhlen aus dem Boden – da zeigte sich der von den staatlichen Behörden in dieses Viertel gelockte fette Prunk), dennoch gab es, tief drinnen, ein geräumiges Unterdeck für die dritte Klasse, eine Ladefläche, einen Kesselraum.

Schlafplätze fanden sich fast überall.

Sie schliefen im Planetarium, das wegen Umbau geschlossenen war. In der Kuppel klafften Löcher, durch die funkelnder Schnee herabrieselte. Im kelchförmigen Auditorium türmten sich die herausgerissenen Stuhlreihen. Über dem Podium schwebte der stromlose, lädierte Sternenhimmel, der einem gigantischen Tannenzapfen ähnelte. Mäuse raschelten in den schneeverwehten Ecken zwischen vergessenen Nebelfleckkarten.

Oder sie schliefen in ausrangierten Postzügen, die am Weißrussischen Bahnhof auf den Entladegleisen herumstanden. Ein wunderbarer Ort. Sie übernahmen das Heizen der Samoware in den Personenzügen, sammelten vor der Lagerhalle Kohlestückchen auf und brachten diese dann auf einem klapprigen Wägelchen zu den Schaffnern in die Waggons – für einen Laib Brot, für bahneigenen Weißzucker, für ein Kilo Kartoffeln.

Oder sie schliefen im Heizraum des Museums der Revolution von 1905*. Einer der Museumswächter, der nach einem komplizierten Dienstplan zur Schicht antrat[34 - zur Schicht antreten – заступить на работу, заступить на смену], dessen Berechnung Koljanytsch selbstlos übernahm, war ihnen zugetan wie ehrbaren Museumsbesuchern.

Diese Nächte waren interessant und gut für Nadja. Wenn der Alte wieder Dienst hatte, kam Koljanytsch sie suchen, denn er wusste, dass der ein anständiges Publikum brauchte.

Fiks, so hieß der Wachmann, sah aus wie ein Tragejoch und verfügte über schauspielerisches Talent. Nachdem er seine Ration runtergekippt hatte, wartete er ungeduldig, bis auch seine Gäste in Fahrt kamen[35 - in Fahrt kommen (разг.) – войти в раж, разойтись], dann ließ er sie die Schuhe ausziehen und scheuchte sie zur Führung.

Zahnlos vor sich hin nuschelnd führte er sie durch die Museumsräume, immer wieder erfasst von brummelnder Verzückung. Wie ein Kind, das versucht, die Redeweise der Erwachsenen nachzuahmen, entbrannte er selbstvergessen im revolutionären Eifer einer Museumsführerin, die sie nicht kannten.

Schlapp von Hitze und Alkohol standen sie da und hörten dem schmuddeligen Alten in seinen karierten Pantoffeln ergeben zu. Der schwache Koljanytsch döste oft ein. Wadja versetzte ihm eine Kopfnuss[36 - j-m eine Kopfnuss versetzen (разг.) – дать кому-либо подзатыльник], woraufhin er einen Schritt vorwärts stolperte, aber danach hielt er sich wieder rund fünf Minuten lang aufrecht.

Dass sie hier bei dem verrückten Alten standen, war ihr Tribut für den warmen, sauberen Schlafplatz vor der Geräuschkulisse aus Hurrarufen, Schüssen, Salven und den klappernden Hufen der Kosakenhundertschaft, die vom Diorama der brennenden Presnja* kamen und dem Alten wie Engelsstimmen in den Ohren klangen.

»Fix, fix!«, sagte der Wachmann und winkte sie weiter, wenn er zum nächsten Teil der Ausstellung übergehen wollte.

XIX

Im Georgischen Viertel* standen zu dieser Zeit noch kleine, hundert Jahre alte Villen, Bürgerhäuser aus Holz mit steilen Außentreppchen. Einige von ihnen wurden als Aktenarchive oder Ersatzteillager der Wohnungsverwaltung genutzt, die restlichen standen leer. Eines dieser leeren Häuser befand sich in der Malaja Grusinskaja und war nur deshalb verschont geblieben, weil es von einem Hund bewacht wurde.

Irgendein Beamtenmensch von der Bezirksverwaltung hatte dieses Haus fürs Erste für sich beansprucht und im Hof eine gigantische Hundehütte aufgestellt, aus der, wie man bei ihrem Anblick meinen sollte, jeden Moment ein Bär mit glühenden Pflastersteinen in den Pranken herausspringen konnte.

Tatsächlich kam daraus ein Rottweiler hervorgeschossen und warf sich mit seinen ganzen vier Pud gegen den Maschendrahtzaun. Die Lefzen des Hundes besabberten das Zinkgeflecht, die Luft dröhnte, klirrte, bebte.

Nadja hatte vor Viechern keine Angst, und der Hund leckte ihr die Hände, während Wadja sich ängstlich vorbeischlich, die Außentreppe hochstieg und nach dem Klingeldraht tastete; auf das blecherne Klirren hin flog die Tür auf, und ein scheuer Schatten ließ sie mit dem Wind und einem Schwung wirbelnden Schneegestöbers hinein. Sie stapften die kalte Treppe hinauf in ein kaltes Zimmer, wo einige kaputte Stühle oder Kisten, die sie in einen kleinen Bollerofen warfen, eine halbe Stunde später den Luftklotz auftauten, die Fingerzweiglein, das Geäst der Arme, den verschachtelten Käfig aus ungeschickten Umschlingungen.

Aber dann wurde der Hund vergiftet und ihr Platz entdeckt.

Zuerst kämpfte Wadja gegen die Eindringlinge: Sie erwiesen sich jedoch als stärker. Doch bald darauf brannte das Haus sowieso ab. Und Koljanytsch mit ihm, der hatte es nicht mehr rausgeschafft; seine Kumpels kriegten ihn nicht wach, überall Rauch und Dunkel, die Flammen kriechen schon über die Wände, wie sollen sie ihn denn tragen?

Das war Ende November gewesen. Hoch über der Presnja glühte an diesem Morgen ein himbeerfarbener Sonnenaufgang. Und dann begann es zu schneien. Wie eine Ohnmacht.

Das Feuer wurde schon gelöscht, als sie ihr Haus verließen und die Straße zum Weißrussischen Bahnhof hinaufgetrottet kamen. Dort wartete am Blumenmarkt Arbeit auf sie: Abfälle aussortieren, nach draußen schaffen, auf einen Karren laden und zum Müllplatz am Frachtbahnhof bringen.

Der Schnee fiel in den Krater des verkohlten, qualmenden Hauses.

Die Feuerwehrleute rauchten. Nur einer hockte mit dem Schlauch an die Brust gepresst da und führte den Wasserstrahl hin und her, spritzte die Mauern ab. Wadja kramte eine Papirossa hervor und ging zu ihnen hin.

»Ist wer verbrannt?«, fragte er und ließ sich Feuer geben.

»Einen Ver-verkohlten gibt’s. Einen v-v-von euch«, stotterte ein dreckverschmierter Feuerwehrmann.

Wadja nickte und ging weiter. Nadja betrachtete gerade die Schneeflocken, die in ihrer Armbeuge gelandet waren. Sie hob den Arm, drehte ihn hin und her, um den Augen verschiedene Blickwinkel zu bieten, und freute sich an den glitzernden Fünkchen.

Sie hatte heute schlecht geschlafen. Hatte sich im Schlaf von einer Seite auf die andere geworfen, er hatte ihren Ellbogen an die Schläfe bekommen. Aber daran war er ja gewöhnt. Schon früher hatte es ihn nicht gestört, nur erschreckt. Jetzt aber war es eigentlich gar nicht mehr schlimm, kurz, er hatte sich daran gewöhnt – so dachte Wadja bei sich, und der Gedanke erfüllte ihn mit Zufriedenheit.

Die Menge der Gaffer zerstreute sich allmählich, aber es kamen immer wieder Neue: Ihre Gesichter bebten. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht, merkte Wadja, er sah plötzlich schlechter, und dann kippte alles jäh ins Weiße, die Augen fühlten sich seltsam an, schmerzten, und eins nach dem anderen verschwammen die Gesichter der Passanten.

Der Wasserstrahl schlug los, zischte, zerschnitt die Luft, brach verbrannte Scheite aus den Fensteröffnungen und Rahmen. Ringsum glich ein Gesicht dem anderen: Alle, die in die Feuersglut sahen, hatten denselben, gleichsam verkohlten Gesichtsausdruck. Ihre Lippen bewegten sich; sie liefen nicht weiter, sondern rückten zu einem Halbkreis zusammen, drängelten. Irgendwo ertönte Wehklagen, eine Frau schluchzte, die Menschen setzten sich wieder in Bewegung, nickten dabei. Wadja machte einen Schritt; da erschien im Reigen der Gesichter und Augen am Himmel, der als Dreieck wegkippte, über der Fläche der qualmenden Mauer Tante Oljas Gesicht und glitt vorbei. Sie sah ihn bekümmert an, mit einem traurigen, verstörten Lächeln, und löste sich dann in der Menge auf. Da verfiel Wadja in Laufschritt. Nadja kam ihm gerade noch hinterher und hängte sich bei ihm ein.

XX

Sie mieden die Straße so gut es ging, ganz umgehen konnten sie sie aber nicht: Die Straße war ihre Ernährerin. Von den großen Kellergemeinschaften hielten sie sich allerdings fern. Dort musste man sich wohl oder übel anpassen: Ab einer bestimmten Anzahl Menschen (wie viele, das hing von ihren jeweiligen Eigenschaften ab) verfestigte sich immer die Gewalt der Macht. Wadja aber liebte die Freiheit, für sich und für andere. Er liebte sie nicht intuitiv, nicht einfach so, und eben diese erarbeitete Freiheit, die für Nadja unerreichbar war, schätzte sie an Wadja – und er war für sie die letzte Stütze im Leben[37 - j-m die letzte Stütze im Leben sein – быть кому-либо последней опорой (поддержкой) в жизни].

In jeder Gemeinschaftsbehausung fanden sich zwangsläufig ein oder mehrere Bosse, die einen Tribut von den Tageseinnahmen forderten. Das geschah am Ende des Tages, wenn sich alle um den gemeinsamen Pott versammelten und jeder darin versenkte, was er am Tag erbeutet hatte.

Wadja und Nadja konnten kaum etwas beisteuern. Sie bettelten nur selten, wenn sie Geld für eine Reise oder für Medikamente brauchten. Oder Wadja für Hochprozentigen, wenns hart auf hart kam (Nadja trank nicht und schimpfte dann mit Wadja, aber sie half ihm trotzdem). Also dachte sich Wadja wieder Märchen aus, für die er immer Zuhörer fand.

In den Gemeinschaftskellern lebte es sich nicht schlecht: Es gab Sofas, Klappbetten, Teppiche, die Wände waren mit Zeitungen und alten Plakaten beklebt. Aber die Bosse und das Ungeziefer vergällten ihnen die Wärme der Gemeinschaft. Für die meisten war das einzige Ziel des Tages, sich am Abend zu betrinken – oft bis zur Bewusstlosigkeit. Einmal wurde Nadja bei einer ihrer Übernachtungen dort von einem klackernden Geräusch direkt neben ihrem Ohr geweckt. Sie öffnete die Augen. Vor ihr saß eine riesenhafte Ratte: glattglänzend, größer als eine Katze, ohne Augen. Die Ratte putzte sich. Dann setzte sie sich in Bewegung, schabte und klackte mit den Krallen über den Betonboden und zog dabei die Hinterbeine nach. Ganz wie Tjorka vom Sawjolowo- Bahnhof, der fette Invalide ohne Beine, der keinen Rollstuhl hatte.

In der Presnja, besonders in den Georgischen Straßen und im Tischinski-Viertel*, gab es genügend ergiebige Müllplätze. Dort ließen sich gute Anziehsachen finden, manche hatten nur kleine Flecken oder aufgeplatzte Nähte, andere waren sogar noch ganz neu. Mit Kleidung waren sie also versorgt. Einmal entdeckte Wadja in der Tasche eines erbeuteten Jacketts ein schweres Zigarettenetui und eine Sonnenbrille.

Nadja hatte ihn nicht gleich erkannt. Sie klopfte ihm auf die Schulter und sagte lachend:

»Du Künstler!«

Unter den Obdachlosen galt es als das große Los[38 - das große Los – джек-пот, главный приз лотереи, главный выигрыш], wenn man in einer Mülltonne oder an einer Bushaltestelle von Taschendieben weggeworfene Dokumente fand. Dann konnte man auf einen Finderlohn des Besitzers hoffen, falls dieser sich noch keine neuen Papiere besorgt hatte.

Und einmal fand Nadja einen Sonnenschirm. Sie spazierte damit herum, als hielte sie einen Luftballon an einer Schnur: Sie hob den Ellbogen und schaute immer wieder von der Seite auf das luftige Seidenkonstrukt. Und Wadja sah großtuerisch zu ihr hin.

Die Mutter*

XXI

Vor ihrem Tod war die Mutter aufgelebt. Früher hatte sie immer nur geschimpft. Jetzt gab sie Ratschläge. Seit der Lähmung konnte sie schlecht sprechen, sie nuschelte mit tauber Zunge, und Nadja, die sie nicht immer gleich verstand, lachte manchmal und erklärte dann der Mutter, was falsch war und warum.

»Es ist Oktober, lauf nicht mit offener Jacke herum. Sei nicht so eitel! Bind dir was um den Kopf!«

»Benutz deinen Grips. Lass dir nichts einreden.«

Die Mutter gab eine knappe Anweisung, dann verstummte sie und dachte sich die nächste aus.

»Vergiss nicht: Gute Männer gibt es nicht. Halte dich an die, die nicht böse sind.«

Die Mutter war krank geworden, kaum dass sie ihr neues Zimmer bezogen hatten. Sie waren nach Pskow gezogen, weil dort ihre einzige Verwandte lebte, Mutters Cousine zweiten Grades. Wie sich herausstellte, war die Tante aber selbst in Not: Bei ihrer Scheidung war der Besitz geteilt worden, und so konnte sie ihnen keine Hilfe sein.

Nadja und ihre Mutter waren mit leeren Taschen aus Aserbaidschan gekommen: Ihre Wohnung in einem Vorort von Baku war nichts wert gewesen. Die Gesundheit der Mutter hatte in dieser schweren Zeit sehr gelitten – anfangs hatten sie die Nächte mal im Arbeiterwohnheim verbracht, mal am Bahnhof oder im Kloster, das gerade renoviert wurde. Die Tante kam und weinte sich bei ihnen aus: Sie hatte keine Kinder bekommen, und nach acht Jahren des Wartens war ihr Mann nun unerbittlich.

Die Mutter klapperte die Schulen und Kindergärten ab, aber ohne polizeiliche Anmeldung[39 - die polizeiliche Anmeldung (юр.) – прописка, ргистрация в полиции по месту жительства] bekam sie nirgendwo eine Arbeit. Sie wollte schon zurück nach Aserbaidschan. Da herrschte zwar auch Finsternis, aber die eigene, vertraute, man könnte sogar sagen: sonnige. Und da war das Meer. Am Meer ist alles leichter.

Dann startete das Sozialamt endlich ein Programm für Flüchtlinge, und sie zogen in eine Kommunalwohnung.

Obwohl Nadja eine Ausbildung am Technikum gemacht hatte, wollte sie niemand. Ihr Gesicht, das noch die Spuren der Schwachsinnigkeit trug, die die Mutter mit unmenschlicher Kraftanstrengung besiegt hatte, sicherte ihr bereits an der Türschwelle den Ruf der Bekloppten.

In der Wohnung lebten noch zwei weitere Parteien. Direkt neben ihnen hauste eine leise, pingelige Oma mit Papageien, die oft durch die ganze Wohnung flatterten, und einem Raben, der aus ihrem Zimmer stolziert kam, Jaschka hieß und so groß war wie ein Huhn. Die Alte erschien regelmäßig bei ihnen zu Kontrollbesuchen:

»Pardon, sind meine Vögel vielleicht bei Ihnen?«

Der Rabe konnte sprechen. Er hüpfte in der Küche aufs Fensterbrett, pickte auf die Geranie ein und krächzte: »Seid bereit! Immer bereit!«

Das andere Zimmer bewohnten zwei Alte, die täglich laut darüber stritten, ob ihr Sohn sie heute besuchen würde oder nicht. Manchmal hatten ihre Dispute wahre Sprengkraft. War in ihrem Zimmer wieder Ruhe eingekehrt, rollten polternd leere Flaschen über den Fußboden.

Die Mutter erlitt einen Schlaganfall[40 - einen Schlaganfall erleiden (мед.) – перенести (апоплексический) удар], sie war ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und verschied.

Vor ihrem Tod wurde sie unruhig. Sie rief ihre Cousine zu sich (Nadja war heulend, mit offener Jacke durch den Schnee gerannt, um sie zu holen), küsste ihr langsam die Hände und bat sie, sich um ihre Tochter zu kümmern.

Die Cousine jammerte, weinte und ging schnell wieder. Die Mutter trocknete sich die Tränen und gab ihrer Tochter zwei Tage lang Anweisungen:

»Lass dich nicht gehen! Dann gehts nur bergab.«

»Rechne! Rechnen ist wichtig. Weißt du noch, was ich dir mal über Pythagoras vorgelesen habe? Er hat auch die ganze Zeit gerechnet.«

»Sei vorsichtig mit dem Gas. Wenn du rausgehst, schau immer nach. Und lass nie Petroleum im Zimmer.«

Mutter starb lange. In Wellen. Wimmerte. Warf ständig die Bettdecke weg. Nadja verstand das alles nicht. Sie hob die Decke auf, deckte die Mutter zu. Und nochmal. Der große, schlaffe Körper der Mutter wurde von Krämpfen geschüttelt. Wieder hob Nadja die Decke auf.

Als sie still wurde, stülpten sich die Lippen vor und erschlafften.

Aus den starren Augen flossen Tränen.

Nadja hat ihre Mutter nie geküsst.

XXII

Sie hatten in der Presnja ein paar regelmäßige Beschäftigungen. Unter anderem sahen sie bei der provisorischen Gedenkstätte für die Toten des Oktoberaufstandes nach dem Rechten[41 - nach dem Rechten sehen – следить за порядком].

Das kam so. Einmal im Frühling, am Totensamstag, hatten sie sich seit dem frühen Morgen auf dem Wagankowo-Friedhof herumgetrieben. Wadja war von Zeit zu Zeit zum Armenischen Friedhof auf der anderen Straßenseite gelaufen, in der Hoffnung, auch dort irgendeinen Handlangerdienst zu ergattern. Gegen Mittag brach Nadja ein paar Birkenzweige und schlich sich damit zu den verlassenen Gräbern. Sie fegte mit den Zweigen das Laub vom Vorjahr weg, riss das vertrocknete Unkraut aus, ging, mit verschämtem Gesicht leise vor sich hin flüsternd, zu den üppig geschmückten Gräbern und holte von dort Pralinen, Gebäck, Eier und künstliche Blumen.

Da wurde die Friedhofswärterin auf sie aufmerksam.

»He, was machst du da, elendes Weib?«, schrie die Frau sie über den Grabzaun an.

Nadja war vor Schreck ganz aufgeregt und machte tiefe Verbeugungen.

Die Frau arbeitete noch nicht lange dort als Wärterin und machte so ein Geschrei, damit die Wachleute es hörten, damit sie sahen, wie gewissenhaft sie arbeitete.

Aber als sie ernsthaft in Fahrt kam, wandte Nadja sich zu ihr um und brüllte:

»Sachla*, Schluss jetzt! Sachla!« Wenn Nadja aufgeregt war, rutschten ihr immer aserbaidschanische Wörter heraus.

Dann kam einer der Wachleute, ein kräftiger junger Mann in Militär-Camouflage, rief die verschreckte Nadja zu sich, ging zusammen mit ihr zu Wadja, gab ihm Zange, Schaufel, eine Rolle Stahldraht und ging mit ihnen zum Weißen Haus.

Im Park hinter dem rechten Gebäudeflügel, bei den Ausgängen, an denen die meisten Menschen von Scharfschützen getötet worden waren, standen Tafeln mit roten Wimpeln, voller Fotos, dazu kurze Texte, wie und wo derjenige umgekommen war, außerdem unansehnliche Zäune, die mal ein bemaltes Eisenkreuz, mal ein geschnitztes Holzkreuz mit Dach umgaben. Daneben verstaubte Kränze, Tafeln mit Informationen über die Oktoberereignisse, Gedenkfotos, Namenslisten und Biografien der Toten. Alles zusammen erinnerte an einen kleinen Dorffriedhof.

Wadja grub die Beete um, Nadja harkte das Gras, lockerte die Erde auf. Männer mit Trauerbinden am Arm und Frauen in schwarzen Kleidern sprachen leise miteinander, raschelten mit Plastiktüten und machten sich an den Tafeln zu schaffen.

Von da an gingen sie hin und wieder dorthin, um nach dem Rechten zu schauen, etwas auszubessern, herzurichten, zu befestigen. Nadja machte ringsum sauber, klebte die Fotos fest. Wadja richtete die improvisierten Mahnmale her, nagelte Folien an, zog mit schwarzer Farbpaste die Buchstaben auf den Listen nach, die übers Jahr verblichen waren.

Einmal hatte Wadja eine Idee, er holte sich Bretter von einer Baustelle, zimmerte Holzböcke, wickelte ein Stacheldrahtgeflecht darum, steckte ein paar Rohre hinein, befestigte noch Aluminiumfetzen daran – und kroch dann den ganzen Tag auf den Knien drumherum, band Fetzen einer roten Fahne an den Stacheldraht, spießte Alufolie auf und steckte einige abgeknickte rote Nelken in das Konstrukt, die er sich bei den befreundeten Blumenhändlerinnen am Weißrussischen Bahnhof zusammengesammelt hatte.

XXIII

Nadja konnte sich nur an unbedeutende Dinge gut erinnern. Sie wusste beispielsweise noch genau – sie brauchte nur die Augen zu schließen – wie das Brillenetui ihrer Mutter innen gerochen hatte: Es war der gleiche herrliche Geruch nach gegerbtem Wildleder wie in dem Sportgeschäft in ihrer frühesten Kindheit, in einer Kleinstadt am Kaspischen Meer. Sie waren in der sengenden Hitze zum Uferpark gelaufen (aufreizender Jodduft des blutheißen Meeres, schwerer Harzgeruch der von der Sonne aufgeheizten Zypressen). Nach der glühenden Straße, auf der der Asphalt klebrig-zäh unter den Sohlen nachgegeben hatte, war das Geschäft eine selige Wohltat, angefangen mit der Kühle und eben diesem erregenden Geruch. Später spazierten sie gebannt durch die beiden betörenden Verkaufsräume voller Sportartikel: Da gab es einen Billardtisch, eine Tischtennisplatte, einen Boxsack, einen Korb voller Seilknäuel und schließlich eine Box mit steil abfallenden Seiten und bordeauxrotem Samtbezug, an dem, wie bei einer Vogelscheuche, Tuchärmel herabhingen (wie die Ärmelschoner eines Buchhalters ohne Kopf), die an den Bündchen von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Es war eine Box, in der man blind Filme bearbeiten konnte. Besonders faszinierend waren die Backgammonspiele, Schachbretter und Federballsets in den Regalen. Wunderschöne gefiederte Korken, die sich als weißer Bogen beflügelter Fantasie zwischen schallenden Schlägern drehten, erbebten und beim Aufprall seufzten, ganz sanft, wie rauschende Federn beim Auffliegen in den Himmel. Nadja erinnerte sich noch daran, wie die Mutter ihre Versunkenheit von hinten an der Schulter gepackt und vom Einschlummern weggeführt hatte, zum hinteren Ausgang Richtung Meer.

Vor allem aber wusste sie noch, was sie so hineingezogen hatte in das Innere dieses Wildledergeruchs, langsam und unausweichlich wie eine Sonnenfinsternis: Es war eine Sonne, die da lockte, ein herrlicher, lederner, wie die Antarktis weißer und geheimnisvoller, im Parkettglanz erstrahlender Volleyball.

XXIV

Schlimm war, dass sie nicht wusste, wo der Mensch aufhörte. Sie ahnte, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war, dass es doch dann egal war, wer man war. Dass sie die Grenze nicht bemerken würde. Besser gesagt, wenn sie sie überschritten hätte, wäre es ihr längst egal. Aber genau da lag die Angst, weil man vollkommen wehrlos war – da half kein Schlagen oder Beißen. Oder vielleicht war die Angst doch ein bisschen woanders. Aber wem sollte man sagen, was sich nicht ausdrücken ließ? Wadja hörte ihr zu, verstand sie aber nicht. Verstand nicht, wie es schlimmer werden sollte als ohnehin schon. Und sie wusste es auch nicht.

Sie brauchte das Reden: dass man ihr etwas erzählte, sie nach etwas fragte. Ihr ganzes Leben lang hatte die Mutter mit ihr geredet. Immerzu. Hatte vorgelesen, gesprochen, erzählt, diskutiert. Hatte sie dazu gebracht, Bücher zu lesen. Nadja fiel das alles schwer. Sie konnte kaum antworten. Die Qual, sich auszudrücken, saß in ihr wie ein sengender, wunder Klumpen. Die Wörter existierten gleichsam getrennt von ihr. Sie behagten ihr nicht, weil sie nie dem ähnelten, was sie eigentlich waren.

Schlimm war, dass sie die Grenze nicht bemerkte. Wadja redete mit ihr. Er redete, hörte aber nicht zu – und wollte auch eigentlich gar nicht, dass sie redete. Er sang auch manchmal. Aber das reichte nicht. Es brauchte das systematische Vorgehen, mit dem die Mutter sie immer wieder aus dem Nichtsein herausgezerrt hatte.