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Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке

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Nettlinger? Hab ich den Namen nicht schon mal gehört? Das ist so ein Gesicht, bei dem mir was einfallen müsste, was ich nicht vergessen wollte. Ich habe den Namen schon gehört, vor vielen Jahren, und mir damals gesagt: den musst du dir merken, vergiss ihn nicht, aber nun weiß ich nicht mehr, was ich mir merken wollte. Auf jeden Fall: Vorsicht. Dir würde speiübel, wenn du wusstest, was der alles schon gemacht hat, du würdest bis an dein seliges Ende nicht aufhören können zu kotzen, wenn du den Film ansehen müsstest, den der am Tag des Gerichts vorgespielt bekommt: den Film seines Lebens; das ist so einer, der Leichen die Goldzähne ausbrechen, Kindern das Haar abschneiden lässt. Unheil oder Laster? Nein, Mord lag in der Luft.

Und diese Leute wussten nie, wann ein Trinkgeld angebracht war; nur daran konnte man Klasse erkennen; jetzt wäre der Augenblick vielleicht für eine Zigarre gewesen, aber nicht für Trinkgeld, und keinesfalls für ein so hohes: den grünen Zwanziger, den er grinsend über die Theke schob. Wie dumm die Leute sind. Kennen nicht die primitivsten Gesetze der Menschenbehandlung, nicht die einfachsten Gesetze der Portierbehandlung; als wenn im Prinz Heinrich ein Geheimnis überhaupt zu verkaufen wäre; als wenn ein Gast, der vierzig oder sechzig fürs Zimmer zahlt, um einen grünen Zwanziger zu haben wäre; zwanzig von einem Unbekannten, dessen einziger Ausweis seine Zigarre und sein Anzugstoff ist. Und so was wurde dann Minister, vielleicht Diplomat und kannte nicht einmal das kleine Einmaleins der schwierigsten aller Künste, der Bestechung. Betrübt schüttelte Jochen den Kopf, ließ den grünen Schein unberührt. Voll ist ihre Rechte von Geschenken.

Kaum zu glauben: dem grünen Schein wurde ein blauer hinzugelegt, das Angebot auf dreißig erhöht, eine dicke Wolke Partagas-Eminentes-Duft in Jochens Gesicht gepustet.

Blas du nur, puste mir nur deinen Viermarkzigarrenrauch ins Gesicht, und leg noch ’nen violetten Schein hinzu. Jochen ist nicht zu kaufen. Nicht für dich und nicht für dreitausend; ich hab nicht viele Menschen in meinem Leben gemocht, aber den Jungen hab ich gern. Pech gehabt, Freund mit dem gewichtigen Gesicht, mit der unterschriftsträchtigen Hand, eineinhalb Minuten zu spät gekommen. Du müsstest doch riechen, dass Geldscheine hier das am wenigsten Angebrachte sind, bei mir. Ich hab sogar einen Vertrag in der Tasche, notariell bestätigt, dass ich auf Lebenszeit mein Kämmerchen da oben unterm Dach bewohnen, meine Tauben halten darf; ich kann mir zum Frühstück, zum Mittagessen aussuchen, worauf ich Lust habe und krieg noch einhundertundfünfzig Mark monatlich bar in die Hand gedrückt, dreimal soviel, wie ich wirklich für meinen Tabak brauche; ich hab Freunde in Kopenhagen, in Paris und Warschau und Rom – und wenn du wüsstest, wie Brieftaubenleute zusammenhalten —, aber du weißt ja nichts, glaubst nur zu wissen, dass man mit Geld alles erreichen kann; das sind so Lehren, wie ihr sie euch selbst erteilt. Und natürlich, Hotelportiers, die tun um Geld alles, verkaufen dir ihre eigene Großmutter für einen violetten Fünfziger. Nur eins darf ich hier nicht, Freund, eine einzige Ausnahme hat meine Freiheit: ich darf hier unten, wenn ich Portierdienst tue, nicht meine Pfeife rauchen, und diese Ausnahme bedaure ich heute zum ersten Mal, sonst würde ich deiner Partagas Eminentes meinen schwarzen Krausen entgegenpusten. Du kannst mich – deutlich und klar ausgesprochen – ein paar hundert und siebenundzwanzigmal am Arsch lecken. Den Fähmel verkauf ich dir nicht. Der soll ungestört von halb zehn bis elf da oben Billard spielen, obwohl ich Besseres für ihn zu tun wüsste; nämlich: an deiner Stelle im Ministerium zu sitzen. Oder zu tun, was er in seiner Jugend getan hat: Bomben zu werfen, um Drecksäcken wie dir den Hosenboden einzuheizen. Aber bitte, wenn er von halb zehn bis elf Billard spielen will, so soll er, und ich bin dazu da, dafür zu sorgen, dass niemand ihn stört. Und jetzt kannst du die Geldscheine wieder wegnehmen und die Platte putzen, und wenn du jetzt noch einen Geldschein hinlegst, weiß ich nicht, was passiert. Ich hab Taktlosigkeiten mit dem Schaumlöffel gefressen und Geschmacklosigkeiten zentnerweise mit duldender Miene über mich ergehen lassen, hab Ehebrecher und Schwule hier in meine Liste eingetragen, wildgewordene Ehefrauen und Hahnreie abgewimmelt – und glaub nicht, dass mir das an der Wiege gesungen worden ist. Ich war immer ein braver Junge, war Messiener, wie du es bestimmt warst, und hab im Kolpingverein die Lieder vom Vater Kolping und vom Heiligen Aloisius[10 - Aloisius von Gonzaga (*9. März 1568 in Castiglione delle Stiviere (bei Mantua, Norditalien), † 21. Juni 1591 in Rom) – Schutzpatron der Jugend gehört zu den in jungen Jahren gestorbenen Heiligen. Aloisius wurde heilig gesprochen im Jahr 1726.] gesungen; da war ich zwanzig und tat schon sechs Jahre in dieser Bude Dienst. Und wenn ich den Glauben an die Menschheit nicht verloren habe, dann nur, weil es ein paar gibt, die wie der junge Fähmel und seine Mutter sind. Steck dein Geld weg, nimm die Zigarre aus dem Mund, mach eine höfliche Verbeugung vor einem alten Mann wie mir, der mehr Laster gesehen hat, als du dir Träumen lässt, lass dir von dem Boy da hinten die Drehtür aufhalten und verschwinde.

„Hab ich recht gehört? Du willst den Geschäftsführer sprechen?“

Da lief er rot an, wurde ganz blau vor Wut – verflucht, hab ich wieder laut gedacht und dich möglicherweise gar laut geduzt; das wäre natürlich peinlich, ein unverzeihlicher Fehler, denn Leute wie Sie, die duze ich nicht.

Was ich mich unterstehe? Ich bin ein alter Mann, fast siebzig, hab laut gedacht; ich bin ein bisschen verkalkt, vertrottelt und stehe unter dem Schutz des Paragraphen einundfünfzig, fress hier mein Gnadenbrot.

Wehr und Waffen? Die haben mir noch gefehlt. Zum Geschäftsführer bitte links herum, dann zweite Tür rechts, Beschwerdebuch in Saffian[11 - Saffianm <pers.> = (feines) Ziegenleder] gebunden. Und solltest du je hier Spiegeleier bestellen, und sollte ich gerade in der Küche sein, wenn die Bestellung durchkommt, dann werde ich mir eine Ehre daraus machen, dir höchstpersönlich in die Pfanne zu spucken. Dann bekommst du meine Liebeserklärung in natura[12 - in natura <lat> = in Wirklichkeit], mit zerschmolzener Butter vermischt. Gern geschehen, gnädiger Herr.

„Ich sagte ja schon, mein Herr. Hier links herum, dann zweite Tür rechts, die Geschäftsführung. Beschwerdebuch in Saffian gebunden. Sie möchten angemeldet werden? Gern. Vermittlung. Bitte den Herrn Direktor für Portier. Herr Direktor, ein Herr – wie war doch der Name? – Nettlinger, Verzeihung, Dr. Nettlinger möchte Sie dringend sprechen. In welcher Angelegenheit? Beschwerde über mich. Ja, danke. Der Herr Direktor erwartet Sie. Jawohl, gnädige Frau, heute abend Feuerwerk und Aufmarsch, die erste Straße links, dann die zweite rechts, wieder die dritte links, und Sie sehen schon das Schild: Zu den römischen Kindergräbern. Keine Ursache, gern geschehen. Vielen Dank.“ Eine Mark, die ist nicht zu verachten, aus so ’ner ehrlichen alten Lehrerinnenhand. Ja, sieh nur, wie ich das kleine Trinkgeld schmunzelnd annehme und das große ablehne. Römische Kindergräber sind eine klare Sache. Das Scherflein der Witwe wird hier nicht verschmäht. Und Trinkgeld ist die Seele des Berufs. „Ja, dort herum – ganz recht.“ Sie sind noch nicht aus dem Taxi gestiegen, da weiß ich schon, ob’s Ehebrecher sind. Ich rieche es aus der Ferne, kenne selbst die freieste aller freien Touren. Da gibt es die Schüchternen, denen man es so deutlich ansieht, dass man ihnen sagen möchte: ist ja nicht so schlimm, Kinder, ist alles schon vorgekommen; ich bin fünfzig Jahre im Fach und werde euch das Peinlichste ersparen. Neunundfünfzig Mark achtzig, einschließlich Trinkgeld, für ein Doppelzimmer, dafür könnt ihr getrost ein bisschen Entgegenkommen erwarten, und wenn euch die Leidenschaft gar zu sehr plagt, fangt möglichst nicht im Aufzug schon an. Im Prinz Heinrich wird hinter Doppeltüren geliebt… nicht so schüchtern die Herrschaften, nicht so bange; wenn ihr wüsstet, wer alles in diesen Räumen, die durch hohe Preise geheiligt sind, schon mit seiner sexuellen Not fertig geworden ist, da gab’s Fromme und Unfromme, Böse und Gute. Doppelzimmer mit Bad, eine Flasche Sekt aufs Zimmer. Zigaretten. Frühstück um halb elf. Sehr wohl. Bitte, hier unterschreiben, der Herr, nein, hier – und hoffentlich bist du nicht so blöde und schreibst deinen richtigen Namen hin. Das Ding geht wirklich zur Polizei, wird dann gestempelt, ist ein Dokument und hat Beweiskraft. Trau nur nicht der Diskretion der Behörden, mein Junge. Je mehr es davon gibt, desto mehr Futter brauchen sie. Vielleicht bist du auch mal Kommunist gewesen, dann sei doppelt vorsichtig. Ich bin’s auch mal gewesen, und katholisch war ich auch. Das geht nicht raus aus der Wäsche. Ich lass auch heute auf bestimmte Leute noch nichts kommen, und wer bei mir ’ne dumme Bemerkung über die Jungfrau Maria macht oder auf Vater Kolping schimpft, der kann was erleben. Boy, Zimmer 42. Dort geht es zum Aufzug, der Herr.

Auf die hab ich gerade gewartet, das sind die frechen Ehebrecher, die nichts zu verbergen haben, aller Welt zeigen wollen, wie frei sie sind. Aber wenn ihr nichts zu verbergen habt, warum müsst ihr dann so freche Gesichter machen und das Nichts-zu-verbergen-Haben so fingerdick auftragen? Wenn ihr wirklich nichts zu verbergen habt, braucht ihr’s ja nicht zu verbergen. Bitte, hier unterschreiben, der Herr, nein, hier. Na, mit dieser dummen Gans möchte ich nichts zu verbergen haben. Mit der nicht. Mit der Liebe ist es wie mit Trinkgeldern. Reine Instinktsache. Das sieht man doch ’ner Frau an, ob sich’s lohnt, mit der was zu verbergen zu haben. Mit der lohnt sich’s nicht. Kannst es mir glauben, mein Junge. Die sechzig Mark für Übernachtung, plus Sekt aufs Zimmer und Trinkgeld und Frühstück und was du ihr alles noch schenken musst: lohnt sich nicht. Da kriegst du von “nem anständigen ehrbaren Straßenmädchen, das sein Gewerbe gelernt hat, wenigstens was geliefert. Boy, Zimmer 43 für die Herrschaften. Ach Gott, sind die Menschen dumm. „Jawohl, Herr Direktor, ich komme sofort, jawohl, Herr Direktor.“

Natürlich sind Leute wie du zum Hoteldirektor wie geboren; das ist wie bei Frauen, die sich gewisse Organe herausnehmen lassen; da gibt es keine Probleme mehr, aber was wäre die Liebe ohne Probleme, und wenn sich einer das Gewissen rausnehmen lässt, bleibt nicht einmal ein Zyniker übrig. Ein Mensch ohne Trauer, das ist doch kein Mensch mehr. Dich habe ich als Boy ausgebildet, du bist vier Jahre lang unter meiner Fuchtel gewesen, hast dir dann die Welt angesehen, Schulen besucht, Sprachen gelernt, hast in nichtalliierten und alliierten Offizierskasinos den barbarischen Späßen besoffener Sieger und Besiegter beigewohnt, bist prompt hierher zurückgekommen, und deine erste Frage, als du glatt geworden, fett geworden, ohne Gewissen hier ankamst: ‚Ist der alte Jochen noch da?‘ Ich bin noch da, immer noch, mein Junge.

„Sie haben diesen Herrn gekränkt, Kühlgamme.“

„Nicht willentlich, Herr Direktor, und eigentlich war’s keine Kränkung. Ich könnte Ihnen Hunderte nennen, die es sich zur Ehre anrechnen würden, von mir geduzt zu werden.“

Krone der Unverschämtheit. Unglaublich.

„Es ist mir einfach entschlüpft, Herr Dr. Nettlinger. Ich bin ein alter Mann und stehe so halbwegs unter dem Schutz des Paragraphen einundfünfzig.“

„Der Herr verlangt Genugtuung…“

„Auf der Stelle. Ich rechne es mir, wenn Sie gestatten, nicht zur Ehre an, von Hotelportiers geduzt zu werden.“

„Bitten Sie den Herrn um Entschuldigung.“

„Ich bitte den Herrn um Entschuldigung.“

„Nicht in diesem Ton.“

„In welchem Ton denn? Ich bitte den Herrn um Entschuldigung, ich bitte den Herrn um Entschuldigung, ich bitte den Herrn um Entschuldigung. Das sind die drei Töne, die mir zur Verfügung stehen, und nun suchen Sie sich bitte den Ton, der Ihnen passt, aus. Sehen Sie, mir kommt’s gar nicht auf ’ne Demütigung an. Ich knie mich glatt hin, auf den Teppich hier, schlag mir an die Brust, ein alter Mann, der allerdings auch auf eine Entschuldigung wartet. Bestechungsversuch, Herr Direktor. Die Ehre unseres altrenommierten Hauses stand auf dem Spiel. Ein Berufsgeheimnis für dreißig lumpige Mark? Ich fühle mich in meiner Ehre getroffen und in der Ehre dieses Hauses, dem ich schon mehr als fünfzig Jahre diene, genau gesagt: sechsundfünfzig Jahre.“

„Ich bitte Sie, diese peinliche und lächerliche Szene abzubrechen.“

„Führen Sie den Herrn sofort ins Billardzimmer, Kühlgamme.“

„Nein.“

„Sie führen den Herrn ins Billardzimmer.“

„Nein.“

„Es würde mich betrüben, Kühlgamme, wenn das uralte Dienstverhältnis, das Sie mit diesem Haus verbindet, an der Verweigerung eines einfachen Befehls scheitern sollte.“

„In diesem Haus, Herr Direktor, ist nicht ein einziges Mal der Wunsch eines Gastes, ungestört zu bleiben, missachtet worden. Ausgenommen natürlich die Fälle höherer Gewalt. Geheime Staatspolizei. Da waren wir machtlos.“

„Betrachten Sie meinen Fall als einen Fall höherer Gewalt.“

„Sie kommen von der geheimen Staatspolizei?“

„Ich verbitte mir eine solche Frage.“

„Sie werden den Herrn jetzt ins Billardzimmer führen, Kühlgamme.“

„Wollen Sie, Herr Direktor, als erster das Banner der Diskretion beflecken?“

„Dann werde ich selber Sie ins Billardzimmer führen, Herr Doktor.“

„Nur über meine Leiche, Herr Direktor.“

Man muss so korrupt sein wie ich, so alt wie ich, um zu wissen, dass es Dinge gibt, die nicht käuflich sind; Laster ist nicht mehr Laster, wenn es keine Tugend mehr gibt, und was Tugend ist, kannst du nicht wissen, wenn du nicht weißt, dass es sogar Huren gibt, die gewisse Kunden abweisen. Aber ich hätte es wissen müssen, dass du ein Schwein bist. Wochenlang hab ich mit dir oben in meinem Zimmer geübt, wie man diskret ein Trinkgeld entgegennimmt, mit Groschenstücken, mit Markstücken und mit Scheinen; das muss man können: Geld diskret in Empfang nehmen, denn Trinkgeld ist die Seele des Berufs. Ich hab’s mit dir geübt, war eine Mordsarbeit, dir das beizubringen, aber du wolltest mich dabei beschwindeln, wolltest mir weismachen, wir hatten zum Üben nur drei Markstücke gehabt, aber es waren vier, und du wolltest mich um eins beschwindeln. So ein Schwein bist du schon immer gewesen, du wusstest nie, dass es das gab: ‚So was tut man nicht‘, und tust jetzt wieder was, was man nicht tut. Hast das Trinkgeldannehmen inzwischen gelernt, und sicher sind’s nicht einmal dreißig Silberlinge gewesen.

„Sie gehen jetzt sofort zum Empfang zurück, Kühlgamme, ich übernehme diese Sache. Treten Sie beiseite, ich warne Sie.“

Nur über meine Leiche, und es ist doch schon zehn vor elf, und in zehn Minuten wird er sowieso die Treppe herunterkommen. Ihr hättet nur ein bisschen nachzudenken brauchen, dann wäre uns das ganze Theater erspart geblieben, aber auch für zehn Minuten: Nur über meine Leiche. Ihr habt nie gewusst, was Ehre ist, weil ihr nicht wusstet, was Unehre ist. Hier steh ich, Jochen, Hotelfaktotum, korrupt, von oben bis unten voll lasterhaften Wissens, aber nur über meine Leiche kommt ihr ins Billardzimmer.

Kapitel III

Er spielte schon lange nicht mehr nach Regeln, wollte nicht Serien spielen, Points sammeln; er stieß eine Kugel an, manchmal sanft, manchmal hart, scheinbar sinnlos und zwecklos. Sie hob, indem sie die beiden anderen berührte, für ihn jedesmal eine neue geometrische Figur aus dem grünen Nichts; Sternenhimmel, in dem nur wenige Punkte beweglich waren; Kometenbahnen, weiß über grün, rot über grün geschlagen; Spuren leuchteten auf, die sofort wieder ausgelöscht wurden; zarte Geräusche deuteten den Rhythmus der gebildeten Figur an: fünfmal, sechsmal, wenn die angestoßene Kugel die Bande oder die anderen Kugeln berührte; nur wenige Töne hoben sich aus der Monotonie heraus, hell oder dunkel; die wirbelnden Linien waren alle an Winkel gebunden, unterlagen geometrischen Gesetzen und der Physik; die Energie des Stoßes, die er durch das Queue dem Ball mitteilte, und ein wenig Reibungsenergie; alles nur Maß; es prägte sich dem Gehirn ein; Impulse, die sich zu Figuren umprägen ließen; keine Gestalt und nichts Bleibendes, nur Flüchtiges, löschte sich im Rollen der Kugel wieder aus; oft spielte er halbe Stunden lang nur mit einem einzigen Ball: weiß über grün gestoßen, nur ein einziger Stern am Himmel; leicht, leise, Musik ohne Melodie, Malerei ohne Bild; kaum Farbe, nur Formel.

Der blasse Junge bewachte die Tür, lehnte gegen das weißlackierte Holz, die Hände auf dem Rücken, die Beine gekreuzt, in der violetten Uniform des Prinz Heinrich.

„Sie erzählen mir heute nichts, Herr Doktor?“

Er blickte auf, stellte den Stock ab, nahm eine Zigarette, zündete sie an, blickte zur Straße hin, die im Schatten von Sankt Severin lag. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße; graues Herbstlicht fiel von dem violetten Samtvorhang fast silbern zurück; von Velourvorhängen eingerahmt, frühstückten verspätete Gäste; selbst die weichgekochten Eier sahen in dieser Beleuchtung lasterhaft aus, biedere Hausfrauengesichter wirkten in diesem Licht verworfen; Kellner, befrackt, mit einverstandenen Augen, sahen aus wie Beelzebubs[13 - Beelzebub (auch Belzebub, Beelzebul, Beelzebock) m – Teufel.], Asmodis[14 - Asmodis (gr. Asmaidos lat. Asmodaeus, Asmodäus, hebr. Aschmedai (Talmud)) – ein Dämon aus der Mythologie des Judentums (Buch Tobit 3,8,17).] unmittelbare Abgesandte; und waren doch nur harmlose Gewerkschaftsmitglieder, die nach Feierabend beflissen die Leitartikel ihres Verbandsblättchens lasen; sie schienen hier ihre Pferdefüße unter geschickten orthopädischen Konstruktionen zu verbergen; wuchsen nicht elegante kleine Hörner aus ihren weißen, roten und gelben Stirnen? Der Zucker in den vergoldeten Dosen schien nicht Zucker zu sein; Verwandlungen fanden hier statt, Wein war nicht Wein, Brot nicht Brot, alles wurde zum Ingrediens geheimnisvoller Laster ausgeleuchtet; hier wurde zelebriert; und der Name der Gottheit durfte nicht genannt, nur gedacht werden.

„Erzählen, Junge, was?“

Seine Erinnerung hatte sich nie an Worte und Bilder gehalten, nur an Bewegungen. Vater, das war sein Gang, die kokette Kurve, die das rechte Hosenbein mit jedem Schritt beschrieb, rasch, so dass das dunkle blaue Stoßband nur für einen Augenblick sichtbar wurde, wenn er morgens an Gretzens Laden vorüber ins Cafe Kroner ging, um dort zu frühstücken; Mutter, das war die kompliziert – demütige Figur, die ihre Hände beschrieben, wenn sie sie auf der Brust faltete, immer kurz bevor sie eine Torheit aussprach: wie schlecht die Welt sei, wie wenig reine Herzen es gebe; ihre Hände schrieben es in die Luft, bevor sie es aussprach; Otto, das waren seine marschierenden Beine, wenn er durch den Hausflur ging, in Stiefeln, die Straße hinunter; Feindschaft, Feindschaft, schlug der Takt auf die Fliesen, schlugen diese Füße, die in den Jahren davor einen anderen Takt geschlagen hatten: ‚Bruder, Bruder.‘ Großmutter: die Bewegung, die sie siebzig Jahre lang gemacht hatte, und die er viele Male am Tag von seiner Tochter ausgeführt sah; jahrhundertalte Bewegung, die sich vererbte und ihn jedesmal erschrecken ließ; seine Tochter Ruth hatte ihre Urgroßmutter nie gesehen; woher hatte sie diese Bewegung? Ahnungslos strich sie sich das Haar aus der Stirn, wie ihre Urgroßmutter es getan hatte.

Und er sah sich selbst, wie er sich nach den Schlaghölzern bückte, um seins herauszusuchen; wie er den Ball in der linken Hand hin und her rollte, her und hin, bis er ihn griffig genug hatte, ihn im entscheidenden Augenblick genau dorthin zu werfen, wo er ihn haben wollte; so hoch, dass die Fallzeit des Balles genau der Zeit entsprach, die er brauchte, um umzugreifen, auch die linke Hand ums Holz zu legen, auszuholen und den Ball zu treffen, mit gesammelter Kraft, so, dass er weit fliegen würde, bis hinters Mal.

Er sah sich auf den Uferwiesen stehen, im Park, im Garten, gebückt, richtete sich auf, schlug zu. Es war alles nur Maß; sie waren Dummköpfe, wussten nicht, dass man die Fallzeit errechnen konnte, dass man mit denselben Stoppuhren auch erproben konnte, wie lange man braucht, den Griff zu wechseln; und dass alles weitere nur eine Frage der Koordinierung und der Übung war; ganze Nachmittage lang, auf den Wiesen, im Park, im Garten geübt; sie wussten nicht, dass es Formeln gab, die man anwenden, Waagen, auf denen man Bälle wiegen konnte. Nur ein bisschen Physik, ein bisschen Mathematik und Übung; aber sie verachteten ja die beiden Fächer, auf die es ankam; verachteten Training, mogelten sich durch, turnten wochenlang auf knochenweichen Sentenzen umher, fuhren Kahn auf nebulosem Dreck, fuhren Kahn sogar auf Hölderlin; sogar ein Wort wie Lot wurde, wenn sie es aussprachen, zu breiigem Unsinn; Lot, so etwas Klares; eine Schnur, ein Stück Blei, man warf es ins Wasser, spürte, wenn das Blei den Boden erreichte, zog die Schnur heraus und maß an ihr die Tiefe des Wassers ab; doch wenn sie loten sagten, klang es wie schlechtes Orgelspiel; sie konnten weder Schlagball spielen noch Hölderlin lesen. Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest[15 - Die Zeile aus dem Gedicht von Hölderlin „Wie wenn am Feiertage“.]. Sie zappelten vorn an der Linie herum, wollten ihn beim Schlag stören, riefen: ‚Los, Fähmel, mach voran, los‘; unruhig strich eine andere Gruppe ums Mal, zwei schon weit hinterm Spielfeld, wo seine Bälle herunterzukommen pflegten, gefürchtete Bälle; sie kamen meistens an der Straße aus, wo jetzt gerade an diesem Sommersamstag 1935 die dampfenden hellroten Pferde das Brauereitor verließen; dahinter der Bahndamm, eine Rangierlok puffte kindlich weiße Wolken in den Nachmittagshimmel; rechts an der Brücke zischten aus der Werft die Schneidbrenner, schweißten die Arbeiter in Überstunden einen Kraft-durch-Freude-Dampfer zusammen; bläuliche, silberne Funken zischten, und Niethämmer, Niethämmer schlugen den Takt; in den Schrebergärten kämpften frisch aufgestellte Vogelscheuchen vergebens gegen Spatzen, blasse Rentner mit erloschenen Tabakspfeifen warteten sehnsüchtig auf den Monatsersten – die Erinnerung an die Bewegungen, die er damals gemacht hatte, sie erst brachte Bilder und Worte und Farben hervor; hinter Formeln war es verborgen, das ‚Los, Fähmel, los‘, und er hatte den Ball schon an der richtigen Stelle liegen, nur leicht gehalten zwischen Fingern und Handballen, der Ball würde den geringstmöglichen Widerstand finden; er hatte sein Schlagholz schon in der Hand, das längste von allen (niemand kümmerte sich um die Hebelgesetze), es war oben mit Leukoplast umwickelt. Rasch noch einen Blick auf die Armbanduhr: drei Minuten und dreißig Sekunden, bis der Turnlehrer abpfeifen würde – und immer noch hatte er die Antwort auf die Frage nicht gefunden: Wie kam es, dass die vom Prinz-Otto-Gymnasium nichts gegen ihren Turnlehrer als Schiedsrichter beim Entscheidungsspiel eingewendet hatten? Er hieß Bernhard Wakiera, aber sie nannten ihn nur Ben Wackes, er sah melancholisch aus, war dicklich, stand im Ruf, Knaben platonisch zu lieben, mochte gern Sahnekuchen und träumerisch süße Filme, in denen starke blonde Knaben Flüsse durchschwammen, dann auf Wiesen lagen, Grashalme im Mund, und zum blauen Himmel hinaufblickten, auf Abenteuer warteten; dieser Ben Wackes liebte vor allem eine Nachbildung des Antinouskopfes[16 - Antinoos (latinisiert Antinous; * 27. November zwischen 110 und 115 in Bithynion-Klaudiopolis, Bithynien; † am oder kurz vor dem 30. Oktober 130 im Nil bei Besa) war ein Günstling und vermutlich Geliebter des römischen Kaisers Hadrian. Nach seinem Tod wurde er zum Gott erklärt und verehrt. Ideal jugendlicher Schönheit.], die er zu Hause zwischen Gummibäumen und Bücherregalen voll Turnlehrerliteratur zu kosen pflegte, sie angeblich jedoch nur abstaubte; Ben Wackes, der seine Lieblinge Jüngelchen, die anderen Bengels nannte.

‚Nun mach schon, Bengel‘, sagte er, schwitzend, mit bebendem Bauch, die Trillerpfeife im Mund.

Aber es waren immer noch drei Minuten und drei Sekunden bis zum Abpfiff, dreizehn Sekunden zu früh; wenn er jetzt schon schlüge, würde der nächste noch zum Schlag kommen, und Schrella, der oben am Mal auf Erlösung wartete, würde dann noch einmal losrennen müssen, und sie würden noch einmal Gelegenheit haben, ihm den Ball mit aller Kraft ins Gesicht, gegen die Beine zu werfen, die Nieren zu treffen; dreimal hatte er beobachtet, wie sie es machten: irgendeiner aus der Gegenpartei traf Schrella ab, dann nahm Nettlinger, der in seiner und Schrellas Partei spielte, den Ball, traf den Gegner ab, indem er ihm den Ball einfach zuwarf, und der traf wieder Schrella ab, der sich vor Schmerz krümmte, und wieder nahm Nettlinger den Ball, warf ihn dem Gegner einfach zu, der Schrella ins Gesicht traf – und Ben Wackes stand daneben, pfiff ab, wenn sie Schrella trafen, pfiff ab, wenn Nettlinger dem Gegner den Ball einfach zuwarf, pfiff ab, während Schrella wegzuhumpeln versuchte; rasch ging’s, die Bälle flogen hin und her – hatte er als einziger es gesehen? Nicht einer von all den vielen Zuschauern, die da mit ihren bunten Fähnchen und bunten Mützen fiebernd vor Spannung auf das Ende des Spiels warteten? Zwei Minuten und fünfzig Sekunden vor Schluss stand es 34:29 für das Prinz-Otto-Gymnasium – und war dies, das nur er gesehen hatte, der Grund dafür, dass sie Ben Wackes, ihren eigenen Turnlehrer, als Schiedsrichter akzeptiert hatten?

‚Jetzt mach aber, Bengel, in zwei Minuten pfeif ich ab.‘

‚Zwei Minuten und fünfzig Sekunden, bitte‘, sagte er, warf den Ball hoch, griff blitzschnell um und schlug; er spürte es an der Wucht des Schlages, am federnden Widerstand des Holzes: das war wieder einer seiner sagenhaften Treffer; er blinzelte hinter dem Ball her, konnte ihn nicht entdecken, hörte das Ah aus der Zuschauermenge, ein großes Ah, das sich wie eine Wolke ausbreitete, anwuchs; er sah Schrella herangehumpelt kommen, langsam kam er, hatte gelbe Flecken im Gesicht, eine blutige Spur um die Nase; und die Listenführer zählten: sieben, acht, neun; provozierend langsam kam der Rest der Mannschaft am wütenden Ben Wackes vorbei; gewonnen war das Spiel, klar gewonnen, und er hatte vergessen, loszurennen und noch einen zehnten Punkt zu gewinnen; immer noch suchten die Ottoner den Ball, krochen weit hinter der Straße im Gras an der Brauereimauer umher; deutlich war aus Ben Wackes Schlusspfiff der Ärger herauszuhören. 38:34 fürs Ludwig-Gymnasium verkündeten die Listenführer. Das Ah schwoll an zum Hurra, brandete über den Platz, während er sein Schlagholz nahm, es mit dem unteren Ende ins Gras bohrte, den Griff ein wenig hob, dann senkte, bis er den richtigen Winkel erwischt zu haben glaubte; er trat mit dem Fuß auf die schwächste Stelle, wo sich das Holz unterhalb des Griffes verjüngte; Schüler umringten ihn bewundernd, verstummten ergriffen; sie spürten: hier wurde ein Zeichen gegeben, wurde Fähmels berühmtes Schlagholz zerbrochen; tödlich weiß die Splitter, die an der Bruchstelle des zerbrochenen Holzes sichtbar wurden; schon balgten sie sich um Andenken, kämpften verbissen um Holzstücke, rissen sich Leukoplastfetzen aus den Fingern; er blickte erschrocken in diese erhitzten, törichten Gesichter, in diese bewundernden Augen, die vor Erregung glänzten, und spürte die billige Bitternis des Ruhmes, hier an einem Sommerabend, am 14. Juli 1935, samstags am Rande der Vorstadt, auf der zertrampelten Wiese, über die Ben Wackes gerade die Sextaner[17 - Sextanerm – Schüler der Sexta (ersterklasse eines Gymnasiums).] des Ludwig-Gymnasiums jagte, die Eckfähnchen einzusammeln. Weit hinter der Straße, an der Brauereimauer, waren immer noch die blaugelben Trikots zu sehen; immer noch suchten die Ottoner den Ball; jetzt kamen sie zögernd über die Straße, sammelten sich auf der Mitte des Spielfelds, traten in einer Reihe an, warteten auf ihn, den Mannschaftsführer, dass er das Hipp-Hipp-Hurra ausbringe; langsam ging er auf die beiden Reihen zu, da standen Schrella und Nettlinger in einer Reihe nebeneinander, nichts schien geschehen zu sein, nichts, während sich hinter ihm die jüngeren Schuler weiter um Andenken balgten; er ging weiter, spürte die Bewunderung der Zuschauer wie korperlichen Ekel, und er rief es dreimal: Hipp-Hipp-Hurra; wie geprügelte Hunde schlichen die Ottoner zurück, um den Ball zu suchen; es galt als unauslöschlicher Makel, ihn nicht gefunden zu haben.

„Und ich wusste doch, Hugo, wie scharf Nettlinger auf den Sieg gewesen war: ‚Siegen um jeden Preis‘, hatte er gesagt, und er hatte unseren Sieg aufs Spiel gesetzt, nur damit einer der Gegner Gelegenheit fände, Schrella immer wieder mit dem Ball zu treffen, und Ben Wackes musste mit ihnen im Bund sein; ich hatte es gesehen, ich als einziger.“

Er hatte Angst, als er jetzt auf die Umkleidekabinen zuging, Angst vor Schrella und dem, was er ihm sagen würde. Es war plötzlich kühl geworden, fließende Abendnebel stiegen aus den Wiesen hoch, kamen vom Fluss her, umgaben das Haus, wo die Umkleidekabinen lagen, wie Watteschichten. Warum, warum machten sie das mit Schrella, stellten ihm ein Bein, wenn er zur Pause die Treppe hinunterging; er schlug mit dem Kopf auf die stählerne Treppenkante, der Stahlbügel der Brille bohrte sich ins Ohrläppchen, und viel zu spät kam Wackes mit dem Erste-Hilfe-Kasten aus dem Lehrerzimmer. Nettlinger, mit höhnischem Gesicht, hielt ihm den Leukoplaststreifen stramm, damit er ein Stück abschneiden könne; sie überfielen Schrella auf dem Heimweg, zerrten ihn in Hauseingänge, verprügelten ihn zwischen Abfalleimern und abgestellten Kinderwagen, stießen ihn dunkle Kellertreppen hinunter, und dort unten lag er lange, mit gebrochenem Arm, im Kohlengeruch, Geruch keimender Kartoffeln, im Anblick staubiger Einmachgläser; bis ein Junge, der ausgeschickt war, Äpfel zu holen, ihn fand und die Hausbewohner alarmierte. Nur einige machten nicht mit: Enders, Drischka, Schweugel und Holten. – Vor Jahren war er einmal mit Schrella befreundet gewesen, sie hatten immer zusammen Trischler besucht, der am unteren Hafen wohnte, wo Schrellas Vater in der Kneipe von Trischlers Vater Kellner war; sie hatten auf alten Kähnen gespielt, auf ausrangierten Pontons, von Booten aus geangelt.

Er blieb vor den Umkleidekabinen stehen, hörte die wirren Stimmen, heiser in mythischer Erregung sprachen sie von der sagenhaften Flugbahn des Balles; als wäre der Ball in übermenschliche Höhen entschwunden.

‚Ich hab’s doch gesehen, wie er flog, flog – wie ein Stein, von der Schleuder eines Riesen geschleudert.‘

Ich hab ihn gesehen, den Ball, den Robert schlug.

Ich hab ihn gehört, den Ball, den Robert schlug.

Sie werden ihn nicht finden – den Ball, den Robert schlug.

Sie verstummten, als er eintrat; Angst lag in diesem plötzlichen Schweigen, fast tödlich war die Ehrfürcht vor dem, der getan hatte, was niemand würde glauben, man niemand würde mitteilen können; wer wurde als Zeuge auftreten, die Flugbahn des Balles zu beschreiben?

Rasch liefen sie, barfuß, die Frottiertücher um die Schultern geschlungen, in die Brausekabinen; nur Schrella blieb, er hatte sich angekleidet, ohne gebraust zu haben, und jetzt erst fiel Robert auf, dass Schrella nie brauste, wenn sie gespielt hatten; nie zog er sein Trikot aus; er saß da auf dem Schemel, hatte einen gelben, einen blauen Flecken im Gesicht, war noch feucht um den Mund herum, wo er die Blutspur abgewischt hatte, verfärbt die Haut an den Oberarmen von den Treffern des Balles, den die Ottoner immer noch suchten; saß da, rollte gerade die Ärmel seines verwaschenen Hemdes herunter, zog seine Jacke an, nahm ein Buch aus der Tasche und las: Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten[18 - Die erste Zeile Georg Trakls Gedichtes „Verfall“. Georg Trakl (* 3. Februar 1887 in Salzburg, Österreich; † 3. November 1914 in Krakau, Galizien) war ein österreichischer Lyriker und bedeutender Dichter des deutschsprachigen Expressionismus.].

Es war peinlich, allein mit Schrella zu sein, Dank entgegenzunehmen aus diesen kühlen Augen, die selbst zum Hassen zu kühl waren; nur eine winzige Wimperbewegung, ein flüchtiges Lächeln zum Dank, dem Erlöser, der den Ball geschlagen hatte; und er lächelte zurück, ebenso flüchtig, wandte sich dem Blechspind zu, suchte seine Kleider heraus, wollte rasch verschwinden, ohne zu brausen; in den Putz an der Wand, über seinem Spind hatte jemand eingeritzt: ‚Fähmels Ball, 14. Juli 1935‘.

Es roch nach ledrigen Turngeräten, nach trockener Erde, wie sie von Fußbällen, Handbällen, Schlagbällen abgetrocknet war und krümelig in den Ritzen des Betonbodens lag; schmutzige grün – weiße Fähnchen standen in den Ecken, Fußballnetze hingen zum Trocknen, ein zersplittertes Ruder, ein vergilbtes Diplom hinter rissigem Glas: ‚Den Pionieren des Fußballsports, der Unterprima des Ludwig-Gymnasiums 1903 – der Landesvorsitzende‘; von einem gedruckten Lorbeerkranz umrahmt das Gruppenfoto, und sie blickten ihn an, hartmuskelige Achtzehnjährige des Geburtsjahrgangs 1885, schnurrbärtig, mit tierischem Optimismus blickten sie in eine Zukunft, die ihnen das Schicksal bereithielt: bei Verdun[19 - Verdun ist eine Stadt an der Maas (frz. la Meuse) im Nordosten Frankreichs mit etwa 23.000 Einwohnern. Die Schlacht um Verdun war die größte Schlacht des Ersten Weltkrieges. Sie begann am 21. Februar 1916 mit einem Angriff deutscher Truppen auf die französischen Stellungen bei Verdun. Sie endete am 20. Dezember 1916 ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs.] zu vermodern, in den Sommesümpfen zu verbluten, oder auf einem Heldenfriedhof bei Chateau Thierry[20 - Château-Thierry ist eine Stadt im Nordosten Frankreichs ungefähr 90 km nordöstlich der Hauptstadt Paris. Die Stadt war auch Schauplatz einer wichtigen Schlacht des ersten Weltkrieges im Jahre 1918 zwischen amerikanischen und deutschen Truppen.] fünfzig Jahre später Anlass zu Versöhnungssentenzen zu werden, die Touristen auf dem Weg nach Paris, von der Stimmung des Orts überwältigt, in ein verregnetes Besucherbuch schreiben würden; es roch nach Eisen, roch nach beginnender Männlichkeit; von draußen kam feuchter Nebel, der über die Uferwiesen in milden Wolken herantrieb, aus der Gastwirtschaft oben sonores Männer-Wochenendgebrumm, Kichern von Kellnerinnen, Geklirr von Biergläsern, und am Ende des Flurs waren die Kegler schon am Werk, schoben die Kugeln, ließen die Kegel purzeln, triumphales Ah, enttäuschtes Ah klang durch den Flur bis in den Umkleideraum.

Blinzelnd im Zwielicht, mit fröstelnd eingezogenen Schultern hockte Schrella da, und er konnte den Augenblick nicht mehr länger hinausschieben; noch einmal den Sitz der Krawatte kontrolliert, die letzten Fältchen aus dem Kragen des Sporthemds geradegezupft – oh, korrekt, immer korrekt —, noch einmal die Schuhbänder eingesteckt, und im Portemonnaie das Geld für die Rückfahrt gezählt; schon kamen die ersten aus den Brausekabinen zurück, sprachen ‚von dem Ball, den Robert schlug‘.

‚Gehn wir zusammen?‘

‚Ja.‘

Die ausgetretenen Betonstufen hinauf, in denen noch Schmutz vom Fruhling her lag, Bonbonpapier, Zigarettenschachteln; sie stiegen zum Damm hoch, wo gerade schwitzende Ruderer ein Boot auf den Zementweg hievten; stumm gingen sie nebeneinander über den Damm, der über niedrige Nebelschichten wie über einen Fluss hinweg führte; Schiffssirenen, rote Lichter, grüne an den Signalkörben der Schiffe; an der Werft flogen die roten Funken hoch, zeichneten Figuren ins Grau; schweigend gingen sie bis zur Brücke, stiegen den dunklen Aufgang hinauf, wo, in roten Sandstein eingekratzt, die Sehnsüchte vom Bade heimkehrender Jugendlicher verewigt waren; ein dröhnender Güterzug, der über die Brücke rollte, enthob sie für weitere Minuten der Notwendigkeit zu sprechen, schlackiger Abfall wurde ans westliche Ufer gebracht; Rangierlichter wurden geschwenkt, Trillerpfeifen dirigierten den Zug, der sich rückwarts ins rechte Gleis schob, unten im Nebel glitten die Schiffe nordwärts, klagende Hörner warnten vor Todesgefahr, röhrten sehnsüchtig übers Wasser hin; Lärm, der zum Glück das Sprechen unmöglich machte.

„Und ich blieb stehen, Hugo, lehnte mich übers Geländer, dem Fluss zugewandt, zog Zigaretten aus der Tasche, bot Schrella an, der gab Feuer, und wir rauchten schweigend, während hinter uns der Zug rumpelnd die Brücke verließ; unter uns schoben sich leise die Kähne eines Lastzuges nordwärts, unter der Nebeldecke war ihr sanftes Gleiten zu hören; sichtbar wurden nur hin und wieder ein paar Funken, die aus dem Kamin einer Schifferküche stiegen; minutenlang blieb’s still, bis der nächste Kahn sich leise unter die Brücke schob, nordwärts, nordwärts, den Nebeln der Nordsee zu – und ich hatte Angst, Hugo, weil ich ihn jetzt würde fragen müssen, und wenn ich die Frage aussprach, war ich drin, mittendrin und würde nie mehr herauskommen; es musste ein schreckliches Geheimnis sein, um dessentwillen Nettlinger den Sieg aufs Spiel gesetzt und die Ottoner Ben Wackes als Schiedsrichter hingenommen hatten; fast vollkommen war die Stille jetzt, gab der fälligen Frage ein großes Gewicht, bürdete sie der Ewigkeit auf, und ich nahm schon Abschied, Hugo, obwohl ich noch nicht wusste, wohin und für was, nahm Abschied von dem dunklen Turm von Sankt Severin, der aus der flachen Nebelschicht herausragte, vom Elternhaus, das nicht weit von diesem Turm entfernt lag, wo meine Mutter gerade die letzte Hand an den Abendbrottisch legte, silbernes Besteck zurechtrückte, mit vorsichtigen Händen Blumen in kleine Vasen ordnete, den Wein kostete: war der weiße kühl genug, der rote nicht zu kühl? Samstag, mit sabbatischer Feierlichkeit begangen, schlug sie das Messbuch schon auf, aus dem sie uns die Sonntagsliturgie erklären würde mit ihrer sanften Stimme, die nach ewigem Advent klang; Weide meine Lämmer-Stimme[21 - „Weide meine Lämmer“ – die Weisung Christi an Petrus, von der die katholische Kirche ihren Anspruch auf die Nachfolgeschaft Jesu herleitet (Evangelium Johannes 21, 1. 15 – 19).]; mein Zimmer hinten zum Garten raus, wo die uralten Bäume in vollem Grün standen; wo ich mich leidenschaftlich in mathematische Formeln vertiefte, in die strengen Kurven geometrischer Figuren, in das winterlich klare Geäst sphärischer Linien, die meinem Zirkel, meiner Tuschefeder entsprungen waren – dort zeichnete ich Kirchen, die ich bauen würde. Schrella schnippte den Zigarettenstummel in die Nebelschicht hinunter, in leichten Wirbeln schraubte sich die rote Glut nach unten; Schrella wandte sich mir lächelnd zu, erwartete die Frage, die ich immer noch nicht stellte, schüttelte den Kopf.

Scharf zeichnete sich die Kette der Lampen über der Nebelschicht am Ufer ab.

‚Komm‘, sagte Schrella, ‚dort sind sie, hörst du sie nicht?‘ Ich hörte sie, der Gehsteig bebte schon unter ihren Schritten, sie sprachen von Ferienorten, in die sie bald abreisen würden: Allgäu, Westerwald, Bad Gastein[22 - Als Allgäu wird die Landschaft im Süden des bayerischen Regierungsbezirks Schwaben, sowie ein kleiner Teil Baden-Württembergs bezeichnet.Der Westerwald ist ein maximal 657 m hohes deutsches Mittelgebirge in den deutschen Bundesländern Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen.Die Gemeinde Bad Gastein (bis 1996: Badgastein) ist ein Kur- und Wintersportort im Gasteinertal, am Fuß des Graukogels im Naturpark Hohe Tauern. Neben den Kuranwendungen bietet das Tal Gelegenheit zu Erholung und Sport während des ganzen Jahres.], Nordsee, sprachen von dem Ball, den Robert schlug. Im Gehen war meine Frage leichter zu stellen.

‚Warum‘, fragte ich, ‚warum? Bist du Jude?‘

‚Nein.‘

‚Was bist du denn?‘

‚Wir sind Lämmer‘, sagte Schrella, ‚haben geschworen, nie vom Sakrament des Büffels[23 - Büffel und Lamm als Gegensatzpaar. Der Büffel als Sinnbild der blinden Gewaltigkeit, der rohen körperlichen Kraft, das Lamm als Verkörperung der Sanftmut und der Milde, der Aufopferung und der Entsühnung. Das Lamm ist altchristlichen Ursprungs und bezeichnet sowohl den christlichen Gläubigen als auch Christus selbst.] zu essen.‘

‚Lämmer.‘ Ich hatte Angst vor dem Wort. ‚Eine Sekte?‘ fragte ich.

‚Vielleicht.‘

‚Keine Partei?‘

‚Nein.‘

‚Ich werde nicht können‘, sagte ich, ‚ich kann nicht Lamm sein.‘

‚Willst du vom Sakrament des Büffels kosten?‘

‚Nein‘, sagte ich.

‚Hirten‘, sagte er, ‚es gibt welche, die die Herde nicht verlassen.‘

‚Schnell‘, sagte ich, ‚schnell, sie sind schon ganz nah.‘

Wir stiegen den dunklen Aufgang an der Westseite hinunter, und ich zögerte noch einen Augenblick, als wir die Straße erreichten; mein Heimweg führte nach rechts, Schrellas Weg nach links, aber dann folgte ich ihm nach links, wo der Weg sich zwischen Holzlagern, Kohlenschuppen und Schrebergärten stadtwärts wand. Wir blieben hinter der ersten Wegbiegung stehen, nun tief in der flachen Nebelschicht drin, beobachteten die Schatten der Schulkameraden, die oberhalb des Brückengeländers sich wie Silhouetten bewegten, hörten den Lärm ihrer Schritte, ihrer Stimmen, als sie den Aufgang herunterkamen, dröhnendes Echo schwer genagelter Schuhe, und eine Stimme rief: ‚Nettlinger, Nettlinger, warte doch.‘ Nettlingers laute Stimme warf ein wildes Echo über den Fluss, kam, von den Brückenpfeilern gebrochen, auf uns zurück, verlor sich hinter uns in Gärten und Lagerhallen, Nettlingers Stimme, die schrie: ‚Wo ist denn unser Lämmchen mit seinem Hirten geblieben?‘ Lachen, vielfach gebrochenes, fiel wie Scherben über uns.

‚Hast du gehört?‘ fragte Schrella.

‚Ja‘, sagte ich, ‚Lamm und Hirte.‘

Wir blickten auf die Schatten der Nachzügler, die über den Gehsteig kamen; dunkel ihre Stimmen im Aufgang, wurden heller, als sie auf die Straße kamen, brachen sich unter den Brückenbögen, ‚der Ball, den Robert schlug‘.

‚Genaues‘, sagte ich zu Schrella, ‚ich muss genaues wissen.‘

‚Ich will es dir zeigen‘, sagte Schrella, ‚komm.‘ Wir tasteten uns durch den Nebel, an Stacheldrahtzäunen entlang, erreichten einen Holzzaun, der noch frisch roch und gelblich schimmerte; eine Glühbirne über einem cverschlossenen Tor beleuchtete ein Emailleschild: ‚Michaelis, Kohlen, Koks, Briketts.‘

‚Kennst du den Weg noch?‘ fragte Schrella.

‚Ja‘, sagte ich, ‚vor sieben Jahren sind wir beide ihn oft gegangen und haben unten bei Trischlers gespielt. Was ist aus Alois geworden?‘

‚Er ist Schiffer, wie sein Vater war.‘

‚Und dein Vater ist noch Kellner da unten in der Schifferkneipe?‘

‚Nein, der ist jetzt am oberen Hafen.‘

‚Du wolltest mir genaues zeigen!‘

Schrella nahm die Zigarette aus dem Mund, zog seine Jacke aus, streifte die Hosenträger von den Schultern, hob sein Hemd hoch, drehte den Rücken ins schwache Licht der Glühbirne: sein Rücken war mit winzigen, rötlich – blauen Narben bedeckt, bohnengroß waren sie – besät, dachte ich, das würde eher stimmen.

‚Mein Gott‘, sagte ich, ‚was ist das?‘

‚Das ist Nettlinger‘, sagte er; ‚sie machen es unten in der alten Kaserne an der Wilhelmskuhle. Ben Wackes und Nettlinger. Sie nennen es Hilfspolizei; sie griffen mich auf bei einer Razzia, die sie im Hafenviertel nach Bettlern hielten: achtunddreißig Bettler an einem Tag verhaftet, einer davon war ich. Wir wurden verhört, mit der Stacheldrahtpeitsche. Sie sagten: ‚Gib doch zu, dass du ein Bettler bist‘, und ich sagte: ‚Ja, ich bin einer.‘“

Immer noch frühstückten verspätete Gäste, sogen Orangensaft wie ein lasterhaftes Getränk in sich hinein; der blasse Junge lehnte an der Tür wie eine Statue, der violette Samt der Uniform ließ seine Gesichtshaut fast grün erscheinen.

„Hugo, Hugo, hörst du, was ich erzähle?“

„Ich, Herr Doktor, ich höre jedes Wort.“