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Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке

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„Bitte, hol mir einen Cognac, einen großen.“

„Ja, Herr Doktor.“

Hart leuchtete Hugo die Zeit entgegen, als er die Treppe zum Restaurant hinunterstieg: der große Kalender, den er morgens zurechtzustecken hatte; die große Pappenummer umgedreht, unter den Monat, unters Jahr geschoben: 6. September 1958. Ihn schwindelte, das alles war geschehen, lang bevor er geboren war, das warf ihn Jahrzehnte, halbe Jahrhunderte zurück: 1885, 1903 und 1935 – weit hinter der Zeit war es verborgen und doch da; es klang aus Fähmels Stimme heraus, der am Billardtisch lehnte, auf den Platz vor Sankt Severin blickte. Hugo hielt sich am Geländer fest, atmete tief, wie jemand, der auftaucht, öffnete die Augen und sprang rasch hinter die große Säule.

Da kam sie die Treppe herunter, barfuß, wie ein Hirtenmädchen gekleidet, den Geruch von Schafsdung im schäbigen Gewand, das kollerartig über ihre Brust bis zur Hüfte herabhing. Nun würde sie Hirsebrei essen, dunkles Brot dazu, ein paar Nüsse, würde Schafsmilch trinken, die im Eisschrank für sie frischgehalten wurde; sie brachte die Milch in Thermosflaschen mit, brachte in kleinen Schachteln Schafsdung, den sie als Parfüm benutzte für die derb gestrickte Unterwäsche aus ungefärbter Wolle; sie saß nach dem Frühstück stundenlang in der Halle unten – strickte, strickte, ging hin und wieder an die Bar, sich ein Glas Wasser zu holen, rauchte ihre Stummelpfeife, saß da, hatte die nackten Beine auf der Couch gekreuzt, so dass die schmutzigen Schwielen an den Füßen zu sehen waren, empfing ihre Jünger und Jüngerinnen, die, wie sie gekleidet, wie sie riechend, um sie herum, mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich hockten, strickend, hin und wieder kleine Schachteln öffnend, die die Meisterin ihnen gegeben, an Schafsdung, wie an köstlichen Aromen schnuppernd, dann räusperte sie sich in bestimmten Abständen, und ihre Jungmädchenstimme fragte von der Couch herunter: ‚Wie werden wir die Welt erlösen?‘ Und die Jünger und Jüngerinnen antworteten: ‚Durch Schafswolle, Schafsleder, Schafsmilch – und durch Stricken.‘ Nadelgeklapper, Stille, ein Jungling sprang zur Bartheke, holte der Meisterin frisches Wasser, und wieder warf die sanfte Jungmädchenstimme von der Couch herab die Frage: ‚Wo liegt die Seligkeit der Welt verborgen?‘, und alle antworteten: ‚Im Schaf.‘ Schachteln wurden geöffnet, verzückt am Kot geschnüffelt, während Blitzlichter knallten, Pressebleistifte über Stenogrammblücke huschten[24 - Böll versucht mit dieser Sekte die parodistische Umkehr der Lamm-Ideologie.].

Langsam trat Hugo weiter zurück, während sie um die Säule herum aufs Frühstückszimmer zuging; er hatte Angst vor ihr, hatte zu oft gesehen, wie ihre sanften Augen hart wurden, wenn sie mit ihm allein war, ihn auf der Treppe erwischte, sich von ihm Milch ins Zimmer bringen ließ, wo er sie mit der Zigarette im Mund antraf, sie ihm das Milchglas aus der Hand riss, es lachend in den Abfluss entleerte, sich einen Cognac einschenkte, mit dem Glas in der Hand auf ihn, der langsam zur Tür zurückwich, zukam. ‚Hat dir noch niemand gesagt, dass dein Gesicht Gold wert ist, pures Gold, du dummer Junge. Warum willst du nicht das Gotteslamm meiner neuen Religion sein? Ich werde dich groß machen, reich, und sie werden in noch schickeren Hotelhallen vor dir knien! Bist du noch nicht lange genug hier, um zu wissen, dass ihre Langeweile nur mit einer neuen Religion auszufüllen ist, eine, die je dümmer, desto besser ist – geh nur, du bist zu dumm.‘ Er blickte ihr nach, während sie mit unbewegtem Gesicht sich vom Kellner die Tür zum Frühstückszimmer aufhalten ließ; sein Herz klopfte noch, als er hinter der Säule hervorkam und langsam ins Restaurant hinunterging.

„Einen Cognac für den Doktor oben, einen großen.“

„Stunk in der Bude wegen deinem Doktor.“

„Wieso Stunk?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube, der wird dringend gesucht, dein Doktor. Da, dein Cognac, und verdrück dich schnell, mindestens siebzehn alte und junge Weiber fahnden nach dir; rasch, da kommt wieder eine die Treppe herunter.“

Sie sah aus, als hätte sie zum Frühstück pure Galle getrunken, in goldfarbene Kleider gekleidet, mit goldfarbenen Schuhen, Mütze und Muff aus Löwenfell. Ekel breitete sich aus, sobald sie erschien, und es gab Abergläubische unter den Gästen, die ihr Gesicht bedeckten, wenn sie auftrat. Zimmermädchen kündigten ihretwegen, Kellner verweigerten die Bedienung, aber er, er musste, sobald sie ihn erwischte, stundenlang mit ihr Canasta[25 - Canasta (von span. canasta: Korb) – ein Kartenspiel für vier Personen in zwei Partnerschaften; es existieren auch Varianten für zwei, drei, fünf oder sechs Personen.] spielen; ihre Finger wie Hühnerkrallen, einzig menschlich an ihr war die Zigarette in ihrem Mund. ‚Liebe, mein Junge, nie gewusst, was das ist; nicht einer, der mich nicht merken lässt, dass er sich vor mir ekelt; meine Mutter verfluchte mich siebenmal am Tage, schrie mir ihren Ekel ins Gesicht; hübsch war meine Mutter und jung, jung und hübsch war mein Vater, waren meine Geschwister; sie hätten mich vergiftet, wenn sie den Mut nur aufgebracht häten; sie nannten mich: so was dürfte nicht geboren werden – hoch oben wohnten wir in der gelben Villa über dem Stahlwerk, abends verließen tausende Arbeiter das Werk, wurden von lachenden Mädchen und Frauen erwartet, lachend gingen sie die dreckige Straße hinunter; ich kann sehen, hören, fühlen, riechen wie alle anderen Menschen, kann schreiben, lesen, rechnen und schmecken – du bist der erste Mensch, der es länger als eine halbe Stunde bei mir aushält, hörst du, der erste!‘

Sie schleppte Entsetzen hinter sich her, Atem des Unheils, warf ihren Zimmerschlüssel auf die Theke, schrie dem Boy, der dort Jochen vertrat, ins Gesicht: ‚Hugo, wo ist er, Hugo?‘, ging, als der Boy die Schultern zuckte, zur Drehtür, und der Kellner, der die Tür in Gang setzte, schlug die Augen nieder, und sobald sie draußen war, zog sie den Schleier vors Gesicht.

‚Drinnen trag ich ihn nicht, Junge, die sollen etwas sehen für ihr Geld, sollen mir ins Gesicht schauen für mein Geld, aber die da draußen, die haben es nicht verdient.‘

„Hier, der Cognac, Herr Doktor.“

„Danke, Hugo.“

Er mochte Fähmel: der kam jeden Morgen um halb zehn, erlöste ihn bis elf, hatte ihm schon ein Gefühl der Ewigkeit verliehen; war es nicht immer so gewesen, hatte er nicht vor Jahrhunderten schon hier an der weißlackierten Türfüllung gestanden, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, dem leisen Spiel zugesehen, den Worten gelauscht, die ihn sechzig Jahre zurück, zwanzig vor, wieder zehn zurück und plötzlich in die Wirklichkeit des Kalenderblatts draußen warfen? Weiß über grün, rot über grün, rot – weiß über grün, immer innerhalb des Randes, der nur zwei Quadratmeter grünen Filzes umschloss; das war sauber, trocken und genau; zwischen halb zehn und elf; zweimal, dreimal hinunter, um den großen Cognac zu holen; Zeit war hier keine Größe, an der irgend etwas ablesbar wurde; auf diesem rechteckigen grünen Löschpapier wurde sie ausgelöscht; vergebens schlugen die Uhren an, Zeiger bewegten sich vergebens, rannten in sinnloser Eile vor sich selbst davon; alles stehen- und liegenlassen, wenn Fähmel kam, gerade um die Zeit, wo am meisten zu tun gewesen wäre: alte Gäste gehen, neue kommen; er musste hier stehen, bis es elf von Sankt Severin schlug, doch wann, wann schlug es elf? Luftleere Räume, zeitleere Uhren, er war hier untergetaucht, fuhr unter Ozeanen her, Wirkliches drang nicht ein, druckte sich draußen platt wie an Aquarien- und Schaufensterscheiben, verlor seine Dimensionen, hatte nur noch eine, war flach, wie ausgeschnitten aus Ausschneidebögen für Kinder, sie hatten alle ihre Kleider nur provisorisch umgehängt wie diese ausgeschnittenen Pappepuppen, strampelten hilflos gegen die Wände, die dicker waren als Jahrhunderte aus Glas; fern der Schatten von Sankt Severin, ferner noch der Bahnhof, und die Züge nicht wahr: D und F und E, und FD und TEE und FT[26 - Ein Schnellzug (in Deutschland und Österreich auch D-Zug) ist eine Zuggattung der Eisenbahn und bezeichnet Züge, die nicht auf allen Unterwegsbahnhöfen haltenZum Sommerfahrplan 1951 führte die DB eine neue Zuggattung, den Fernzug ein. Diese Züge verbanden in individuellen Fahrplänen die neuen Wirtschaftszentren der Bundesrepublik untereinander. Sie führten die Zuggattungsbezeichnung „F“ für Fernzug und führten bis 1956 nur die damalige erste und zweite Wagenklasse, danach ausschließlich die erste Klasse. Die Fernzüge wurden ab 1971 durch den InterCity-Zug abgelöst.In der Zuggattung Eilzug (E) waren über mittelgroße Entfernungen (meistens zwischen zwei Ballungsräumen) verkehrende Züge zusammen gefasst, die nur in wichtigeren Bahnhöfen hielten. In einigen Verkehrsverbünden gibt es Stadtbahnen, auf denen einige Kurse mit wenigen Halten als Eilzug fahren. Nachfolger des Eilzuges ist heute der RegionalExpress.Der FernExpress war eine Zuggattung mit erster und zweiter Klasse mit dem traditionsreichem Kürzel FD, die zum Sommerfahrplan 1983 von der DB eingeführt wurde. Diese mit eigenen Namen versehenen Züge verbanden in der Regel den Großraum Hamburg oder das Ruhrgebiet mit Ferienzentren in Süddeutschland, teilweise führten diese Züge auch ins Ausland.Trans Europ Express (TEE) waren elegante, komfortable Schnellzüge, die zwischen den Staaten der ehemaligen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) sowie der Schweiz verkehrten. Sie führten ausschließlich Wagen der ersten Klasse.], trugen Koffer zu Zollstationen; wahr waren nur die drei Billardkugeln, die übers grüne Löschpapier rollten, immer neue Figuren bildeten: Unendlichkeit, in tausend Formeln auf zwei Quadratmetern enthalten, er schlug sie mit seinem Stock heraus, während seine Stimme sich in den Zeiten verlor.

„Geht die Geschichte weiter, Herr Doktor?“

„Willst du sie hören?“

„Ja.“

Fähmel lachte, nippte an seinem Cognacglas, zündete sich eine neue Zigarette an, nahm den Stock in die Hand und stieß die rote Kugel an: rot und weiß rollten über grün.

„Eine Woche danach, Hugo…“

„Nach was?“

Fähmel lachte wieder. „Nach diesem Schlagballspiel, nach diesem 14. Juli 1935, den sie in den Putz über dem Blechspind eingeritzt hatten – eine Woche danach war ich froh, dass Schrella mich an den Weg, der zu Trischlers Haus führte, erinnert hatte. Ich stand auf der Balustrade des alten Wiegehauses, am unteren Hafen; von dort aus konnte ich den Weg gut überschauen, der an Holzschuppen und Kohlenlagern vorbeilief, sich zu einer Baustoffhandlung hin senkte, von dort auf den Hafen zulief, der durch ein rostiges Eisengeländer abgesperrt war und nur noch als Schiffsfriedhof diente. Sieben Jahre vorher war ich zuletzt hier gewesen, aber es hätten auch fünfzig Jahre sein können; als ich zusammen mit Schrella Trischlers noch besuchte, war ich dreizehn gewesen; lange Schleppzüge ankerten abends an der Böschung, Schifferfrauen mit Einkaufkörben stiegen über die schwankenden Stege an Land; frische Gesichter hatten die Frauen und Zuversicht in den Augen; Männer, die nach Bier und nach Zeitungen verlangten, kamen hinter den Frauen her; Trischlers Mutter musterte aufgeregt ihre Waren: Kohl und Tomaten, silbrige Zwiebeln, die gebündelt an der Wand hingen, und draußen spornte der Schäfer mit kurzen, scharf klingenden Kommandos seine Hunde an, die Schafe in die Hürde zu treiben; drüben – auf diesem Ufer hier, Hugo – leuchteten die Gaslaternen auf, gelbliches Licht füllte die weißen Ballons, deren Reihe sich nach Norden zu ins Unendliche fortpflanzte; Trischlers Vater knipste in seiner Gartenwirtschaft die Lampen an, und Schrellas Vater, mit dem Handtuch über dem Unterarm, kam nach hinten ins Treidlerhaus, wo wir Jungen, Trischler, Schrella und ich, Eis zerkleinerten und über die Bierkästen warfen.

Jetzt, sieben Jahre später, Hugo, an diesem 21. Juli 1935 war die Farbe von allen Zäunen abgeblättert, und ich sah, dass an Michaelis Kohlenlager nur das Tor erneuert war; hinter dem Zaun verrottete ein großer Haufen Briketts, ich suchte immer wieder alle Windungen der Straße ab, um mich zu vergewissern, dass niemand mir gefolgt war; ich war müde, spürte die Wunden auf meinem Rücken, Schmerz flammte wie Pulsschlag auf; zehn Minuten lang war die Straße leer geblieben; ich blickte auf den schmalen Streifen bewegten sauberen Wassers, der den unteren mit dem oberen Hafen verband: kein Boot war zu sehen, blickte in den Himmel: kein Flugzeug, und ich dachte: du scheinst dich sehr ernst zu nehmen, wenn du glaubst, sie schicken Flugzeuge aus, dich zu suchen.

Ich hatte es getan, Hugo, war mit Schrella in das kleine Cafe Zons an der Boissereestraße gegangen, wo die Lämmer sich trafen, hatte dem Wirt das Losungswort zugemurmelt: Weide meine Lämmer, und ich hatte geschworen, einem jungen Mädchen, das Edith hieß, ins Gesicht hinein geschworen, niemals vom Sakrament des Büffels zu kosten, hatte dann in dem dunklen Hinterzimmer eine Rede gehalten, mit dunklen Worten drin, die nicht nach Lamm klangen; sie schmeckten nach Blut, nach Aufruhr und Rache, Rache für Ferdi Progulske, den sie am Morgen hingerichtet hatten; wie Geköpfte sahen die aus, die um den Tisch herumsaßen und mir zuhörten; sie hatten Angst und wussten jetzt, dass kindlicher Ernst nicht weniger ernst ist als der der Erwachsenen; Angst und die Gewissheit, dass Ferdi wirklich tot war: siebzehn Jahre war er alt gewesen, Hundertmeterläufer, Tischlerlehrling, nur viermal hatte ich ihn gesehen und würde ihn nie wieder in meinem Leben vergessen; zweimal im Cafe Zons und zweimal bei uns zu Hause; Ferdi war in Ben Wackes Wohnung geschlichen, hatte ihm, als er aus dem Schlafzimmer kam, die Bombe vor die Füße geworfen; nur Brandwunden hatte Ben Wackes an den Füßen, ein Garderobenspiegel zersplitterte, es roch nach verbranntem Schwarzpulver, Torheit, Hugo, kindlichem Edelmut entsprungen, hörst du, hörst du wirklich?…“

„Ich höre.“

„Ich hatte Hölderlin gelesen: Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest, und Ferdi nur Karl May[27 - Karl Friedrich May, eigentlich Carl Friedrich May (* 25. Februar 1842 in Ernstthal; † 30. März 1912 in Radebeul) war ein deutscher Schriftsteller. Karl May war einer der produktivsten Abenteuerschriftsteller und zählte jahrzehntelang zu den meistgelesenen Schriftstellern Deutschlands. Bekannt wurde er vor allem durch seine so genannten Reiseerzählungen, die vorwiegend im Orient und in den Vereinigten Staaten und Mexiko angesiedelt sind. Viele seiner Werke wurden verfilmt, für die Bühne adaptiert, zu Hörspielen verarbeitet oder als Comics umgesetzt.], der den gleichen Edelmut zu predigen schien; Torheit, unterm Handbeil gebüsst, im Morgengrauen, während die Kirchenglocken zur Frühmesse läuteten, Bäckerjungen warme Brötchen in Leinenbeutel zählten, während hier im Hotel Prinz Heinrich den ersten Gästen das Frühstück serviert wurde, während Vögel zwitscherten, Milchmädchen auf Gummisohlen sich in stille Hauseingänge schlichen, um Milchflaschen auf saubere Kokosmatten zu stellen; motorisierte Boten rasten durch die Stadt, von Plakatsäule zu Plakatsäule, klebten rotumrandete Zettel an: ‚Hinrichtung! Der Lehrling Ferdinand Progulske‘ – gelesen von Frühaufstehern und Straßenbahnern, von Schülern und Lehrern, von all denen, die morgens mit ihren Broten in der Tasche zur Straßenbahn eilten, die Lokalzeitung noch nicht aufgeschlagen hatten, die es in Gestalt einer Schlagzeile verkündete: ‚Exempel statuiert‘, und von mir gelesen, von mir, Hugo, als ich gerade hier vorne an der Ecke in die 7 einsteigen wollte.

Ferdis Stimme am Telefon, war das gestern oder vorgestern gewesen: ‚Du kommst doch, wie verabredet, ins Cafe Zons?‘ Pause. ‚Kommst du oder kommst du nicht?‘ ‚Ich komme.‘

Enders versuchte noch, mich am Ärmel in die Bahn zu zerren, aber ich riss mich los, wartete, bis die Bahn um die Ecke herum verschwunden war, lief zur gegenüberliegenden Haltestelle, wo auch heute noch die 16 abfährt; fuhr durch friedliche Vorstädte zum Rhein, vom Rhein wieder weg, bis die Bahn endlich zwischen Kiesgruben und Baracken in die Schleife der Endstation einbog. Winter müsste sein, dachte ich damals, Winter, kalt, regnerisch, bedeckter Himmel, dann wäre es erträglicher, aber hier, wo ich stundenlang zwischen Kleingärten umherirrte, Aprikosen und Erbsen sah, Tomaten und Kohl, wo ich das Klirren von Bierflaschen hörte, die Klingel des Eismannes, der an einer Wegkreuzung stand und Vanilleeis in bröcklige Waffeln spachtelte; das konnten sie doch nicht tun, dachte ich, konnten nicht Eis essen, Bier trinken, Aprikosen betasten, während Ferdi…

Gegen Mittag verfütterte ich meine Brote an grämliche Hühner, die auf dem Lagerhof eines Altwarenhändlers ungenaue geometrische Figuren in den Dreck furchten; aus einem Fenster heraus sagte eine Frauenstimme: ‚Diesen Jungen, hast du gelesen, sie haben ihn…‘, und eine Männerstimme antwortete: ‚Verflucht, sei still, ich weiß doch…‘ Ich warf die Brote den Hühnern hin, lief weiter, verlor mich zwischen Bahndämmen und Grundwasserlöchern, erreichte irgendwo wieder eine Endstation, fuhr durch Vorstädte, die mir unbekannt waren, stieg aus, kehrte meine Hosentaschen nach außen: Schwarzpulver rieselte auf einen grauen Weg; ich rannte weiter, wieder Bahndämme, Lagerplätze, Fabriken, Kleingärten, Häuser, ein Kino, an dessen Schalter eben die Kassiererin das Fenster hochschob. Drei Uhr? Genau drei. Fünfzig Pfennige. Ich war der einzige Besucher der Vorstellung; Hitze brütete auf dem Blechdach; Liebe, Blut, ein betrogener Liebhaber zückte das Messer; ich schlief ein, erwachte erst wieder, als lärmende Besucher zur Sechs-Uhr-Vorstellung in den Saal kamen, taumelte nach draußen. Wo war meine Schulmappe? War sie im Kino? Draußen an der Kiesgrube, wo ich lange gesessen und die triefenden Lastautos beobachtet hatte, oder war sie dort, wo ich den grämlichen Hühnern meine Brote hingeworfen hatte? Ferdis Stimme am Telefon, war das gestern oder vorgestern gewesen: ‚Du kommst doch, wie verabredet, ins Cafe Zons?‘ Pause. ‚Kommst du oder kommst du nicht?‘ ‚Ich komme.‘

Rendezvous mit einem Geköpften. Torheit, die mir jetzt schon kostbar wurde, weil der Preis dafür so hoch gewesen war; Nettlinger erwartete mich vor dem Cafe Zons; sie brachten mich in die Wilhelmskuhle, schlugen mich mit der Stacheldrahtpeitsche; winzige Pflüge furchten meinen Rücken auf; durch die rostigen Fenstergitter hindurch konnte ich die Böschung sehen, auf der ich als Kind gespielt hatte; immer wieder war uns der Ball heruntergerollt, immer wieder war ich die Böschung runtergeklettert, hatte den Ball aufgehoben, einen ängstlichen Blick auf das rostige Gitter geworfen und hinter den schmutzigen Scheiben Böses zu spüren geglaubt; Nettlinger schlug zu.

In der Zelle versuchte ich, mir das Hemd auszuziehen, aber Hemd und Haut waren in gleichem Maße zerfetzt, ineinander verhakt, wenn ich am Kragen, am Ärmel zog, war es, als zöge ich mir die Haut über den Kopf.

Schlimm waren Augenblicke wie dieser; als ich an der Balustrade des Wiegehauses stand, müde, war mein Stolz auf die Stigmata geringer als der Schmerz; mein Kopf fiel aufs Geländer, mein Mund lag auf dem rostigen Gestänge, und die Bitterkeit des verwitterten Eisens drang mir wohltuend in den Mund; noch eine Minute nur bis Trischlers Haus, und ich würde wissen, ob sie mich dort schon erwarteten; ich erschrak: ein Arbeiter, mit seinem Henkelmann unter dem Arm, kam die Straße herauf, verschwand im Tor zur Baustoffhandlung. Als ich die Treppe hinunterging, umfasste ich das Geländer so fest, dass ich den Rost in Flocken vor meiner Hand herschob.

Der heitere Rhythmus der Niethämmer, den ich vor sieben Jahren hier gehört hatte, hallte nur noch als müdes Echo wider, als Klopfen eines Hammers auf einem Ponton, wo ein alter Mann ein Fährboot ausschlachtete; Muttern polterten in einen Karton, Bretter fielen mit einem Geräusch, das den Grad ihrer Vermoderung kundtat, und der alte Mann beklopfte den Motor, lauschte auf die Töne wie auf die Herztöne eines geliebten Wesens, beugte sich tief in den Bauch des Bootes, brachte Einzelteile ans Licht: Schrauben, Deckel, Düsen, Zylinder, die er ans Licht hob, betrachtete, beroch, bevor er sie in den Karton zu den Muttern warf; hinter dem Boot stand eine alte Winde, Reste eines Drahtes hingen daran, morsch wie verrotteter Strumpf.

Erinnerungen an Menschen und Ereignisse waren immer mit Erinnerungen an Bewegung verknüpft gewesen, die mir als Figur im Gedächtnis geblieben war. Wie ich mich übers Geländer der Balustrade beugte, den Kopf hob, senkte, hob, senkte, um die Straße zu beobachten – die Erinnerung an diese Bewegung brachte mir Worte und Farben, Bilder und Stimmung wieder zum Bewusstsein. Nicht wie Ferdi ausgesehen hatte, sondern wie er ein Streichholz anzündete, wie er den Kopf leicht hob, um ja, ja, – nein, nein, zu sagen, Schrellas Stirnfalten, die Bewegung seiner Schultern, Vaters Gang, Mutters Gebärden, Großmutters Handbewegung, wenn sie ihr Haar aus der Stirn strich – und der alte Mann dort unten, den ich von der Böschung aus sah, der von einer großen Schraube gerade einen verfaulten Holzrest abklopfte, das war Trischlers Vater; diese Hand machte Bewegungen, die nur diese Hand machen konnte – ich hatte dieser Hand zugesehen, wenn sie Kisten öffnete, wieder zunagelte; Schmuggelware, die in dunklen Schiffsbäuchen verborgen die Grenze passiert hatte, Rum und Rosinen, Zigaretten und Schokolade, im Treidlerhaus hatte diese Hand Bewegungen gemacht, die nur sie machen konnte; der Alte blickte hoch, blinzelte zu mir herauf und sagte: ‚Na, Söhnchen, der Weg da oben führt aber nirgends hin.‘

‚Er führt zu Ihrem Haus‘, sagte ich.

‚Wer mich besucht, kommt vom Wasser her, sogar die Polizei – auch mein Sohn kommt mit dem Boot, selten kommt er, sehr selten.‘

‚Ist die Polizei schon dort?‘

‚Warum fragst du, Söhnchen?‘

‚Weil sie mich suchen.‘

‚Hast du geklaut?‘

‚Nein‘, sagte ich, ‚ich habe mich nur geweigert, vom Sakrament des Büffels zu essen.‘

Schiffe, dachte ich, Schiffe mit dunklen Bäuchen und Kapitänen, die Übung darin haben, die Zöllner zu täuschen; ich werde nicht viel Platz brauchen, nur soviel wie ein zusammengerollter Teppich; in einem gerollten Segel versteckt will ich die Grenze passieren.

‚Komm runter‘, sagte Trischler, ‚da oben können sie dich vom anderen Ufer aus sehen.‘

Ich drehte mich, ließ mich langsam auf Trischler zugleiten, indem ich mich an den Grasnarben festhielt.

‚Ach‘, sagte der Alte, ‚du bist… ich weiß, wer du bist, aber deinen Namen hab ich vergessen.‘

‚Fähmel‘, sagte ich.

‚Natürlich, hinter dir sind sie her, es kam heute morgen mit den Frühnachrichten, und ich hätte es mir denken können, als sie dich beschrieben: rote Narbe überm Nasenbein; damals, als wir bei Hochwasser rübergerudert sind und gegen den Brückenpfeiler stießen, als ich die Strömung unterschätzt hatte; du schlugst mit dem Kopf auf die Eisenkante des Bootes.‘

‚Ja, und ich durfte nicht mehr herkommen.‘

‚Aber du kamst noch.‘

‚Nicht mehr lange – bis ich mit Alois Streit bekam.‘

‚Komm, aber duck dich, wenn wir unter der Drehbrücke hergehen, sonst stößt du dir ’ne Delle in den Kopf – und darfst nicht mehr herkommen. Wie bist du ihnen denn entkommen?‘

‚Nettlinger kam im Morgengrauen in meine Zelle, er brachte mich an den Hintereingang, wo die unterirdischen Gänge bis zum Bahndamm führen, an der Wilhelmskuhle. Er sagte: ,Hau ab, renn los – aber ich kann dir nur eine Stunde Vorsprung geben, in einer Stunde muss ich’s der Polizei melden’ – ich bin um die ganze Stadt herum bis hierhergekommen.‘

‚So, so‘, sagte der Alte, ‚ihr musstet also Bomben schmeißen! Ihr musstet euch verschwören und – gestern hab ich schon einen von euch verpackt und über die Grenze geschickt.‘

‚Gestern‘, fragte ich, ‚wen?‘

‚Den Schrella‘, sagte er, ‚er hat sich hier versteckt, und ich habe ihn zwingen müssen, mit der ,Anna Katharina’ abzufahren.‘

‚Auf der ,Anna Katharina’ wollte Alois immer Steuermann werden!‘

‚Er ist Steuermann auf der ,Anna Katharina’ – komm jetzt.‘

Ich stolperte, als wir an der schrägen Kaimauer entlang unterhalb der Böschung auf Trischlers Haus zugingen, stand auf, fiel wieder, stand auf, und die ruckhaften Bewegungen rissen Hemd und Haut immer wieder auseinander, verklebten sie, rissen sie auseinander, und der ständig neu gestachelte Schmerz hob mich in einen Zustand der Besinnungslosigkeit, in dem Bewegungen, Farben, Gerüche aus tausend Erinnerungen sich ineinander verfingen, übereinander lagerten; bunte Chiffren von wechselnder Farbe, wechselndem Gefälle, wechselnder Richtung, wurden vom Schmerz aus mir herausgeschleudert.

Hochwasser, dachte ich, Hochwasser, immer schon hatte ich den Wunsch gespürt, mich hineinzuwerfen und auf den grauen Horizont zutreiben zu lassen.

Im Traum beschäftigte mich lange die Frage, ob man in einem Henkelmann eine Stacheldrahtpeitsche verbergen könne; Erinnerungen an Bewegungen setzten sich in Linien um, die sich zu Figuren fügten; grüne, schwarze, rote Figuren waren wie Kardiogramme, die Rhythmen einer bestimmten Person darstellten: der Ruck, mit dem Alois Trischler die Angel hochgezogen hatte, wenn wir im alten Hafen fischten, wie er die Schnur mit dem Köder ins Wasser schnellte, sein wandernder Arm, der das Tempo des Wassers anzeigte: grün auf grau gezeichnete genaue Figur; Nettlinger, wie er den Arm hob, um Schrella den Ball ins Gesicht zu werfen, das Zittern seiner Lippen, das Beben seiner Nasenflügel, es setzte sich in eine graue Figur, die der Spur einer Spinne glich; wie von Fernschreibern, die ich nicht orten konnte, wurden mir Personen ins Gedächtnis stigmatisiert: Edith am Abend nach dem Schlagballspiel, als ich mit Schrella nach Hause ging; Ediths Gesicht im Park draußen in Blessenfeld, unter mir; als wir im Gras lagen, wurde es naß vom Sommerregen, Tropfen glänzten auf ihrem blonden Haar, rollten an ihren Brauen entlang, ein Kranz silberner Tropfen, den Ediths atmendes Gesicht hob und senkte: der Kranz blieb mir in Erinnerung wie das Skelett eines Meerestieres, auf rostfarbenem Strand gefunden und vervielfältigt zu unzähligen Wölkchen gleichen Ausmaßes, die Linie ihres Mundes, als sie zu mir sagte: ‚Sie werden dich töten.‘ Edith.

Der Verlust der Schulmappe quälte mich im Traum – korrekt war ich immer – , ich riss einem mageren Huhn den grüngrauen Band Ovid aus dem Schnabel; ich feilschte mit der Platzanweiserin im Kino um das Hölderlingedicht, das sie aus meinem Lesebuch gerissen hatte, weil sie es so schön fand: Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest.

Abendessen, von Frau Trischler gebracht: Milch, ein Ei, Brot, ein Apfel; ihre Hände wurden jung, wenn sie meinen zerschundenen Rücken mit Wein wusch, Schmerz flammte auf, wenn sie den Schwamm ausdrückte und der Wein in den Furchen meines Rückens abfloss; sie goss Öl nach, und ich fragte sie: ‚Woher wussten Sie, dass man es so machen kann?‘

‚In der Bibel kannst du nachlesen, wie man es macht‘, sagte sie, ‚und ich hab’s schon mal gemacht, bei deinem Freund Schrella! Alois wird übermorgen kommen, Sonntag fährt er dann von Ruhrort nach Rotterdam! Du brauchst keine Angst zu haben‘, sagte sie, ‚die machen das schon; auf dem Fluss kennt man sich, wie man sich in einer Straße kennt. Noch etwas Milch, Junge?‘

‚Nein, danke.‘

‚Keine Sorge. Montag oder Dienstag bist du in Rotterdam. Was ist denn, was hast du denn?‘

Nichts. Nichts. Immer noch liefen die Suchmeldungen: rote Narbe überm Nasenbein. Vater, Mutter, Edith – ich wollte nicht das Differential der Zärtlichkeiten errechnen, nicht die Litanei der Schmerzen abbeten; heiter war der Fluss, weiße Feriendampfer mit bunten Wimpeln; heiter waren auch die Frachter, rot gestrichen, grün und blau, brachten Kohle und Holz von hier nach dort, von dort nach hier; drüben am Ufer die grüne Allee, schneeweiß die Terrasse vom Cafe Bellevue, dahinter der Turm von Sankt Severin, die scharfe rote Lichtkante am Hotel Prinz Heinrich, nur hundert Schritte von dort bis zum Elternhaus; dort saßen sie gerade beim Abendessen, einer gewaltigen Mahlzeit, über die Vater wie ein Patriarch regierte: Samstag, mit sabbatischer Feierlichkeit begangen; war der rote Wein nicht zu kühl, der weiße kühl genug?

‚Keine Milch mehr, Junge?‘

‚Nein, danke, Frau Trischler, wirklich nicht.‘

Motorisierte Boten rasten durch die Stadt, mit rotumrandeten Zetteln, von Plakatsäule zu Plakatsäule: ‚Hinrichtung!‘ ‚Der Schüler Robert Fähmel…‘; Vater betete beim Abendbrot: Der für uns ist gegeißelt worden, Mutter beschrieb eine demütige Figur vor ihrer Brust, bevor sie sagte: ‚Die Welt ist böse, es gibt so wenig reine Herzen‘, und Ottos Schuhe, noch schlugen sie den Takt Bruder, Bruder auf den Boden, auf die Fliesen, die Straße hinab bis zum Modesttor.

Es war die ‚Stilte‘, die draußen tutete, die hellen Töne rissen den Abendhimmel auf, furchten sich weiß wie Blitze ins dunkle Blau. Ich lag schon auf der Zeltbahn, wie jemand, der auf offener See gestorben ist und dem Meer überliefert werden soll; Alois hielt die Zeltbahn schon hoch, um mich einzuwickeln; weiß in grau eingewebt las ich deutlich: ‚Morrien. Ijmuiden.‘ Frau Trischler beugte sich über mich, weinte, küsste mich, und Alois rollte mich langsam ein, als wäre mein Leichnam ein besonders kostbarer, nahm mich auf den Arm. ‚Söhnchen‘, rief der Alte, ‚Söhnchen, vergiss uns nicht.‘

Abendwind, noch einmal tutete die ‚Stilte‘ freundlich mahnend, in der Hürde blökten die Schafe, der Eismann rief ‚Eis, Eis‘, schwieg dann und spachtelte gewiss Vanilleeis in bröcklige Waffeln. Leicht federte die Planke, über die Alois mich trug, und eine Stimme fragte leise: ‚Ist er das?‘ Und Alois sagte ebenso leise: ‚Das ist er.‘ Murmelte mir zum Abschied zu: ‚Denk daran, Dienstag abend im Hafen von Rotterdam.‘ Andere Arme trugen mich, Treppen hinunter, es roch nach Öl, nach Kohlen, dann nach Holz, fern klang das Tuten, die ‚Stilte‘ bebte, dunkles Dröhnen schwoll an, und ich spürte, dass wir fuhren, rheinabwärts, immer weiter weg von Sankt Severin.“

Der Schatten von Sankt Severin war näher gerückt, füllte schon das linke Fenster des Billardzimmers, streifte das rechte; die Zeit, von der Sonne vor sich hergeschoben, kam wie eine Drohung näher, füllte die große Uhr auf, die sich bald erbrechen und die schrecklichen Schläge von sich geben würde; weiß über grün, rot über grün rollten die Kugeln; Jahre zerschnitten, Jahrzehnte übereinander gehäuft und Sekunden, Sekunden wie Ewigkeiten serviert mit ruhiger Stimme; nur jetzt nicht wieder Cognac holen müssen, dem Kalenderblatt begegnen und der Uhr, nicht der Schafspriesterin und So was dürfte nicht geboren werden; nur noch einmal den Spruch hören Weide meine Lämmer, und von der Frau hören, die im Sommerregen im Gras gelegen hatte; ankernde Schiffe, Frauen, die über Stege schritten, und der Ball, den Robert schlug, Robert, der nie vom Sakrament des Büffels gegessen hatte, stumm weiterspielte, immer neue Figuren mit dem Stock aus zwei Quadratmetern schlug.

„Und du, Hugo“, sagte er leise, „willst du mir heute nichts erzählen?“

„Ich weiß nicht, wie lange es war, aber ich meine, es wäre ewig gewesen: immer, wenn die Schule aus war, schlugen sie mich. Manchmal wartete ich, bis ich sicher wusste, sie waren alle zum Essen gegangen, und die Frau, die die Schule putzte, war schon unten bei dem Flur, wo ich wartete, angekommen und fragte: ‚Was machst du denn noch hier, Junge? Deine Mutter wartet doch sicher auf dich.‘

Aber ich hatte Angst, wartete, bis auch die Putzfrau ging, und ließ mich in die Schule einschließen; es gelang mir nicht immer, denn meistens warf mich die Putzfrau hinaus, bevor sie abschloss, aber wenn es mir gelang, eingeschlossen zu werden, war ich froh; zu essen fand ich in den Pulten und in den Abfalleimern, die die Putzfrau für die Müllabfuhr im Flur bereitgestellt hatte, genug belegte Brote, Äpfel und Kuchenreste. So war ich allein in der Schule, und sie konnten mir nichts tun. Ich duckte mich in die Lehrergarderobe, hinter dem Kellereingang, weil ich Angst hatte, sie könnten zum Fenster hereinschauen und mich entdecken, aber es dauerte lange, bis sie herausbekamen, dass ich mich in der Schule versteckte. Oft hockte ich da stundenlang, wartete, bis es Abend wurde, bis ich ein Fenster öffnen und hinaussteigen konnte. Oft blickte ich lange auf den leeren Schulhof: gibt es etwas Leereres als so einen Schulhof am späten Nachmittag? Das waren herrliche Zeiten, bevor sie herausbekamen, dass ich mich in der Schule einschließen ließ. Ich hockte da, in der Lehrergarderobe oder unterhalb der Fensterbank, und wartete auf etwas, das ich nur dem Namen nach kannte: auf Hass. Ich hätte sie so gern gehasst, aber ich konnte nicht, Herr Doktor. Nur Angst. An manchen Tagen wartete ich auch nur bis drei oder bis vier und dachte, sie wären jetzt alle gegangen, ich hätte schnell über die Straße, an Meids Stall vorüber und um den Kirchhof nach Hause laufen und mich dort einschließen können. Aber sie hatten einander abgelöst, waren abwechselnd zum Essen gegangen – denn aufs Essen verzichten, das konnten sie nicht – , und wenn sie auf mich zurannten, roch ich schon von weitem, was sie gegessen hatten: Kartoffeln mit Sauce, Braten, oder Kraut mit Speck, und während sie mich schlugen, dachte ich: Wozu ist Christus gestorben, was nützt mir denn sein Tod, was nützt es mir, wenn sie jeden Morgen beten, jeden Sonntag kommunizieren und die großen Kruzifixe in ihren Küchen hängen, über den Tischen, von denen sie Kartoffeln mit Sauce, Braten oder Kraut mit Speck essen? Nichts. Was soll das alles, wenn sie mir jeden Tag auflauern und mich verprügeln? Da hatten sie also seit fünfhundert oder sechshundert Jahren – und waren sogar stolz auf das Alter ihrer Kirche —, hatten vielleicht seit tausend Jahren ihre Vorfahren auf dem Friedhof begraben, hatten seit tausend Jahren gebetet und unterm Kruzifix Kartoffeln mit Sauce und Speck mit Kraut gegessen. Wozu? Und wissen Sie, was sie schrien, während sie mich verprügelten? Lamm Gottes. Das war mein Spitzname.“

Rot über grün, weiß über grün, neue Figuren tauchten wie Zeichen auf; rasch verweht, nichts blieb; Musik ohne Melodie, Malerei ohne Bild; nur Vierecke, Rechtecke, Rhomben in vielfacher Zahl; klingende Bälle am schwarzen Rand.

„Und später versuchte ich es anders, verschloss die Tür zu Hause, schob Möbel davor, türmte auf, was ich finden konnte. Kisten, Gerümpel und Matratzen, bis sie die Polizei alarmierten, und die kam, den Schulschwänzer abzuholen; die umstellte das Haus, schrie: ‚Komm raus, du Bengel‘, aber ich kam nicht raus, und sie brachen die Tür auf, schoben die Möbel beiseite, und sie hatten mich, brachten mich in die Schule, auf dass ich weiter geprügelt, weiter in die Gosse gestoßen, weiter Lamm Gottes geschimpft würde; er hatte doch gesagt: weide meine Lämmer, aber sie weideten seine Lämmer nicht, wenn es überhaupt seine Lämmer waren. Alles vergebens, Herr Doktor, umsonst weht der Wind, umsonst fällt der Schnee, umsonst blühen die Bäume und fallen die Blätter – sie essen Kartoffeln mit Sauce oder Speck mit Kraut.

Manchmal war sogar meine Mutter zu Hause, betrunken und schmutzig, roch nach Tod, dunstete Verwesung aus und schrie: wozuwozuwozu, schrie es öfter als alle Erbarme dich unser[28 - Worte aus dem Ordinariumstext, feststehendem Messtext der römisch-katholischen Kirche.] in allen Litaneien; es machte mich wahnsinnig, wenn sie so stundenlang wozuwozuwozu schrie, und ich lief weg, ein nasses Gotteslamm, lief durch den Regen, hungrig, Lehm klebte mir an den Schuhen, am Körper, ganz eingepackt in nassen Lehm war ich, hockte da auf ihren Rübenfeldern, aber ich lag lieber in lehmigen Furchen, ließ den Regen auf mich regnen, als dieses schreckliche Wozu zu hören, und irgendwer erbarmte sich meiner, irgendwann, brachte mich nach Hause, in die Schule zurück, heim in dieses Nest, das Denklingen hieß, und sie schlugen mich wieder, riefen mich Lamm Gottes, und meine Mutter betete ihre endlose, schreckliche Litanei: Wozu?, und ich lief wieder weg, und wieder erbarmten sie sich meiner, und diesmal brachten sie mich in die Fürsorge. Dort kannte mich niemand, keins von den Kindern, keiner von den Erwachsenen, aber ich war noch nicht zwei Tage in der Fürsorge, nannten sie mich auch dort Lamm Gottes, und ich bekam Angst, obwohl sie mich nicht schlugen: sie lachten nur über mich, weil ich so viele Worte nicht kannte; das Wort Frühstück; ich kannte nur: essen, irgendwann, wenn etwas da war oder ich etwas fand; aber als ich auf der Tafel las: Frühstück 30 Gramm Butter, 200 Gramm Brot, 50 Gramm Marmelade, Milchkaffee, fragte ich einen: ‚Was ist das, Frühstück?‘ Und sie umringten mich alle, auch die Erwachsenen kamen, sie lachten und fragten: ‚Frühstück, weißt du nicht, was das ist, hast du denn noch nie gefrühstückt?‘ ‚Nein‘, sagte ich. ‚Und in der Bibel‘, sagte der eine Erwachsene, ‚hast du da nie das Wort Frühstück gelesen?‘, und der andere Erwachsene fragte den einen: ‚Sind Sie so sicher, dass in der Bibel das Wort Frühstück überhaupt vorkommt?‘ ‚Nein‘, sagte der eine, ‚aber irgendwo, in irgendeinem Lesestück oder zu Hause, muss er doch das Wort Frühstück einmal gehört haben, er ist doch bald dreizehn, das ist schlimmer als bei Wilden; jetzt kann man sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Sprachzerfalls machen. ‘ Und ich wusste nicht, dass Krieg gewesen war, vor kurzer Zeit, und sie fragten mich, ob ich denn nie auf einem Friedhof gewesen sei, wo auf den Grabsteinen stand: ‚Gefallen‘, und ich sagte, doch, das hätte ich gesehen, und was ich mir denn unter ‚gefallen‘ vorgestellt hätte, und ich sagte, ich hätte mir vorgestellt, die dort beerdigt seien, wären tot umgefallen; da lachten sie noch mehr als bei dem Frühstück, und sie gaben uns Geschichtsunterricht, vom Anfang der Zeiten an, aber bald war ich vierzehn, Herr Doktor, und der Hoteldirektor kam ins Heim, und wir vierzehnjährigen Jungen mussten uns auf dem Flur vor dem Zimmer des Rektors aufstellen, und der Rektor kam mit dem Hoteldirektor. Und sie gingen an uns vorbei, blickten uns in die Augen und sagten beide, sagten wie aus einem Munde: ‚Dienen, wir suchen Jungen, die dienen können‘, aber sie suchten nur mich heraus. Ich musste sofort meine Sachen in einen Karton packen und fuhr mit dem Hoteldirektor hierher, und er sagte im Auto zu mir: ‚Hoffentlich erfährst du nie, wieviel dein Gesicht wert ist. Du bist ja das reinste Lamm Gottes‘, und ich hatte Angst, Herr Doktor, habe sie immer noch und warte immer darauf, dass sie mich schlagen.“

„Schlagen sie dich?“

„Nein, nie. Nur möcht ich so gern wissen, was der Krieg war, ich musste ja aus der Schule weg, bevor sie es mir erklären konnten. Kennen Sie den Krieg?“

„Ja.“

„Haben Sie ihn mitgemacht?“

„Ja.“

„Was haben Sie getan?“

„Ich war Spezialist für Sprengungen, Hugo. Kannst du dir darunter etwas vorstellen?“

„Ja, ich habe gesehen, wie sie im Steinbruch hinter Denklingen sprengten.“

„Genau das hab ich gemacht, Hugo, nur habe ich nicht Felsen gesprengt, sondern Häuser und Kirchen. Das hab ich noch nie jemandem erzählt, außer meiner Frau, aber die ist schon lange tot, und so weiß es niemand außer dir, nicht einmal meine Eltern und meine Kinder wissen es. Du weißt, dass ich Architekt bin und eigentlich Häuser bauen sollte, aber ich hab nie welche gebaut, immer nur welche gesprengt, und auch die Kirchen, die ich als Junge auf zartes Zeichenpapier zeichnete, weil ich davon träumte, sie zu bauen; die hab ich nie gebaut. Als ich zur Armee kam, fanden sie in meinen Papieren einen Hinweis, dass ich eine Doktorarbeit über ein statisches Problem geschrieben hatte. Statik, Hugo, das ist die Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte, die Lehre vom Spannungs- und Verschiebungszustand von Tragwerken; ohne Statik kannst du nicht einmal eine Negerhütte bauen, und das Gegenteil von Statik ist die Dynamik, das klingt nach Dynamit, wie man es beim Sprengen braucht, und hängt auch mit Dynamit zusammen. Den ganzen Krieg über hatte ich nur mit Dynamit zu tun. Ich verstand was von Statik, Hugo, verstand auch was von Dynamik, verstand eine ganze Menge von Dynamit, hab alle Bücher verschlungen, die es darüber gab. Man muss, wenn man sprengen will, nur wissen, wo man die Ladung anbringt und wie stark sie sein muss. Das konnte ich, Junge, und ich sprengte also, ich sprengte Brücken und Wohnblocks, Kirchen und Bahnüberführungen, Villen und Straßenkreuzungen, ich bekam Orden dafür und wurde befördert: vom Leutnant zum Oberleutnant, vom Oberleutnant zum Hauptmann, und ich bekam Sonderurlaub und Belobigungen, weil ich so gut wusste, wie man sprengen muss. Und am Schluss des Krieges war ich einem General unterstellt, der hatte nur ein Wort im Kopf: Schussfeld. Weißt du, was Schussfeld ist? Nein?“

Fähmel hob den Billardstock wie ein Schießgewehr an die Schulter, zielte mit der Spitze nach draußen, auf den Turm von Sankt Severin.

„Siehst du“, sagte er, „wenn ich jetzt auf die Brücke schießen wollte, die hinter Sankt Severin liegt, würde die Kirche im Schussfeld liegen, also müsste Sankt Severin gesprengt werden, ganz rasch, sofort und schnell, damit ich auf die Brücke schießen könnte, und ich sag dir, Hugo, ich hätte Sankt Severin in die Luft gesprengt, obwohl ich wusste, dass mein General verrückt war, und obwohl ich wusste, dass Schussfeld ein leerer Wahn ist, denn von oben, verstehst du, brauchst du kein Schussfeld, und schließlich konnte es auch dem einfältigsten aller Generale nicht verborgen bleiben, dass inzwischen die Flugzeuge erfunden worden waren, aber meiner war verrückt und hatte seine Lektion gelernt: Schussfeld, und ich besorgte es ihm; ich hatte eine gute Mannschaft beisammen: Physiker und Architekten, und wir sprengten, was uns in den Weg kam; das letzte war was Großes, was Gewaltiges, ein ganzer Komplex riesiger, sehr solider Gebäude: eine Kirche, Stallungen, Mönchszellen, ein Verwaltungsgebäude, ein Bauernhof, eine ganze Abtei, Hugo – die lag genau zwischen zwei Armeen, einer deutschen und einer amerikanischen —, und ich besorgte der deutschen Armee ihr Schussfeld, das sie gar nicht brauchte; da knieten sich Mauern vor mir nieder, auf den Höfen brüllte das Vieh in den Ställen, und die Mönche verfluchten mich, aber ich war nicht aufzuhalten, die ganze Abtei Sankt Anton im Kissatal sprengte ich, drei Tage vor Kriegsschluss. Korrekt, Junge, immer korrekt, wie du mich kennst.“

Er senkte den Stock, den er immer noch auf sein imaginäres Ziel gerichtet hielt, legte ihn wieder in die Fingerbeuge, stieß die Billardkugel an; weiß rollte sie über grün, schlug in wildem Zickzack vom schwarzen Rand zum schwarzen Rand. Dumpf erbrachen die Glocken von Sankt Severin die Zeit, aber wann, wann schlug es elf?

„Sieh doch mal nach, Junge, was der Lärm an der Tür bedeutet.“

Noch einmal stieß er zu: rot über grün, ließ die Kugeln auslaufen, legte den Stock hin.

„Der Herr Direktor bittet Sie, einen Herrn Dr. Nettlinger zu empfangen.“

„Würdest du einen empfangen, der Nettlinger heißt?“

„Nein.“

„Zeig mir, wie ich hier herauskomme, ohne durch diese Tür zu müssen.“

„Sie können durch den Speisesaal gehen, Herr Doktor, dann kommen Sie in der Modestgasse heraus.“

„Auf Wiedersehen, Hugo, bis morgen.“

„Auf Wiedersehen, Herr Doktor.“

Kellnerballett, Boyballett: sie deckten die Tische zum Mittagessen, schoben in genau vorgeschriebener Ordnung Teewagen von Tisch zu Tisch, legten Silber auf, wechselten die Blumenvasen aus; statt der weißen Nelken in schlanken Vasen demütige Veilchen in runden Vasen; nahmen Marmeladegläser vom Tisch, stellten Weingläser, runde für roten, schlanke für weißen, auf die Tische; nur eine einzige Ausnahme; Milch für die Schafpriesterin, sie sah in der Kristallkaraffe grau aus.