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Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, das stimmt schon ... bei manchen Leuten. Die Sache ist die, dass Tourette jeden anders trifft. Die Medien nutzen gerne die extremen Fälle, weil sie sensationsgeil sind, doch die Realität ist, dass nichts davon auf mich zutrifft. Ich habe nur, was du schon gesehen hast: die Gesichtsticks. Ich hatte ein paar vokale Tics als Kind, aber die hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Was du gesehen hast, ist alles.“
„Warum hast du dann nichts zu Paps im Bewerbungsgespräch gesagt?“, fragte er und klang immer noch genervt.
„Weil er mir dann den Job nicht gegeben hätte!“, rief sie. „Schau mal, ich hab das schon erlebt. Die Diskriminierungsgesetze des Landes helfen nicht. Kein Arbeitgeber würde jemanden mit Tourette-Syndrom einstellen, wenn sie noch andere Kandidaten haben. Sie verstehen nicht genug davon, wissen nur das, was sie in den Medien hören und da wird eben nur von den seltenen, extremen Fällen berichtet. Also werde ich nur aufgrund eines Klischees verurteilt.“
Clay kratzte sich am Kinn und schien nachdenklich. „Und was ist, wenn du das machst, während du reitest? Wenn du dein Gesicht so verziehst – das ist eine ganz schön heftige Bewegung. Wenn das passiert, während du gerade über die Bahn galoppierst, könntest du ohne Weiteres das Gleichgewicht verlieren, herunterfallen und dich verletzen – oder sogar sterben. Weißt du, wie viel Papierkram heutzutage bei so einem Arbeitsunfall anfällt?“ Er zwinkerte ihr zu und lächelte leicht über seinen schlechten Witz, doch sie lächelte nicht zurück. Sie konnte nicht – er hatte recht und sie wusste es auch. Einige der Gesichtsticks waren heftige Bewegungen und oft wurden sie von einer Kopfdrehung begleitet, die ihre gesamte Wahrnehmung veränderte und sie aus dem Gleichgewicht brachte.
„Es passiert nicht, wenn ich reite. Oder wenn ich auch nur mit Pferden arbeite. Für mich ist es die beste Therapie. Im Sattel fühle ich mich normal.“
Hinterm Rücken drückte sie fest die Daumen und hoffte, dass er ihr noch eine Chance geben würde. Er wäre nicht der Erste, der sie wegen ihres Tourettes feuerte und ganz sicher wäre er nicht der Letzte. „Wenn du mir eine Chance gibst, verspreche ich, dass du es nicht bereust“, bettelte sie. Sie wollte nicht so verzweifelt klingen, wie sie wirklich war. Kein anderer Stall hatte sie anstellen wollen; die meisten Trainer wollten immer noch männliche Jockeys ausbilden, obwohl heutzutage jeder die gleichen Rechte haben sollte. Und sie brauchte einen Job. Am besten einen mit Arbeitszeiten, die ihr bei Annies Pflege halfen.
Clay sah sie noch einen Moment lang ernst an, bevor sich sein Ausdruck entspannte und sich ein winziges Lächeln auf sein Gesicht stahl. „Du hast Glück – es ist nicht meine Aufgabe, Personal anzustellen oder zu feuern, also bist du erst mal sicher. Ich rede mit Paps und erklärs ihm.“ Dann zwinkerte er ihr zu. „Aber wenn du zu mir gehörtest, würde ich dich übers Knie legen und dir für deine Täuschung den Hintern versohlen!“
„Oh, vielen Dank, Sir!“ Sie war so erleichtert, dass sie sich kaum davon abhalten konnte, vor Freude ihre Arme um ihn zu schlingen.
Erst später, viel später, als sie schon im Bett lag, erinnerte sie sich an den anderen Teil seiner Aussage. Den ‚ich leg dich über mein Knie und versohl dir den Hintern‘-Teil und ein Blitz der Erregung schoss durch sie hindurch, während sie sich erinnerte, wie seine tiefe Stimme diese Worte gesprochen hatte. Davon hatte sie Annie noch nichts erzählt, aber sie wusste, dass Annie es verstehen würde. Sie war einer der wenigen Menschen, die von ihrer Besessenheit mit Spanking wusste. Annie wusste alles über die Webseiten, die sie spät nachts besuchte, um ihre Wünsche zu befriedigen. Und vielleicht würde Annie auch wissen, ob sie zu viel in Clays Worte hinein interpretierte.
Immer noch in Gedanken daran schlief sie ein und fragte sich, wie es sich anfühlen würde, von ihm den Hintern versohlt zu bekommen. Er sah immerhin gut aus und hatte große, starke Hände, die groß genug waren, um ihren Hintern vollkommen abzudecken. Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Bauch auf seinem Schoß lag und seine große Handfläche ihren Hintern rot verfärbte, während sie seiner tiefen Stimme zuhörte, die sie wegen irgendeines erfundenen Vergehens schalt. Sie schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein und freute sich auf den Morgen, wenn sie den attraktiven Vorarbeiter wieder sehen würde.
Kapitel Zwei
In den Ställen war wieder viel los, als sie kurz vor sechs Uhr ankam und sich auf einen Tag voller Arbeit freute. Clay war schon da; seine alte, weiche, zerrissene Jeans hing tief auf seinen Hüften und umfing sexy seine langen, schlanken Beine. Er trug ein schwarzes T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte. Die Muskeln seiner Arme arbeiteten, als er einen blauen Plastikeimer voller Wasser in jeder Hand trug. Zusammen mit dem Rest des Teams stand sie vor dem Schwarzen Brett bei der Sattelkammer und schaute nach, welches Pferd sie heute Morgen als erstes reiten würde – sie hatte Big Red bekommen, einen riesigen, kastanienbraunen Wallach, der mit seinen siebzehn Händen vor ihr aufragte; er war mit Leichtigkeit das größte und stärkste Pferd im Stall. Offensichtlich wollten Clay und sein Vater sie testen, nachdem sie ihr Big Red als ihren ersten Ritt in der Ausbildung zum Jockey unter Tom Lewis gaben. Das konnte sie ihnen nicht verdenken – sie wusste schon lange, dass sie sich beweisen musste und dass sie klein war, selbst für eine Frau. Also machte es nur Sinn, dass sie ihr das stärkste Pferd am Anfang gaben. Doch sie brauchte nicht nur physische Stärke, um als Jockey Erfolg zu haben; Mut und mentale Stärke waren ebenfalls notwendig, zusammen mit einer Verbindung mit dem Pferd. Und davon hatte sie jede Menge. Deshalb machte ihr die Herausforderung, das größte, stärkste Pferd zu reiten, überhaupt keine Angst.
Sie nahm, was sie brauchte, um die Box auszumisten, führte den Wallach heraus und band ihn am Putzplatz an. Der sanfte Riese rieb seine Nase freundlich an ihrer Schulter, während sie leise mit ihm sprach und seinen Nacken streichelte, bevor sie den Schubkarren an die Boxentür stellte.
„Ich bin Darren.“ Der junge Mann, der die Box neben ihrer säuberte, hielt ihr seine schmutzige Hand hin und obwohl sie voller Dreck und Staub war, schüttelte sie sie und lächelte schüchtern. Ein bisschen Dreck hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Er war nicht groß; selbst für einen Jockey war er klein. Seine Hand war kaum größer als ihre, doch sein Griff war stark, mit dem er seine schwieligen Finger um ihre schloss.
„Bianca.“ Sie sah ihn an. Er wirkte freundlich, doch leider sah er nicht besonders gut aus, besonders, wenn man ihn mit Clay verglich.
„Wie lang arbeitest du schon hier?“, fragte sie ihn.
„Mittlerweile mehr als fünf Jahre. Tom hat mich als Auszubildenden angenommen.“
„Und du bist jetzt ein lizenzierter Jockey?“
„Jup.“ Das Nicken war klein, aber voller Stolz. „Ich reite heute ein Rennen auf einem meiner Lieblingspferde. Noch ein Gewinner, hoffe ich! Luke bereitet da drüben gerade das Fohlen vor.“ Er zeigte in die Richtung und Bianca sah die Stallgasse hinunter, wo ein Mann, der Clay sehr ähnlich war, eine wunderschöne braune Stute striegelte.
„Luke?“
„Clays Bruder. Von den drei Lewis-Jungs ist Luke der Älteste. Dann Clay und Cody. Du wirst sie noch kennenlernen; sie arbeiten alle hier, obwohl Cody auch viel auf der Farm arbeitet.“
„Clay wirkt nett.“ Das war nur eine Feststellung, doch Darrens Gesicht verdunkelte sich.
„Ja.“ Dann lächelte er. „Was hast du heute Abend vor? Willst du mit mir was trinken gehen? Hier ums Eck bekommt man ein geniales Rippchen-Sandwich.“
„Nein!“ Ihre Absage klang wesentlich entsetzter, als sie geplant hatte; Darrens niedergeschlagener Ausdruck sagte ihr, dass er die Zurückweisung nicht gut aufnahm. „Es tut mir leid. Ich hab nur ...“ Sie hielt inne. Sie konnte ihm nicht von Annie erzählen und dass sie jede freie Minute mit ihrer sterbenden Schwester verbringen wollte. Noch nicht. „Ich hab schon was vor, das ist alles.“
„Egal.“ Sein mürrischer Ausdruck sagte ihr auch, dass er ihr das nicht glaubte. Pech gehabt. Er wandte sich wieder der Arbeit zu, doch sie stand immer noch da auf den Rechen gelehnt und fühlte sich unbehaglich und schuldig. Der Job lief nicht gut. Ihr Tourette hatten sie schon früh erkannt und jetzt hatte sie auch noch jemanden beleidigt. Sie war nicht hier, um sich Feinde zu machen, doch offenbar war das trotzdem der Fall.
Sie sah auf und schob die Gedanken beiseite, als sie Schritte hörte, die auf sie zukamen, bemerkte jedoch nur am Rande, dass es Clay war. Er klopfte geistesabwesend mit der Reitgerte gegen seine Handfläche, als er die breite Stallgasse entlangging. Er blieb stehen und sah sie an. Dann zeigte er als stille Warnung mit der Gerte auf sie.
„Du bist zum Arbeiten hier, nicht zum Träumen.“ Er sah sie streng an; sein wirres Haar fiel ihm ins Gesicht und eine Augenbraue hatte er streng hochgezogen. Ein Außenstehender hätte hier keine Drohung in seiner Anweisung gehört. Doch ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Sie nickte verlegen, nahm ihren Rechen und machte sich an die Arbeit und schaute ihm verstohlen nach. Sogar auf die Entfernung konnte sie erkennen, dass er gut gebaut war. Er schien kein Gramm Fett an sich zu haben; er war schlank und muskulös und wirkte unglaublich fit.
Während er sich weiter von ihr entfernte, fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn er sie mit der Gerte schlug. Würde er nur die kleine Lederlasche an der Spitze verwenden, um ihr einen kleinen, wundervollen Stich zu versetzen? Oder würde er den Stab wie einen Stock schwingen und Striemen auf ihrem Hintern erzeugen?
Da sie seinem Zorn entgehen wollte, mistete sie die Box in Rekordzeit aus und schaffte es, die Schubkarre auf dem Misthaufen auszuleeren, noch bevor Darren fertig war.
Big Red stampfte mit den Hufen auf und machte einen Schritt zur Seite, als sie ihn putzte, doch alles in allem schien er relativ gelassen. Obwohl er ihr so nahe war, ignorierte Darren sie ganz bewusst und sah nicht einmal in ihre Richtung. Den Sattel auf Big Reds Rücken richtig zu platzieren war nicht ganz einfach, da er so groß war, doch sie schaffte es. Als die anderen Reiter aufgesessen waren und auf dem Weg zur Bahn waren, erschien Tom, Clays Vater und Stallbesitzer, neben ihr, um ihr in den Sattel zu helfen.
Big Red bewegte sich wundervoll. Seine langen Beine streckten sich und sie flogen nur so über die Bahn mit seinen geschmeidigen, flüssigen Schritten. Noch hatten sie die Höchstgeschwindigkeit nicht erreicht und die schiere Kraft dieses Pferdes nahm ihr den Atem. Sie konnte spüren, wie sich jeder Muskel in seinem Körper zusammenzog, als seine kraftvollen Hinterbeine sie vorwärtstrieben. Genau deshalb habe ich so hart für diesen Job gekämpft!, jubelte ihre innere Stimme. Das ist so großartig!
Reiten, und besonders schnell reiten, war ihre Lieblingsbeschäftigung. Es war einfach natürlich für sie wieder im Sattel zu sitzen, und während sie sich im Takt mit den Schritten des Wallachs bewegte, entspannte sie sich und genoss die Freiheit, dass sie nicht ticcte. Der Wind rauschte an ihr vorbei und sie warf ihren Kopf zurück und lachte, glücklich darüber, dass sie wieder reiten und das tun konnte, was sie liebte.
Zum Ende des Trainings versuchte sie, Big Red zu bremsen, doch das große Pferd ignorierte sie und galoppierte weiter. Mist, dachte sie. Ich wette, Clay wusste, dass das passieren würde und versucht damit zu beweisen, dass er recht hat! Doch das machte sie nur noch entschlossener. Sie hatte es noch nie ausstehen können, wenn Leute ihr gesagt hatten, dass sie etwas nicht tun konnte, und das war ihr schon einige Male in der Vergangenheit passiert – entweder wegen ihres Tourettes oder weil sie eine kleine Frau war. Sie zog wieder an den Zügeln. Sie hatte schon früher gesehen, wenn Pferde durchgegangen waren, Zäune beschädigt, sich selbst und ihre Reiter verletzt hatten, und das gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um das große, starke Pferd zu kontrollieren.
„Ho, mein Großer“, rief sie. „Du musst mir hier schon helfen!“ Sie machte sie schwer in den Steigbügeln, lehnte sich im Sattel zurück und zog so stark sie konnte an den Zügeln, während sie im Wechsel den linken und rechten Zügel zog und mit dem Wallach redete. Langsam begann das große Pferd auf ihre Führung anzusprechen und fiel zuerst in einen leichten Galopp und dann in Trab. „Guter Junge“, lobte sie ihn und streichelte ihm sanft den Nacken, während sie immer noch tief im Sattel saß, um ihm zu zeigen, dass er noch langsamer werden musste. Er schnaubte laut und machte einen Schritt zur Seite. Im Schritt brachte ihn sie ihn zurück zum Stall.
Ha ha, Clay, ich habs geschafft! Ich habe deinen Test bestanden – ich habe Big Red unter Kontrolle bekommen!, rief ihre innere Stimme triumphierend. Ich habs geschafft!
* * *
Die Arbeit auf der Bahn war wesentlich anstrengender als sie in Erinnerung hatte. Entweder das oder sie war durch die Pause, die sie eingelegt hatte, schlechter in Form, als sie gedacht hatte. Egal wie, sie freute sich auf eine kurze Pause im Aufenthaltsraum mit einer Tasse Kaffee, bevor sie weiter ausmistete.
„Wir bekommen ein neues Pferd“, informierte Clay sie. „Ein Stutfohlen. Sie wurde fürchterlich misshandelt und lässt niemanden an sich heran, aber Paps hat sie trotzdem aufgenommen, um zu sehen, ob wir ihr helfen können. Sie hat einen guten Stammbaum und sollte auch Rennen laufen können, doch das geht nur, wenn wir sie dazu bekommen, ihre Angst zu überwinden. Komm und schau zu, wenn du magst.“
„Wie heißt sie?“
„Rose. Sapphire Rose.“
Sie folgte Clay nach draußen und lehnte sich gegen die hölzerne Umrandung des Round Pens und sah zu, wie Tom den Anhänger dirigierte, um ihn so nah wie möglich an das Tor heranzubekommen. Ihr lief ein Schauer den Rücken hinunter, als sie das Geräusch von Hufen hörte, die gegen die Seite des Anhängers schlugen und das schrille Wiehern des Pferdes. Das arme Pferd klang vollkommen verängstigt!
„Ich dachte, du hättest gesagt, sie wäre ruhig gestellt?“ Clays tiefe Stimme erklang direkt hinter ihr.
„Es hat nicht gehalten“, schnaubte einer der Fahrer. „Sie ist gefährlich. Ihr seid verrückt, wenn ihr sie aufnehmen wollt. Sie hätte eingeschläfert werden sollen.“
„Hmmm“, machte Clay und es klang wie Zustimmung, als er sich gegen die Umrandung neben ihr lehnte.
„Nein!“, keuchte Bianca. „Sie ist nur verängstigt. Bitte gebt ihr eine Chance!“
Clay klopfte ihr leicht auf die Schulter und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. „Werden wir.“
Bianca sah mit vor Schreck geweiteten Augen zu, wie einer der Männer sich mit einem großen Stock in den Anhänger beugte und das Fohlen die Rampe hinunter und ihn den Round Pen scheuchte. Es kostete sie ihre gesamte Willenskraft, den Mund zu halten, statt ihn anzuschreien; und es war ein Kampf, nicht über den Zaun zu steigen und sich auf ihn zu stürzen. Was war falsch daran, freundlich zu sein? Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben und nichts zu sagen. Sie konnte nichts sagen, nicht, wenn Tom und Clay zusahen.
Die Stute war wunderschön. Obwohl sie fürchterlich aussah – bis auf die Knochen abgemagert, gebrochen und misshandelt – hielt sie ihren Kopf und Schweif hoch, als sie durch den kleinen Pen stolzierte und laut durch geblähte Nüstern schnaubte. Sie war hellbraun, hatte eine weiße Blässe und drei weiße Socken; sie wirkte kaum älter als zwei Jahre.
Als sie an ihnen vorbeigaloppierte, entdeckte Bianca eine blutende, offene Wunde unter ihrer Stirnlocke und Peitschenstriemen auf ihrem ganzen Körper, von der Flanke bis zur Schulter. Sie keuchte und spürte, wie sich Clay neben ihr versteifte.
Sie beobachtete von außen, wie Tom mit ausgestreckter Hand zwischen ihnen durchschlüpfte, doch die Stute ließ ihn nicht an sich heran. Sobald er den Round Pen betrat, legte sie die Ohren an, zeigte die Zähne und stürmte auf ihn zu und schlug mit den Vorderhufen aus, als sie nahe genug vor ihm war. Sie hörte Clay leise fluchen, als Tom sich wegduckte und geradeso einem Treffer auswich, bevor er sich hinter der Absperrung in Sicherheit brachte.
„Sie wurde brutal behandelt“, bemerkte Clay.
Bianca war übel. Was hatte das arme Pferd nur durchmachen müssen, dass es so reagierte? Wenn man von der Wunde an seinem Kopf ausging, war es offenbar mit einer Art Knüppel geschlagen worden, doch was hatten sie noch mit ihm gemacht? Sie kämpfte eine Welle der Übelkeit nieder, die in ihr aufwallte, als sie daran dachte, was dieses Pferd alles hatte ertragen müssen.
Tom schüttelte traurig den Kopf. „Sie ist noch schlimmer dran, als ich dachte“, stellte er fest. „Ich gehe und rufe jetzt die Besitzer an und dann bestelle ich den Tierarzt für heute Nachmittag, damit er sie einschläfert. Wir können hier kein solches Pferd brauchen; sie könnte jemanden umbringen.“
„Nein!“, rief Bianca. „Bitte, lassen Sie es mich versuchen.“
Tom nickte, doch Clay schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall! Das ist viel zu gefährlich! Du hast doch gesehen, was sie gerade mit Paps gemacht hat!“
Bianca ignorierte Clay, kletterte in den Pen und hielt den Atem an, als sie sich in die Mitte des Round Pens stellte und sich dann nicht mehr bewegte. Sie war sich sehr genau bewusst, was das Fohlen macht, doch sie konzentrierte sich darauf, dass ihre Körpersprache einladend wirkte und hielt den Blick gesenkt, als sie eine Hand nach dem Pferd ausstreckte. Das Fohlen kam langsam, vorsichtig auf sie zu; es schnaubte laut und blähte die Nüstern. Bianca blieb stehen. Behutsam streckte die Stute ihre Nase aus und Bianca rieb sanft die samtweiche Nase.
„Hallo, meine Schöne“, gurrte sie. Die Stute sah sie mit Augen voller Misstrauen an. Ihre Ohren drehten sich ständig vor und zurück und sie zitterte, doch als Bianca weiter mit dem Fohlen sprach und ihre Hand ausgestreckt hielt, entspannte sie sich ein wenig.
Sie konnte sowohl Toms als auch Clays Blicke auf sich fühlen, als sie mit der Stute im Round Pen stand und ihr Herz schwoll an vor Stolz. Annie hatte ihr immer gesagt, dass sie eine Gabe im Umgang mit Pferden hatte, doch bisher hatte sie noch nie die Möglichkeit gehabt zu sehen, wie viel sie wirklich konnte.
„Ruhig, mein Mädchen. Ruhig, Rose.“ Bianca sprach leise, versuchte, das Pferd zu beruhigen, während sie näher kam und ihre Hände über den gebrochenen Körper gleiten ließ. Sie in diesem Zustand zu sehen, den Schrecken, den sie fühlte, brach ihr das Herz. Ihre Ohren bewegten sich unablässig, das Weiße ihrer Augen war zu sehen und sie zitterte noch immer. Wut durchfuhr sie, als sie das Ausmaß des Missbrauchs erkannte, den die Stute erfahren hatte.
Statt in den ruhigen Stunden nach Hause zu fahren, um mehr wertvolle Zeit mit Annie zu verbringen, blieb Bianca mit dem Fohlen im Round Pen, wo sie mit ihr arbeitete, ihr Vertrauen gewann und ein Band mit ihr knüpfte. Als es am Nachmittag Zeit für ihre Stallpflichten wurde, lief die Stute nervös neben Bianca die breite Stallgasse hinunter, bis sie eine der Boxen ganz am Ende erreichten.
Bianca blieb eine Weile bei ihr, lehnte sich über die halbe Tür und beobachtete, wie sich das Fohlen eingewöhnte. Sie sah auf, als sie näher kommende Schritte hörte, und blickte direkt in das Gesicht eines groß gewachsenen, blonden Mannes, der genau wie Clay aussah. Er schien ein oder zwei Jahre jünger zu sein als Clay, doch es war offensichtlich, dass sie Brüder waren. Wie Clay hatte er einen Bartschatten, freundliche Augen und sein Haar war zu lang und wirr und könnte einen Schnitt vertragen. Doch er roch anders als Clay, stellte sie fest, als er näher trat. Er hatte nicht diesen berauschenden Pferdeduft an sich; er roch mehr nach Gras, Getreide, Erde, Hund und noch etwas anderes, das sie nicht identifizieren konnte. Er roch wie ein Farmer.
„Cody.“ Er hielt ihr eine dreckige Hand hin und sie schüttelte sie schüchtern, als seine riesige Hand ihre umfasste. Er war sogar noch größer als Clay und wirkte noch autoritärer, falls das überhaupt möglich war. Sie kannte ihn gar nicht und trotzdem fühlte sie sich zu ihm, zu seiner autoritären Art hingezogen. Er zeigte in Richtung Pferd. „Wer ist das?“
„Das ist Rose. Sie kam heute an. Sie hätte ruhig gestellt sein sollen, aber es hat nicht lange genug angehalten. Als sie hier ankam, kämpfte sie und trat um sich.“ Bianca lächelte stolz bei der Erinnerung. Sie mochte temperamentvolle Pferde. Doch ihr Lächeln verschwand schnell, als sie sich daran erinnerte, warum die Stute hier war. „Sie ist furchtbar missbraucht worden.“
Cody nickte und trat näher und stellte sich neben sie an die Tür. Sofort legte die Stute die Ohren an und raste mit gebleckten Zähnen auf ihn zu. Dieses bösartige, angsteinflößende Verhalten ließ Cody hastig einen Schritt zurücktreten, dann pfiff er leise.
„Sie hat nur Angst“, sagte Bianca sanft. „Alles okay, mein Mädchen“, sagte sie leise zum Pferd, das jetzt ruhig dastand, zitternd und mit bebenden Nüstern.
„Ist sie verrückt?“, fragte Cody.
Bianca schüttelte den Kopf. „Nur verängstigt. Sie ist furchtbar missbraucht worden.“ Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn von oben bis unten an. „Kennen Sie sich nicht mit Pferden aus? Ist es denn nicht offensichtlich, was sie durchgemacht hat?“
„Nö.“ Cody schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Farmer. Wir haben Schafe und Kühe hier, bauen etwas Getreide an und trainieren auch Pferde. Paps kümmert sich um die Pferde, Mas Bruder war immer schon der Farmer – es ist ein Familienbetrieb. Doch seit Onkel Max gestorben ist, kümmere ich mich um die Farm. Mich bekommt man nicht auf eines dieser verrückten Biester – da sind mir Motorräder viel lieber!“
„Oh.” Bianca lächelte, als sie sich fragte, ob Luke, der dritte Bruder, genauso gut aussah wie die beiden, die sie schon getroffen hatte. Und ob er auch nett war ... Es war schon eine ganze Weile her, seit ein gut aussehender Mann ihr Beachtung geschenkt hatte – normalerweise waren sie nicht mehr interessiert, sobald sie von ihren Tics erfuhren.
„Lässt Paps sie bleiben?“ Cody klang skeptisch.
Bianca nickte. „Vorerst.“ Obwohl sie wusste, dass das nicht wirklich stimmte – denn noch hatte Tom seine Meinung noch nicht geändert, das Pferd einschläfern zu lassen. Zumindest nicht so weit sie wusste.
Cody blieb noch ein paar Minuten und beobachtete das Pferd und sie aus dem Augenwinkel. Es war offensichtlich, dass er sie abcheckte, obwohl er versuchte, es zu verstecken, und ein kleiner Schauer der Erregung durchfuhr sie im gleichen Moment wie eine Welle der Panik – ein Tic wollte raus. Der Druck baute sich hinter ihren Augen auf und es wurde schwerer und schwerer, ihn zurückzuhalten.
Sie konnte ihn nicht länger unterdrücken. Sie wandte sich von ihm ab und versuchte, den Tic so gering wie möglich zu halten, doch sie wusste auch, dass er die Bewegung mitbekommen würde, falls er sie beobachtete. Wäre er dann immer noch freundlich zu ihr?
„Alles okay bei dir?“
Sie nickte. „Mir gehts gut.“
„Aber dein Gesicht ...“ Er verstummte, als er ihre Gesichtsverrenkungen kommentierte.
„Es heißt Tourette-Syndrom“, schnappte sie. „Frag Clay danach. Oder noch besser, google es doch einfach. Die Medien erzählen dir alles darüber, was sie glauben, das du wissen musst.“ Ihr Ton war bitter, als sie ihm die Worte entgegenschleuderte, doch das war ihr egal. Die Lewis-Brüder hatten schon genug Gelegenheit, ihr Tourette zu verurteilen.
Cody trat einen Schritt zurück und sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Dann lass ich dich mal allein.“
„Tu das.“ Ihr Herz brannte bei diesen Worten. Sie war schon so oft zurückgewiesen worden, doch jede neue Abfuhr tat wieder weh. Würde sie jemals einen Mann finden, der sie einfach akzeptierte, wie sie war?
* * *
„Schau mal!“ In Annies Stimme klangen Stolz und Aufregung mit, als sie den hellblauen Babybody hochhielt, den sie gerade gestrickt hatte.
Bianca lächelte, doch sie war viel zu müde, um viel zu spüren. Die Erschöpfung war nicht nur körperlich, sie war auch mental vollkommen fertig. Das Fohlen in so einem furchtbaren Zustand zu sehen, war schwierig und ihr Vertrauen zu gewinnen, nicht einfacher gewesen. Und nach all ihrer Arbeit hatte Tom ihre Zukunft nicht garantieren können. Es wollte ihr das Herz zerreißen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich neben Annie setzte, um ihr von ihrem Tag zu erzählen.
„Du kannst ihr helfen, Bee; du hast eine Gabe.“
Bianca nickte. „Ich habe schon einiges geschafft heute. Ich hoffe nur, es ist genug.“
Annie lächelte nur. „Das hoffe ich auch.“
* * *
Obwohl sie vollkommen erschöpft ins Bett ging, wälzte sich Bianca die ganze Nacht hin und her. Sie bekam das Bild der traumatisierten Stute nicht aus dem Kopf, konnte ihre entsetzten Schreie nicht vergessen, als sie im Anhänger um sich trat. Das Bild, wie die Männer sie mit einem großen Stock aus dem Anhänger scheuchten, hatte sich eingebrannt. Und sie konnte Annie nicht vergessen, und wie schnell es mit ihr bergab ging. Jeden Tag wurde sie schwächer. Wie viel Zeit hatte sie noch?
Kapitel Drei
Die morgendlichen Ritte und Stallarbeiten waren schnell erledigt und Bianca war im Stall, wo sie dem Stutfohlen getrocknetes Blut aus dem Fell bürstete, als sie Schritte auf sich zukommen hörte. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie hatte ein schlechtes Gefühl im Magen. Das war nicht gut. Einige Sekunden später erschien Tom mit zwei gut gekleideten, professionell aussehenden Pärchen vor der Box, die hier im Stall fürchterlich fehl am Platz wirkten. Doch als sie den Ausdruck auf ihren Gesichtern sah – den schieren Horror, wusste sie sofort, wer sie waren. Offensichtlich waren sie Roses Besitzer. Die Stute begann in der Gegenwart der Männer zu zittern. Sie schnaubte laut durch geblähte Nüstern und stampfte mit den Vorderhufen. Bianca legte ihr beruhigend eine Hand auf den Hals, um sie zu trösten, ihr zu versichern, dass diese Menschen ihr nicht wehtun würden und sie hier sicher war. Sie sah, wie sich die Augen der beiden Frauen mit Tränen füllten.
„Armes Ding“, rief die eine. „Sie ist furchtbar missbraucht worden. Das beste wäre wohl, sie zu erlösen!“
Bianca beobachtete erschrocken, wie alle zustimmend nickten.
„Roger wird dafür bezahlen“, knurrte einer der Männer. „Wie kann er es wagen, einem Pferd so etwas anzutun?“ Er versuchte, die Box zu betreten, doch Rose wollte davon nichts wissen: Sie legte die Ohren an, zeigte ihre Zähne und mit der Schulter schubste sie Bianca zu Boden.
„Alles okay, Bianca?“, fragte Tom, der es nicht wagte, ihr zu Hilfe zu kommen. „Ich habe noch nie so ein traumatisiertes Pferd gesehen“, sagte er traurig. „Ich glaube, sie einzuschläfern wäre das Beste.“
„Nein!“, rief Bianca. „Ihr müsst ihr eine Chance geben! Bitte!“
„Ich glaube nicht, Süße“, sagte die andere Frau. „So ist es besser.“
Sie sprang auf die Füße und klopfte sich umständlich das Sägemehl von der Jeans, bevor sie zur Stute sprang, die sich zurückgezogen hatte und jetzt zitternd in der Ecke der Box stand. Sie stand am Widerrist und streichelte ihr den Hals, sprach sanft mit ihr und langsam entspannte sich Rose.
„Schaut doch!“, argumentierte sie und wusste, dass dies ihre einzige Chance war, um für das Pferd zu kämpfen. „Sie vertraut mir schon!“ Doch sie spürte, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte – der Zweifel stand den Besitzern deutlich ins Gesicht geschrieben.
Clay brachte dann die Tierärztin herein und Bianca blieb mit Rose in der Box, um sie zu beruhigen, damit die Ärztin sie untersuchen konnte. Tom hatte extra nach einer Tierärztin gefragt und Rose hielt still, war jedoch angespannt und zitterte, obwohl Bianca bei ihr stand und sie beruhigte. Der Gesichtsausdruck der Ärztin war finster, als sie das Pferd untersuchte, und als sie aus der Box trat, schüttelte sie noch immer den Kopf.
„Sie ist sehr schwer misshandelt worden“, sagte die Tierärztin. „Sie ist sowohl physisch als auch psychisch verletzt“, sagte sie traurig, als sie die Verletzungen der Stute an den Fingern abzählte. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie wiederhergestellt werden kann. Man könnte es versuchen, aber ich kann nicht garantieren, dass es funktioniert. Das beste wäre wohl, sie einzuschläfern.“