скачать книгу бесплатно
„Nein!“, protestierte Bianca und schlang ihre Arme schützend um die Stute. Erschrocken bäumte sich das Fohlen auf und zog Bianca mit sich in die Luft.
„Ja!“, antwortete einer der Männer. „Sie ist gefährlich. Ein gefährliches Pferd hilft doch niemandem.“ Er wandte sich seinen Begleitern zu, und obwohl sie nicht ausmachen konnte, was sie leise zueinander sagten, wusste sie doch, dass sie beschlossen, das Pferd einzuschläfern.
„Clay!“, rief sie und klang jetzt verzweifelt. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie wieder vom harten, frisch gefegten Betonboden aufstand. „Sie hat doch nur Angst! Sag es ihnen! Sag ihnen, dass sie sie retten müssen! Ich werde sie in meiner Freizeit trainieren, nur bitte, gebt ihr eine Chance!“ Doch schon als sie die Worte aussprach und sich dieser Sache verschrieb, spürte sie einen Stich im Herz. Würde sie wirklich die Zeit mit ihrer Schwester dafür opfern? Würde Annie es denn verstehen?
Clay stand vor der Boxentür und winkte sie zu sich. Es kostete sie größte Überwindung, sich umzudrehen und von dem Pferd wegzugehen, sie allein ihrem Schicksal zu überlassen, doch sie folgte Clay ein paar Meter weiter in eine leere Box, wo sie relativ ungestört reden konnten.
„Warum willst du sie unbedingt behalten?“, fragte er. „Sie ist gebrochen. Es wäre wohl das beste, sie von ihrem Elend zu erlösen.“ Er lehnte sich lässig gegen die Wand, einen Fuß gegen den anderen Knöchel gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Wenn sie nicht so aufgebracht wäre, hätte sie ihn nur zu gerne beobachtet, so wie er hier vor ihr stand. Er sah so autoritär aus, als hätte er alles unter Kontrolle und sah dabei so unglaublich gut aus.
„Ich kann es nicht erklären“, antwortete sie. „Ich weiß nur, dass ich sie brauche. Es ist so, als ob wir aus einem bestimmten Grund hier sind. Wir sind beide gebrochen. Wir müssen beide heilen und wir beide brauchen eine Chance.“ Sie sah ihn mit großen, runden Augen an und hoffte, dass er sie verstand. „Du hast mir eine Chance gegeben, Clay, bitte gib ihr auch eine!“
Clay sah sie ein paar Minuten lang stumm, gedankenverloren an und nickte dann einmal. „Okay“, sagte er. „Ich versuche es. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde es versuchen.“
Als Bianca zurück in die Box trat, um noch etwas mehr Zeit mit dem Fohlen zu verbringen, sprach Clay leise mit seinem Vater und führte dann die Besitzer ins Büro im Halbgeschoss. Sie nahm die Bürste auf und machte sich wieder daran, das Blut aus dem Fell zu bürsten und drückte die Daumen, dass alles gut wurde.
* * *
Annie lag im Bett, als Bianca am Abend nach Hause kam; sie hatte nicht einmal die Kraft gehabt, aufzustehen. Tränen stiegen ihr in die Augen, als Bianca von Rose erzählte und das Schicksal, das sie vermutlich erwartete.
„Du kannst sie retten, Bee“, versicherte Annie ihr. „Wenn irgendjemand dem Pferd helfen kann, dann bist du es.“
„Aber das heißt, dass ich weniger Zeit mit dir verbringen kann“, flüsterte Bianca und die Schuld drohte sie zu ersticken.
Annie lächelte nur schwach. „Ich bin immer bei dir“, flüsterte sie. „In jeder Sekunde eines jeden Tages bin ich an deiner Seite, genau hier, in deinem Herz.“ Der starke Griff, mit dem sie Biancas Hand hielt, täuschte über ihre Schwäche hinweg, doch der Schmerz war deutlich in ihren Augen zu sehen.
„Hast du‘s bequem?“, fragte Bianca, obwohl sie wusste, dass sie es alles andere als gemütlich hatte und dass Bianca auch nichts dagegen tun konnte, um ihr zu helfen. Wenn es möglich wäre, würde sie den Schmerz ihrer Schwester wegzaubern oder ihn zumindest selbst tragen, doch nichts davon war möglich.
„Ich bin okay“, versicherte Annie ihr. „Ich spreche morgen mit den Schwestern, damit sie meine Schmerzmitteldosis erhöhen.“
Bianca zog die Stirn kraus, sagte jedoch nichts. Sie wusste, dass Annie es hasste, wenn sie Wirbel um sie machte, aber es war eben schwer zuzusehen, wie die Person, die man am meisten liebte, Schmerzen hatte.
In dieser Nacht schlief sie wieder in Annies Bett und hielt ihre Schwester, als diese im Schlaf vor Schmerz stöhnte.
Bianca schlief kaum in der Nacht. Sie hörte ihren Vater gegen Mitternacht nach Hause kommen nach einer weiteren Nacht, in der er versucht hatte, seine Sorgen zu ertränken. Die Erkrankung seiner Tochter hatte ihn schwer getroffen – nach all den Jahren, in denen er alleine für sie gesorgt hatte, verlor er jetzt eines seiner kostbaren Mädchen. Und was es noch schlimmer machte, war, dass er absolut nichts dagegen tun konnte. Bianca wusste, wie sehr es ihn schmerzte, dass er Annie nicht helfen konnte und wusste besser als jeder andere, wie hart er dafür gekämpft hatte. Wie viele zusätzliche Therapeuten er aufgesucht, wie viele Onkologen sie besucht und wie oft er sie ins Krankenhaus gefahren hatte. Nichts hatte geholfen. Sie hatte tapfer gekämpft, doch ihre Zeit war bald gekommen, denn ihr Kampf würde bald zu Ende sein.
Sie wischte sich mit der Bettdecke ihrer Schwester die Tränen aus den Augen und schlief leise weinend ein.
* * *
Am nächsten Morgen waren ihre Tics schlimm. Die Müdigkeit gepaart mit Gefühlschaos sorgte dafür, dass sie fast ständig ticcte. Und um alles noch schlimmer zu machen, waren jetzt auch ihre vokalen Tics wieder da. Das Räuspern war halb so wild – das machte schließlich jeder – aber die Echolalie war ein Problem. Bisher hatte sie die Worte nur lautlos wiederholt, doch sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie Worte laut wiederholen musste, die in ihrer Gegenwart gesprochen wurden, wenn ihre Tics weiter so eskalierten. Was würde Clay dann denken? Würde er ihr den Job lassen? Oder würde er dafür sorgen, dass sie gefeuert wurde? Oder noch besser: Würde er ihr wieder androhen, dass er ihr für ihre Lügen den Hintern versohlen würde? Nicht, dass sie ihn wirklich angelogen hatte. Schließlich hatte sie keine Echolalie gehabt, als Tom Lewis sie angestellt hatte. Doch Clay würde ihr das nur glauben, wenn er das Tourette-Syndrom verstand.
Sie war in Gedanken versunken, als sie Big Red aus seiner Box führte und ihn sicher draußen anband. Sie lächelte, als sie an Clay dachte. Sie hatte viel mit ihm zu tun gehabt, seit sie angefangen hatte im Stall zu arbeiten, doch geflirtet hatten sie nicht mehr. Es hatte auch keine Anzeichen mehr dafür gegeben, dass er ein Spanker war. Er war immer noch sehr dominant – offensichtlich ein Alpha mit angeborener Autorität, der sie nur zu gerne gehorchen würde, wenn auch nur aus dem Grund, um herauszufinden, was passieren würde, doch bisher hatte sich noch keine Möglichkeit dafür ergeben. Er war zwar nicht wirklich ihr Boss, aber als Vorarbeiter im Stall war er schon irgendwie ihr Vorgesetzter. Sie war ihm zwar nicht unterstellt, aber er war für die Qualitätskontrolle zuständig; und sie hatte keinen Zweifel daran, dass er darauf zurückkommen würde, wenn sie ihre Arbeit nicht richtig machte. Doch was würde er dann wirklich machen? Würde er sie nur mit seiner tiefen, sexy Stimme ausschimpfen, bis sie sich wie ein kleines Kind fühlte? Oder würde er wirklich die Reitgerte benutzen, die er ihr so drohend vor die Nase gehalten hatte, als sie hier angefangen hatte? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal in jemanden verknallt hatte, so lang war das schon her. Und dieses Mal hatte es sie heftig erwischt. Als sie den großen Wallach striegelte, stellte sie sich vor, wie sie von Clay in die Schranken gewiesen wurde, wobei er sie aber nicht nur ausschimpfte, sondern auch ...
„Steh still, Red“, wies Bianca das große Pferd an, als sie sich bückte, um seine Fessel mit der linken Hand zu heben und den Hufkratzer in der Rechten. Red war der letzte Ritt des Morgens und sie freute sich schon darauf, wieder auf seinem Rücken zu sitzen. Seine großen, ausgreifenden Schritte waren ein aufregender Ritt und jetzt, da sie mit ihm eine Bindung aufgebaut hatte, konnte sie ihn am Ende des Trainings mühelos bremsen. Der Wallach war ein sanfter Riese und wurde jetzt schon zu ihrem Lieblingspferd im Stall.
Klatsch! Die Reitgerte landete quer auf ihrem Hintern, als sie gerade vorgebeugt war, um Big Reds Vorderhuf auszukratzen. Sie schrie auf, ließ seinen Huf fallen und richtete sich schnell auf, denn sie wollte den Übeltäter erwischen. Sie war sich sicher, es war Clay. Sie zielte und warf den Hufkratzer, den sie hielt, mit Schwung dem Mann hinterher, der verdächtig wie Clay aussah, aber kürzere und etwas dunklere Haare hatte. Der Hufkratzer traf ihn mitten zwischen den Schulterblättern und er drehte sich auf dem Absatz um und sah sie finster an. Das war nicht Clay. Der älteste Lewis-Bruder lächelte sie breit an und sein finsterer Ausdruck verschwand.
„Sorry, ich konnte einem so perfekten Ziel einfach nicht widerstehen. Ist ja nur Spaß, oder?“ Er grinste und zwinkerte ihr schelmisch zu, als er den Hufkratzer vom Boden aufhob. „Ich bin Luke“, sagte er und warf ihr den Hufkratzer wieder zu. „Ich dachte, du wärst jemand anders, sonst hätte ich das nie gemacht. Alle Frauen, die hierher kommen, sind daran gewöhnt, dass meine Brüder und ich Frauen schon mal auf den Hintern hauen, aber das machen wir sonst nicht bei Neulingen. Ich entschuldige mich.“
Ihr Herz schmolz. So gut aussehend und so höflich! Na ja, höflich war er erst im Nachhinein, aber das war immer noch besser als gar nicht.
„Heißt das, dass ihr das öfter macht?“
Luke zuckte mit den Schultern. „Es arbeiten nicht so viele Frauen hier, aber ... ja. Wenn wir können.“ Er grinste sie breit an. „Sexuelles Geplänkel gibt es wohl in jeder von Männern dominierten Industrie, oder?“ Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, als er wieder ernst wurde. „Aber nicht alle Frauen mögen es, also sag einfach Bescheid, wenn du es nicht magst. Es wird nicht mehr passieren, wenn du etwas dagegen hast. Versprochen.“
Biancas Inneres schlug Purzelbäume. Ihre Fixierung auf Spanking war schon seit Jahren ihr schmutziges, kleines Geheimnis. Wäre es denn wirklich möglich, dass sie endlich jemanden gefunden hatte, der den gleichen Fetisch hatte? Könnte es sein, dass sie endlich nicht mehr im Internet nach der Erfüllung ihrer Fantasien suchen musste?
„Alles klar“, sagte sie schüchtern und rieb sich mit der Hand den Hintern, wo die Gerte sie getroffen hatte, als sie sich wieder Red zuwandte, um ihn weiter für den Ritt vorzubereiten und versuchte, die Aufregung zu verbergen, die sie seit dem Treffer mit der Gerte fühlte. Und sie alle machten es? Sie alle versohlten Frauen den Hintern? Alle drei Brüder? Das war ja noch besser!
Kapitel Vier
„Würstchen.“ Darren flüsterte ihr das Wort ins Ohr, als er an ihr vorbei zur Sattelkammer ging. Es war nur ein einziges geflüstertes Wort, doch mehr brauchte es nicht.
„Würstchen! Würstchen!“, wiederholte sie und gab sich Mühe, leise zu sprechen. Es war schwierig – sie wollte es aus vollem Halse hinausschreien, ihr Gehirn brüllte sie an, das Wort laut zu sagen, doch sie kämpfte dagegen an. „Würstchen, Würstchen, Würstchen.“
„Freak!“, verkündete er, als er einige Minuten später wieder an ihr vorbeiging und sein Gesicht war vor Ekel verzogen, als er bemerkte, dass sie noch immer das Wort wiederholte, dass er ihr zugeflüstert hatte.
Darren hatte das Trigger-Wort zufällig entdeckt, als Mrs. Lewis am Morgen zuvor einen Teller mit heißen Würstchen im Schlafrock vorbeibrachte. Bianca hatte das Wort den ganzen Morgen lang vor sich hingeflüstert und leider hatte Darren es mitbekommen. Und seit diesem Zeitpunkt hatte er ihr bei jeder Gelegenheit ‚Würstchen‘ ins Ohr geflüstert.
Ihre Trigger-Worte waren rein zufällig. Jedes Wort könnte einen Tic auslösen und obwohl sie die meiste Zeit über in Ordnung war, fixierte sich hin und wieder ihr Hirn auf ein Wort und das wars; sie hatte dann keinen Frieden mehr. Sie konnte nur hoffen, dass die Echolalie bald wieder verschwinden würde.
Bianca hatte die ersten zwei Monate in Tom Lewis‘ Stall genossen. Außer mit Darren, der einen Groll gegen sie hegte, seit sie in aus Versehen ziemlich unhöflich abgewiesen hatte, kam sie mit den anderen Arbeitern gut zurecht. Es war ein hart arbeitendes Team, das gerne Spaß hatte und sie passte wunderbar hinein. Und obwohl sie wusste, dass alle ihre Tics bemerkten – sie waren ja weder blind noch taub – sagte keiner etwas dazu. Niemand außer natürlich Darren. Ihm schien es die größte Freude zu machen, neue Trigger-Worte zu finden oder ihre verrückten Gesichtsverrenkungen nachzuahmen, wenn sie zuckte. Wenn sie sich räusperte, räusperte er sich auch. Und wenn sie die Nase hochzog, wie sie es gerne machte, stellte er sich neben sie und schniefte in ihr Ohr.
Sie zwang ihre Tränen zurück. Sie würde nicht weinen. Nie wieder. Sie würde nicht mehr wegen ihres Tourettes weinen. Es half nicht, machte die Situation nicht besser und wenn überhaupt, wurden ihre Tics nur noch schlimmer.
Ignorier ihn einfach, Bee. Auch jetzt konnte sie Annies ermutigende Worte hören. Sie vermisste ihre Schwester. Sie hatte so viel Zeit mit Rose verbracht, um das Band mit ihr zu stärken und die Fitness der Stute zu verbessern, dass sie keine Zeit mehr mit Annie verbringen konnte. Sie kuschelten zwar am Abend, aber dann war Annie immer schon zu müde, schwach und krank, um sich groß zu unterhalten, sodass sie nur ihre Gegenwart genießen konnte.
Sie zuckte zusammen, als sie die sanfte Berührung einer großen Hand auf ihrer Schulter spürte.
„Soll ich mit Darren reden?“, fragte Clay mit leiser Stimme.
Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, lass ihn einfach. Ich will keinen Ärger machen; ich bin doch noch so neu. Außerdem bin ich schon mit Schlimmerem zurechtgekommen.“
„Okay. Aber sag Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.“ Mit einem freundlichen Lächeln tippte er sich an den Hut und ging weiter die Stallgasse entlang.
* * *
Clay lehnte sich gegen die obere Abgrenzung des Round Pens und legte seinen Kopf auf seinen gekreuzten Armen ab und sah ihr zu. Sie hatte eine Gabe mit Pferden, das musste er zugeben. Der Fortschritt, den Bianca mit Rose in nur zwei kurzen Monaten erarbeitet hatte, war unglaublich. Ihre Besitzer würden morgen kommen, um sie laufen zu sehen. Und obwohl es erst das zweite Mal war, dass Bianca mit ihr galoppierte, hatte sie keinen Zweifel daran, dass sie es gut machen würden.
Biancas Gesicht war ruhig und entspannt und zeigte keine Spur eines Tics, als sie sich auf das Pferd konzentrierte. Sie kommunizierte auf ihre stille Art mit der Stute und stärkte das Band, das sie mit ihr geknüpft hatte. Er beobachtete sie, bewunderte, wie anmutig sie sich bewegte und wie selbstbewusst sie mit dem Pferd arbeitete. Sie war so hübsch, wenn ihr Gesicht nicht von diesen lächerlichen Zuckungen verzerrt war. Es war eine Schande, dass sie Tourette hatte – sonst wäre sie eine tolle Frau.
Sie sah auf und bemerkte, dass er sie beobachtete und er lächelte. Doch anstatt es zu erwidern, runzelte sie die Stirn und sah schnell weg, bevor sie kurz darauf wieder zu ihm hinsah, immer noch finster schauend.
„Schau mich nicht an“, murmelte sie leise, doch er hörte jedes Wort.
„Warum nicht? Du solltest es doch gewohnt sein, dass Kerle dich ansehen.“
„Oh, das bin ich. Und es sind nicht nur Kerle. Mädchen schauen mich auch an und machen sich dann über mich lustig.“ Ihre Stimme klang bitter, traurig und wehmütig und sofort erkannte er seinen Fehler.
„Moment, das hatte ich nicht gemeint“, protestierte er, doch es war zu spät. Er bemerkte den Ausdruck verbitterter Konzentration, den sie immer hatte, wenn sie versuchte, einen Tic zu unterdrücken. Er hatte sie offenbar schlimmer getroffen, als er gedacht hatte. Idiot!, schimpfte er sich. „Was ich meinte war, dass du wunderschön bist! Du solltest an die Bewunderung gewöhnt sein!“
Sie schnaubte und schüttelte ihren Kopf, aber er sah das kleine Lächeln, das sich trotz ihrer Bemühungen auf ihre Lippen schlich. „Niemand bewundert mich.“
„Ich bin mir sicher, dass es viele gibt.“
„Nicht wirklich, glaub mir.“ Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pferd zu.
„Ich bewundere dich.“
Sie hielt Rose an, drehte sich um und sah ihn überrascht an. „Warum?“
„Hab ich doch gerade gesagt – du bist wunderschön.“ Seine Stimme war sanft, als er die Worte aussprach, doch es war die Wahrheit. Für ihn war sie schön. Ihre Augen waren immer so traurig und sie schien so verwundbar ... Es war diese Verwundbarkeit, diese Traurigkeit, die ihm unter anderem gefielen und vor allem seinen Beschützerinstinkt weckten.
„Ich bin ein Freak.“ Sie sagte das so nüchtern, als ob sie das wirklich glaubte.
Sein Herz brach bei dieser Aussage. „Du bist kein Freak.“
„Doch, bin ich.“ Dann wandte sie sich wieder Rose zu und ließ sie mit der Hinterhand zurückweichen.
Clay sah noch etwas länger zu, beeindruckt von ihrem reiterlichen Können, mit dem Bianca das Band mit der Stute und dabei noch ihren Körper stärkte. Obwohl die Stute noch nicht voll trainiert war, würde es nicht mehr lange dauern, bis ihre Fitness wieder hergestellt war, jetzt, da Bianca sie täglich ritt.
Je länger er ihr zusah, desto mehr spürte er, wie stark er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er musste vollkommen woanders mit den Gedanken gewesen sein, während er ihr zusah, denn schon war sie neben ihm und fummelte mit dem Riegel am Tor herum, während sie Roses Führstrick in einer Hand hielt. Er wollte das Meiste aus diesem Moment machen und streckte deshalb seine Hand aus und berührte sanft ihre Schulter, während er ihr tief in die Augen sah. Zuerst wich sie seinem Blick aus, doch er schaute nicht weg und schlussendlich erwiderte sie seinen Blick, es war eine Herausforderung.
„Du bist kein Freak“, sagte er sanft, aber nachdrücklich. „Wenn du mein wärst, würde ich dich übers Knie legen, weil du so über dich geredet hast“, rügte er sie.
Sie grinste nur. „Dann ist es ja nur gut, dass ich nicht dir gehöre, oder? Denn ich spreche immer so über mich! Ich bin ein Freak – das ist eben ein Teil meines Lebens.“
Er ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen und hielt sie zurück. „Nein“, argumentierte er.
„Doch“, behauptete sie und zuckte mit der Schulter, um seine Hand loszuwerden. „Kann ich jetzt gehen? Ich hab zu tun.“
Er trat zur Seite und ließ sie durch, bevor er den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht sah. Sie mochte also seine Aufmerksamkeit? Gut. Er mochte sie. Er hatte noch nie eine so mutige, furchtlose und tapfere Frau getroffen, die leider innerlich so gebrochen war. Sein Herz zog sich bei dem Gedanken daran zusammen, welchen Schmerz sie ertragen musste. Er seufzte frustriert auf, während er sich wünschte, sie wäre sein.
* * *
Schon wieder!, dachte Bianca aufgeregt. Er hatte schon wieder gesagt, dass er sie übers Knie legen würde! Es frustrierte sie aber, dass er immer nur darüber sprach, jedoch keine seiner Drohungen wahr machte. Wenn er ihr unbedingt den Hintern versohlen wollte, warum machte er es dann nicht einfach?
Jeden Tag fragte Annie sie, ob sie mit Rose weitergekommen war. Und danach fragte sie, ob sie Fortschritt mit Clay gemacht hatte. Jeden Tag war es die gleiche Antwort: Nein. Clay war nett zu ihr, wie alle Brüder. Und die meisten Leute im Stall. Doch außer dem normalen Small-Talk bei der Arbeit gab sich keiner besondere Mühe, mit ihr zu sprechen. Da könnte sie genauso gut nicht existieren.
Annie. Ihr Herz zog sich bei dem Gedanken an ihre Schwester zusammen. Unaufgefordert hatte sie das Bild ihrer gebrechlichen Schwester im Kopf. Annie hatte tapfer gekämpft – kämpfte immer noch – doch sie stand auf verlorenem Posten. Bei Krebs gab es einfach keine Gewinner. Nicht am Ende. Am Ende gab es nur Opfer. Opfer verheerender Chemotherapie und Bestrahlung, Opfer der Krankheit, die einen von innen heraus auffraß. Und schlussendlich waren die Opfer auch alle, die zurückblieben und den Verlust ihrer Lieben betrauerten. Annie lief die Zeit weg und statt sie mit ihrer Schwester zu verbringen, entschied sich Bianca dafür, bei einem Pferd zu bleiben. Tränen der Schuld brannten in ihren Augen, als ihr das klar wurde. Sie musste wirklich ihre Prioritäten richtig setzen – die Zeit mit ihrer Schwester war wichtig.
„Oh, Bianca!“, rief Clay, als sie die Stute zurück in ihre Box führte und die Tür schloss. „Roses Besitzer kommen morgen vorbei, um sie laufen zu sehen – auf Zeit, um zu sehen, wie schnell sie ist. Wenn sie schnell genug ist, kann sie bleiben. Wenn nicht ...“, Clays Stimme wurde leiser. Er musste den Satz nicht zu Ende bringen. Beide wussten, welches Schicksal die Stute erwartete, wenn sie nicht schnell genug lief. Die Besitzer hatten schon so viel Geld in die Rettung des Pferdes investiert, dass sie nicht noch mehr zahlen wollten, wenn sich ihre Investition nicht auszahlen würde.
„Sie ist schnell“, insistierte Bianca. „Ich habe ihre Kraft gespürt. Sie ist definitiv schnell.“
Clay nickte nur. „Wir werden sehen.“
* * *
„Du bist spät dran.“ Die anklagende Stimme war das erste, was Bianca hörte, als sie die Haustür öffnete. „Dein Vater ist noch im Pub, betrunken wie immer und du bist heute nicht nach Hause gekommen. Annie hat mir erzählt, dass du die letzten Wochen kaum Zuhause warst. Ist dir deine Schwester nicht mehr wichtig?“
Bianca wirbelte herum, sofort in Angriffsstellung, um die Frau zu konfrontieren, die sich vor Jahren entschlossen hatte, aus ihrem Leben zu verschwinden und jetzt versuchte, sich wieder hineinzudrängen.
„Entschuldigung?“, schrie sie, sobald ein heftiger Tic vorbei war. „Ich habe mich jahrelang um Annie gekümmert, während du durch die Welt gezogen bist und ganz vergessen hast, dass du überhaupt Töchter hast! Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen und mir vorzuwerfen, dass Annie für mich nicht an erster Stelle käme? Annie war schon immer der wichtigste Mensch in meinem Leben und wird es auch immer sein!“
Die beiden Frauen standen im Flur und schrien sich minutenlang an und bewarfen sich mit Beleidigungen. Ihr gemeinsame Wut war genug, um alle Geräusche zu überlagern; keine von ihnen hatte gehört, wie das Auto in die Einfahrt einbog, sich die Haustür öffnete und Biancas Vater die Tür öffnete und die zwei wütenden Frauen ansah. Biancas Mutter wandte sich ihm zu und Bianca nutzte die Chance zur Flucht. Sie stürmte den Gang entlang in das ruhige Zimmer ihrer Schwester.
Annie war hellwach, als Bianca hereinkam; die lauten Stimmen hatten sie geweckt. Tränen rannen ihr über die Wangen und Biancas Herz zog sich zusammen. Annie weinte nicht. Niemals.
„Du musst ihr vergeben, Bee“, flüsterte Annie. „Du kannst sie nicht für immer hassen.“
„Ihr vergeben?“ Bianca war skeptisch. „Niemals! Ich werde ihr nie vergeben, dass sie uns verlassen hatte, als wir sie am meisten gebraucht hätten!“
Annie klopfte auf das Bett neben sich. „Setz dich“, sagte sie leise und mit tränenerstickter Stimme. „Ich habe eine Entscheidung getroffen“, verkündete sie. „Ich gehe morgen ins Hospiz. Ich will keine Last mehr für dich sein.“
„Nein, Annie!“, protestierte Bianca. „Du bist doch keine Last! Ich werde öfter tagsüber nach Hause kommen, versprochen! Und ich werde auch am Abend früher kommen! Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht hab, Annie. Ich geb mir mehr Mühe, aber bitte geh nicht!“
Annie schüttelte nur ihren Kopf. „Du musst dein Leben leben“, sagte sie. „Du musst arbeiten, einen Mann verführen und ein Pferd retten. Da solltest du dir nicht auch noch Sorgen darüber machen müssen, wer sich gerade um mich kümmert.“
„Aber ich will mich doch um dich kümmern!“
„Aber ich will das nicht.“ Annies Stimme war hart und kalt, doch Bianca wusste, dass das nur geschauspielert war. Sie wusste, dass Annie mehr als bereit war, sich selbst zu opfern, um jemanden glücklich zu machen, und dieses Wissen ließ sie zusammenbrechen und weinen.
„Das meinst du doch nicht so, Annie“, sagte sie weinend. „Das weiß ich.“
„Doch“, sagte Annie entschlossen. „Ich habe mich entschieden. Ich gehe morgen ins Hospiz. Mum wird mich am Morgen hinfahren. Dann hab ich mich schon eingewöhnt, wenn du mich nach der Arbeit besuchst.“
Bianca war viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Die ganze Nacht lang hielt sie Annies Hand fest in ihrer und versuchte, ihre schnelle, unregelmäßige Atmung an Annies langsame, rhythmische Atmung anzupassen, aber es wollte nicht klappen. Ihr Magen war verkrampft, sie hatte Kopfschmerzen und schlafen konnte sie auch nicht. Sie hoffte, dass morgen nicht kommen würde. Sie verlor nicht nur mehr Zeit mit ihrer Schwester, sondern vielleicht auch das Pferd, das sie lieben gelernt hatte.
Вы ознакомились с фрагментом книги.
Для бесплатного чтения открыта только часть текста.
Приобретайте полный текст книги у нашего партнера: