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Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке
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Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке

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Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке
Stefan Zweig

Чтение в оригинале (Каро)Klassische Literatur (Каро)
Стефан Цвейг (1881-1942) – австрийский писатель, мастер психологической новеллы и литературного портрета.

Оригинальный текст снабжен постраничными комментариями и словарем.

В формате PDF A4 сохранен издательский макет книги.

Стефан Цвейг

Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке

© КАРО, 2007

Die Hochzeit von Lyon

Am zwölften November 1793 brachte Barrere im französischen Nationalkonvent gegen das abtrünnige und endlich erstürmte Lyon jenen tödlichen Antrag ein, der mit den lapidaren[1 - lapidar (oft überraschend) – kurz und präzise formuliert = prägnant] Worten endigte: „Lyon bekämpfte die Freiheit, Lyon ist nicht mehr.“ Die Gebäude der volksaufrührerischen Stadt sollten, so forderte er, dem Erdboden gleichgemacht, seine Monumente in Asche verwandelt und selbst der Name ihr genommen werden. Acht Tage zögerte der Konvent, so völliger Vernichtung der zweitgrößten Stadt Frankreichs zuzustimmen, und selbst nach der Unterzeichnung führte der Volksbeauftragte Couthon, des geheimen Einverständnisses Robespierres gewiss, jenen herostratischen Befehl nur lässig aus. Um der Form zu genügen, versammelte er mit großem Pomp das Volk auf dem Platz von Bellecourt und klopfte mit silbernem Hammer symbolisch gegen die der Vernichtung bestimmten Häuser, aber nur zögernd brach dann der Spaten in die herrlichen Fassaden ein, und die Guillotine[2 - Guillotine die-, -n; – eine Maschine, mit der (besonders zur Zeit der Französischen Revolution) durch ein herabfallendes Beil Menschen der Kopf abgeschlagen wurde] übte noch sparsam ihren dumpf dröhnenden Niederfall. Von dieser unerwarteten Milde beruhigt, begann die vom Bürgerkrieg und monatelanger Belagerung grausam erregte Stadt schon wieder ersten Atem der Hoffnung zu wagen, als plötzlich der human zögernde Tribun abberufen wurde und statt seiner Collot d’Herbois und Fouché in Ville Affranchie – denn so hieß von nun ab Lyon in den Dekreten der Republik – mit der Schärpe der Volksbeauftragten geschmückt erschienen. Nun wurde über Nacht, was bloß als pathetisch abschreckendes Dekret[3 - Dekret das; -(e)s, -e, veraltend – eine offizielle Verordnung von einer Behörde] vermeint war, grimmige Wirklichkeit. „Man hat hier bisher nichts getan“, meldete ungeduldig, die eigene patriotische Energie zu erweisen und den milderen. Vorgänger zu verdächtigen, der erste Bericht der neuen Tribunen an den Konvent, und sofort setzten jene furchtbaren Exekutionen ein, an die sich Fouché, der „mitrailleur de Lyon“, als späterer Herzog von Otranto und Verteidiger aller legitimen Prinzipien nur ungern mehr erinnern ließ. Statt des langsam aufmörtelnden Spatens sprengten jetzt Pulverminen reihenweise die herrlichsten Gebäude nieder, statt der „unzuverlässigen und unzulänglichen“ Guillotine erledigten Massenfusilladen und Kartätschen Hunderte von Verurteilten mit einer Salve. Geschärft durch täglich neue und schneidende Dekrete mähte die Justiz weitausholend wie eine Sense Tag um Tag ihre riesige Menschengarbe; längst schon besorgte die rasch wegschwemmende Rhone das zu langsame Geschäft des Einsargens und Gräbergrabens, längst genügten die Gefängnisse nicht mehr für die Fülle der Verdächtigen. So wurden die Keller der öffentlichen Gebäude, Schulen und Klöster den Verurteilten zum Aufenthalt bestimmt, freilich zu flüchtigem bloß, denn die Sense hieb rasch zu, und selten wärmte das gleiche Stroh denselben Leib mehr als eine einzige Nacht.

Zu so tragisch verkürzter Gemeinsamkeit war an einem scharffrostigen Tage jenes blutigen Monats wieder ein Trupp Verurteilter in die Keller des Stadthauses getrieben worden. Mittags hatte man sie Mann für Mann vor die Kommissare geführt und in fliegendem Fragespiel ihr Schicksal erledigt; nun saßen die vierundsechzig Verurteilten, Frauen und Männer, wirr durcheinander in dem niedergewölbten, nach Weinfässern und Moder dünstenden Dunkel, das im Vorderraum ein kärgliches Kaminfeuer eher durchfärbte als durchwärmte. Die meisten hatten sich lethargisch[4 - lethargisch – teilnahmlos] auf ihre Strohsäcke hingeworfen, andere schrieben an dem einzig bewilligten Holztisch bei wackeligem Wachslicht hastige Abschiedsbriefe, wussten sie doch, dass ihr Leben eher zu Ende sein würde als die im kalten Räume blauschauernde Kerze. Keiner von ihnen aber sprach anders als flüsternd, und so dröhnte deutlich in die gefrorene Stille von der Straße her die dumpfe Explosion der Minen und das rasch ihr folgende Niederkrachen der Häuser. Doch schon war durch die schmetternde Geschwindigkeit der Geschehnisse alle Fähigkeit des Gefühls und des deutlichen Denkens den Geprüften genommen; reglos und wortlos lehnten die meisten im Dunkel wie in einem Vortraum ihres Grabes, nichts mehr erwartend und mit keiner Regung mehr dem Lebendigen zugewandt.

Da dröhnte gegen die siebente Abendstunde plötzlich energischharter Schritt an der Türe, Kolben klirrten, der rostige Riegel[5 - Riegel der, -s, – ein Stab aus Metall oder Holz, den man vor etwas schiebt, um es so zu sichern] kreischte zurück. Unwillkürlich schreckten alle auf: sollte gegen die triste Gewohnheit einer sonst verstatteten Nacht schon jetzt ihre Stunde gekommen sein? Im kalten Luftzug der aufgerissenen Tür sprang die Flamme blau von der Kerze, als wollte sie dem wächsernen Leib entfliehen, und mit ihr aufzuckend warf Angst sich dem Unbekannten entgegen. Aber bald beruhigte sich der jäh aufgerissene Schrecken, brachte der Kerkermeister doch nichts als einen neuen nachträglichen Schub Verurteilter, etwa zwanzig an der Zahl, die er wortlos und ohne ihnen im überfüllten Raum besonderen Platz anzuweisen, die Treppe herabführte. Dann stöhnte die schwereiserne Tür wieder zu.

Unfreundlich blickten die Gefangenen den Ankömmlingen entgegen, denn dies Seltsame ist ja der menschlichen Natur zu eigen, überall eilig sich einzupassen und selbst im Flüchtigen sich zu Hause zu fühlen wie in einem Recht. So betrachteten die früher Gekommenen den dumpfen modrigen Raum, den schimmeligen Strohsack, den Platz um das Feuer unwillkürlich schon als ihr Eigentum, und jeder der Neueingelangten erschien ihnen ein unberufener und schmälernder Eindringling. Die eben Eingelieferten wiederum mochten jene kalte Feindseligkeit ihrer Vorgänger, so unsinnig sie auch in tödlicher Stunde war, deutlich empfunden haben, denn – sonderbar – sie wechselten mit den Schicksalsgenossen weder Gruß noch Wort, forderten nicht Teil an Tisch und Stroh, sondern drückten sich nur wortlos und mürrisch in eine Ecke. Und war vordem die Stille schon grausam über dem Gewölbe gelegen, so mutete sie nun noch finsterer an durch diese Gespanntheit eines sinnlos herausgeforderten Gefühls. Um so klingender, heller und gleichsam wie von anderer Welt hereingeschlagen fuhr nun plötzlich ein Schrei diese Stille durch, ein heller, beinahe zuckender Schrei, der unwiderstehlich selbst den Teilnahmslosesten aus Ruhe und Gedrücktheit riss. Ein Mädchen, neu angekommen mit den anderen, plötzlich und ruckhaft war sie aufgesprungen, und sie war es auch, die sich, die Arme wie eine Stürzende vorgebreitet, mit dem zuckenden Ruf „Robert, Robert“ einem jungen Menschen entgegenwarf, der abseits von den ändern an dem Fenstergitter gelehnt hatte und nun seinerseits ihr entgegenfuhr. Und schon loderten wie zwei Flammen eines Feuers diese beiden jungen Gestalten Körper an Körper, Mund an Mund sich entgegen, so innig zusammenbrennend, dass die jäh ausströmenden Tränen der Entzückung eine des anderen Wangen überströmten und ihr Schluchzen wie aus einer einzigen berstenden Kehle drang. Wenn sie sich ließen für einen Augenblick, ungläubig, sich wirklich zu fühlen und vom Übermaß des Unwahrscheinlichen erschreckt, so schlug im nächsten Augenblick schon wieder neue Umfangung sie womöglich noch glühender zusammen. Sie weinten und schluchzten und sprachen und schrien in einem Atem, ganz mit sich allein im Unendlichen des Gefühls und vollkommen achdos der Mitgefährten, die erstaunt und durch dieses Staunen belebt sich ungewiss den beiden näherten.

Das junge Mädchen war mit Robert de L., dem Sohn eines hohen Magistratsbeamten[6 - Magisterbeamte der, -(e)s, -e, – der Beamte einer Behörde, der eine Stadt oder eine Gemeinde verwaltet], seit Kindheit erst befreundet, seit Monaten dann verlobt gewesen. Schon war in der Kirche ihr Aufgebot erfolgt und gerade jener blutige Tag, da die Truppen des Konvents in die Stadt einbrachen, ihrer Vermählung bestimmt, da gebot es die Pflicht ihrem Verlobten, der in der Armee Percys gegen die Republik gekämpft hatte, den Royalisten-General bei seinem verzweifelten Durchbruch zu begleiten. Wochenlang blieb dann jede Nachricht von ihm aus, und schon wagte sie zu hoffen, er habe sich glücklich über die Schweizer Grenze gerettet, als plötzlich ein Stadtschreiber ihr meldete, Angeber hätten sein Versteck auf einem Gehöfte ausgekundschaftet, und gestern sei er dem Revolutionstribunal überliefert worden. Kaum hatte das kühne Mädchen von der Gefangennahme und zweifellosen Verurteilung ihres Verlobten erfahren, als sie mit jener magisch unbegreiflichen Energie, welche die Natur Frauen in Augenblicken höchster Gefahr zuteilt, das Unmögliche durchsetzte, persönlich bis zu dem unnahbaren Volksbeauftragten vorzudringen, um dort Gnade für ihren Verlobten zu erbitten. Collot d’Herbois, dem sie zuerst sich zu Füßen warf, hatte sie herb abgewiesen, er kenne keine Gnade für Verräter. Darauf war sie zu Fouché geeilt, der nicht minder hart als jener, aber verschlagener in den Mitteln, sich der Rührung, die ihn beim Anblick dieses verzweifelten jungen Mädchens übermannte, dadurch erwehrte, dass er log, gern hätte er zugunsten ihres Verlobten eingegriffen, aber er sehe – und dabei warf der geübte Seelenbetrüger einen lockern Blick durch das Lorgnon auf irgendein gleichgültiges Blatt, dass schon heute vormittag Robert de L. auf den Feldern von Brotteaux füsiliert worden sei. Die Täuschung des jungen Mädchens gelang dem Listigen vollkommen: sie glaubte sofort ihren Bräutigam tot. Aber statt einem wehrlosen Schmerz sich weibisch hinzugeben, riss sie, gleichgültig gegen ihr nun sinnloses Leben, die Kokarde sich aus dem Haar, trat sie mit Füßen, nannte lautschreiend, dass es durch alle offenen Türen dröhnte, Fouché und seine rasch herbeigeeilten Leute erbärmliche Blutsäufer, Henker und feige Verbrecher. Und noch während die Soldaten sie fesselten und aus dem Zimmer schleppten, konnte sie bereits hören, wie Fouché ihren Verhaftungsbefehl seinem pockennarbigen Sekretär diktierte. Dies alles habe sie – so erzählt die Leidenschaftliche beinahe freudig den Umstehenden – aber nicht mehr als wirklich und wesenhaft empfunden, im Gegenteil, ein rauschendes Gefühl der Befriedigung hätte sie bei dem Gedanken erfasst, rasch dem hingerichteten Bräutigam folgen zu dürfen. Bei dem Verhör habe sie auf alle Fragen gar nicht mehr Antwort gegeben, so stark hätte sie schon innen das Gefühl des nahen Endes mit Freude durchklungen, ja, sie habe nicht einmal die Augen recht erhoben, als man sie mit jenem verspäteten Trupp hier ins Gefängnis hineinstieß. Denn was hätte sie in dieser Welt noch weiter beschäftigen können, da sie ihren Geliebten tot wusste und sich selbst ihm in diesem Tode schon selig nah. Darum habe sie sich auch vollkommen anteilslos in die Ecke gelagert, bis ihr Blick, kaum der Dunkelheit gewöhnt, von der Haltung eines jungen Menschen befremdet worden sei, der nachdenklich am Fenster lehnte, ganz sonderbar ähnlich der Art, mit der ihr Verlobter vor sich hinzublicken pflegte. Gewaltsam habe sie sich verboten, einer so sinnlos trügerischen Hoffnung nachzugeben, immerhin aber sei sie aufgestanden. Und gerade in diesem Augenblick sei jener fast gleichzeitig an den Lichtkreis der Kerze herangetreten. Sie verstehe aber nicht, fügte sie in noch nachhallender Erschütterung bei, dass sie nicht gestorben sei in jener schneidenden Sekunde des Erschreckens, denn sie habe deutlich gefühlt, dass das Herz wie ein Lebendiges ihr aus der Brust sprang, als sie plötzlich ihn, den längst Aufgegebenen, vor sich lebendig sah.

Während sie dies in fliegender Eile erzählte, ließ nicht für einen Augenblick ihre Hand jene des Geliebten. Unverwandt, gleichsam noch immer ungewiss seiner Gegenwart, drängte sie immer wieder von neuem in seine Umfangung zurück, und dieser rührende Anblick jugendlicher Innigkeit erschütterte auf wunderbare Weise ihre Schicksalsgenossen. Eben noch lethargisch, müde, gleichgültig und jeder Empfindung verschlossen, umdrängten sie nun auf einmal das so sonderbar vereinigte Paar mit leidenschaftlicher Lebhaftigkeit. Jeder vergaß über diesem außerordentlichen sein eigenes Geschick, jeder gab willig dem strömenden Bedürfnis nach, ihnen ein Wort der Teilnahme, der Zustimmung oder auch des Mitleids zu sagen, aber in einer Art rauschhaftem Stolz wehrte das feurige Mädchen jedes Bedauern ab. Nein, sie sei glücklich, restlos glücklich, da sie nun wisse, dass sie zu gleicher Stunde mit ihrem Geliebten sterbe und keiner den ändern betrauern müsse. Und nur eines mindere ihr Glück, dass sie mit noch fremdem Namen und nicht als seine angetraute Frau gemeinsam mit ihm vor Gott hintreten könne.

Sie hatte dies ausgesprochen, vollkommen arglos und absichtslos und beinahe des Gesprochenen schon vergessen, immer wieder sich der Umfangung des Geliebten hingebend; deshalb wurde sie auch nicht gewahr, dass, von diesem ihrem Wunsche tiefbewegt, unterdessen ein Kriegskamerad Roberts vorsichtig zur Seite schlich und mit einem älteren Mann leise zu flüstern begann. Jenen aber schienen die zugeflüsterten Worte sehr zu erschüttern, denn sofort raffte er sich empor und mühte sich zu den beiden hin. Er wäre, wandte er sich ihnen zu, was seine bäuerliche Kleidung wohl nicht erkennen lasse, ein eidverweigernder Priester aus Toulon und sei erst hier infolge einer Denunziation[7 - Denunziation die – eine Anzeige in der Polizei, dass jemand eine Straftat begangen hat (besonders in einem totalitären Staat aus politischen Gründen)] festgenommen worden. Aber wenn das priesterliche Gewand ihm jetzt fehle, so fühle er doch unverändert in sich sein Amt und seine priesterliche Macht. Und da der beiden Aufgebot längst erfolgt sei, andererseits das Urteil einen Aufschub nicht verstatte, so wolle er sich gerne unterfangen, ihr durchaus redliches Begehren sofort zu erfüllen und sie hier vor der Zeugenschaft ihrer Mitgefährten und jenes allerorts gegenwärtigen Gottes ehelich zu vereinigen.

Erstaunt von dieser nochmaligen und nie erhofften Wunscherfüllung blickte das junge Mädchen fragend ihren Verlobten an. Der antwortete nur mit einem strahlenden Blick. Da beugte das junge Mädchen ihre Knie auf die harten Fliesen, küsste die Hand des Priesters und bat, auch in diesem unwürdigen Räume die Vermählung zu vollziehen, denn sie fühle sich reines Sinnes und ganz von der Heiligkeit der Stunde erfüllt. Die ändern, tieferschüttert, dass dieser dumpfe Todesraum für einen Augenblick zur Kirche werden sollte, wurden unwillkürlich von der Erregung der Braut berührt und verdeckten sie mühsam durch vielfältige und hastige Tätigkeit. Die Männer reihten die wenigen Sessel heran, stellten die Wachslichter in gerader Reihe um ein eisernes Kruzifix[8 - Kruzifix das-, -es, -e-, – eine Darstellung oder Nachbildung des Kreuzes, an dem Jesus Christus crestnrhen ist] und näherten so den Tisch einem Altar an, die Frauen flochten indes hastig die wenigen Blumen, die ihnen mitleidige Hände auf den Weg gegeben hatten, zu einem schmalen Kranz, den sie dem Mädchen auf das Haupt drückten; unterdessen war der Priester mit dem ihr zubestimmten Gatten in den Nebenraum getreten und hatte erst ihm und dann ihr die Beichte abgenommen, und wie die beiden nun vor den improvisierten Altar traten, entstand für einige Minuten eine so erfüllte und so auffällige Stille, dass plötzlich der Wachsoldat, irgendein Verdächtiges vermutetend, die Tür aufriss und eintrat. Als er die sonderbare Vorbereitung bemerkte, wurde unwillkürlich sein dunkles Bauerngesicht ernst und ehrfürchtig. Er blieb, ohne zu stören, an der Tür stehen und ward so selber schweigsamer Zeuge der ungewöhnlichen Vermählung.

Der Priester trat vor den Tisch und erklärte in wenigen Worten, dass überall eine Kirche und ein Altar sei, wo Menschen sich in Demut Gott verbinden wollten. Dann kniete er hin, und alle Anwesenden mit ihm; es blieb so still, dass keine der schmalen Flammen sich bewegte. Dann fragte der Priester in das Schweigen hinein, ob die beiden sich in Leben und Tod vereinen wollten. Mit fester Stimme antworteten sie: „In Leben und Tod“, und dieses Wort Tod – eben noch als ein Grauen gefühlt – schwang hell und klar und von keiner Furcht mehr durchzittert quer in den schweigenden Raum. Da einte der Priester ihre Hände und sprach die bindenden Worte: „Ego auctoritate sanctae matris Ecclesiae qua fungor, conjungo vos in matrimoniam in nomine Patris et Filü et Spiritus sancti.“ Damit war die Zeremonie beendet. Die Neuvermählten küssten dem Priester die Hand, und jeder von den Verurteilten drängte einzeln zu, ein besonderes Wort der Herzlichkeit ihnen zu sagen. Niemand dachte in dieser Sekunde an den Tod, und die ihn fühlten, empfanden seine Schrecknis nicht mehr. Unterdessen hatte jener Freund, der bei der Vermählung als Zeuge gedient, mit einigen ändern leise geflüstert, und bald merkte man neuerdings eine sonderbare Geschäftigkeit beginnen. Die Männer trugen die Strohsäcke aus dem kleinen Nebengemach, und noch hatten die Neuverbundenen, ganz dem traumhaften Geschehen hingegeben, nichts von den Vorbereitungen bemerkt, als jener zu ihnen trat und lächelnd mitteilte, gerne hätten er und seine Schicksalsgenossen dem Paare ein Geschenk zu ihrem bräutlichen Tage geboten, doch welche irdische Gabe gelte noch jenen, die ihr eigenes Leben nicht zu halten vermöchten. So wollten sie das einzige bieten, was Neuvermählten erfreulich und kostbar sein könnte: die abgesonderte Stille einer bräutlichen und letzten Nacht, und lieber selber etwas gedrängter im äußeren Raum zusammenrücken, damit jenen das kleinere Gemach vollkommen gehöre. „Nützt die wenigen Stunden“, fugte er bei, „kein Atemzug Leben wird uns nochmal zurückgegeben, und wem in solchem Augenblicke noch Liebe gegönnt ist, der soll sie genießen.“

Das junge Mädchen errötete bis tief ins Haar, ihr Gatte[9 - Gatte der, -n, -n-, – der Ehemann] aber sah frank dem Freunde in die Augen und schüttelte ergriffen die brüderliche Hand. Sie sprachen kein Wort, blickten einander nur an. Und so geschah es, dass ohne eine laute Anordnung unwillkürlich die Männer sich um den Bräutigam, die Frauen um die Braut reihten und mit feierlich erhobenen Lichtern sie hineingeleiteten in das vom Tode geliehene Gelass, unbewusst derart uralten Hochzeitsbrauch wie der erfindend aus dem Übermaß teilnehmenden Gefühls. Leise lehnten sie die Tür dann zu hinter den Vermählten, keiner aber wagte ein unziemliches oder unsauber scherzendes Wort über dies nahe und bräutliche Zusammensein, denn ein sonderbar feierliches Empfinden faltete stumme Flügel über sie alle, seit sie, ohnmächtig selber gegen das Schicksal, ändern eine Handvoll Glück noch hatten zuteilen können. Und im geheimen war jeder dankbar für die wohltätige Ablenkung von dem eigenen unvermeidlichen Los. So lagen, im Dunkel verstreut, wach oder träumend, die Verurteilten auf ihren Strohsäcken bis zur Frühe, und selten nur durchwogte ein Seufzer den vom verlorenen Atem dicht erfüllten Raum. Als dann am nächsten Morgen die Soldaten eintraten, um die vierundachtzig Verurteilten zur Richterstatt zu führen, fanden sie alle schon wach und völlig bereit. Nur im Nebenraum, wo die Vermählten weilten, blieb es still: selbst der harte Stoß der Kolben hatte die Ermüdeten nicht geweckt. So eilte der Brautführer leise hinüber, damit nicht der Henker es sei, der die Glücklichen gewaltsam erwecke. Sie lagen locker umschlungen, ihre Hand wie vergessen unter seinem rücklings geneigten Nakken; selbst in der weichen Erstarrung des Schlafes glänzten ihre Gesichter so selig entspannt, dass es dem Mitfühlenden schwer ward, solchen Frieden zu stören. Aber er durfte nicht zögern und rührte mit drängender Mahnung erst ihn an, der taumelnd aufblickte, mit einem Riss aber die Lage besann und zärtlich die Gefährtin vom Lager aufhob. Sie blickte empor, kindhaft erschreckt, doch nur von dem allzu jähen Auftauchen in die eisige Wirklichkeit: dann lächelte sie ihm einverständlich zu: „Ich bin bereit.“

Unwillkürlich machten alle, als die beiden Hand in Hand eintraten, ihnen Platz, und so ergab es sich ohne Absicht, dass die Neuvermählten den Todesgang der Verurteilten eröffneten. Obwohl den täglichen Anblick jener traurigen Trupps schon gewohnt, blickten diesmal die Leute doch staunend dem sonderbaren Zuge nach, denn von diesen beiden Menschen, die ihn eröffneten, dem jungen Offizier und der mit bräutlichem Kranze geschmückten Frau, strahlte eine so ungewohnte Heiterkeit und fast selige Sicherheit aus, dass selbst dumpfe Seelen hier ein hohes Geheimnis ehrfürchtig fühlten. Aber auch die ändern Verurteilten stapften nicht den sonst schlürfenden Trott der zum Tode Geführten, sondern jeder von ihnen starrte auf die beiden, denen dreimal so unvermutete Wunscherfüllung geworden war, brennenden Blicks und mit dem verzweifelt angekrallten Vertrauen, noch einmal müsse, noch einmal werde an diesen beiden Glücklichen ein letztes Wunder sich ereignen und sie alle damit vom sichern Tode erretten. Aber das Leben liebt nur das Wunderbare und spart mit dem wirklichen Wunder: einzig das in Lyon damals Tagtägliche geschah. Der Zug wurde über die Brücke auf die sumpfigen Felder von Brotteaux geführt, dort erwarteten ihn zwölf Pelotons Infanterie, je drei Flintenläufe für den einzelnen Mann. Man stellte sie in Reih und Glied: eine einzige Salve krachte alle nieder. Dann warfen die Soldaten die noch blutenden Leichen in die Rhone, deren rasche Strömung Antlitz und Schicksal dieser Unbekannten gleichgültig in sich hinunternahm. Nur der hochzeitliche Kranz, der sich vom Haupte der Sinkenden leichter gelöst hatte, schwamm einige Zeit noch sinnlos und fremd auf den weiterwandernden Wellen. Schließlich entschwand auch er und mit ihm für lange Zeit das Gedächtnis jener von den Lippen des Todes gelösten und darum denkwürdigen Liebesnacht.

Der Stern über dem Walde

Franz Carl Ginzkey in herzlicher Gesinnung

Einmal, als sich der schlanke und sehr soignierte Kellner François[10 - François fr. [frã'sua: ] – der männliche Name] beim Servieren über die Schulter der schönen polnischen Gräfin Ostrowska herabneigte, geschah etwas Seltsames. Nur eine Sekunde währte es und war kein Zucken und kein Erschrecken, keine Regung und Bewegung. Und doch war es eine jener Sekunden, in die tausende Stunden und Tage voll Jubel und Qual gebannt sind, gleichwie der großen dunkelrauschenden Eichen wilde Wucht mit all ihren wiegenden Zweigen und schaukelnden Kronen in einem einzigen verflatternden Samenstäubchen geborgen ist. Nichts Äußerliches geschah in dieser Sekunde. François, der geschmeidige Kellner des großen Rivierahotels beugte sich tiefer hinab, um die Platte dem suchenden Messer der Gräfin besser zurecht zu legen. Doch sein Gesicht ruhte diesen Moment knapp über der weichgelockten duftenden Welle ihres Hauptes, und als er instinktiv das gesenkte Auge aufschlug, sah sein taumelnder Blick, in wie milder und weißleuchtender Linie ihr Nacken sich aus dieser dunklen Flut in das dunkelrote bauschende Kleid verlor. Wie Purpurflammen schlug es in ihm auf. Und leise klirrte das Messer an die unmerklich erzitternde Platte. Obzwar er aber in dieser Sekunde alle Folgenschwere dieser jähen Bezauberung ahnte, meisterte er gewandt seine Erregung und bediente mit der kühlen und ein wenig galanten Verve eines geschmackvollen Garçons[11 - Garçon fr. [gar'sõ:] – der Kellner, der Ober] weiter. Er reichte die Platte mit geruhigem Gange dem steten Tischgenossen der Gräfin, einem älteren, mit ruhiger Grazie begabten Aristokraten, der mit fein akzentuierter Betonung und einem kristallenen Französisch gleichgültige Dinge erzählte. Dann trat er ohne Blick und Gebärde von dem Tisch zurück.

Diese Minuten waren der Beginn eines sehr seltsamen und hingebungsvollen Verlorenseins, einer so taumelnden und trunkenen Empfindung, dass ihr das gewichtige und stolze Wort Liebe beinahe übel ansteht. Es war jene hündisch treue und begehrungslose Liebe, wie sie die Menschen sonst inmitten ihres Lebens gar nicht kennen, wie sie nur ganz junge und ganz alte Leute haben. Eine Liebe ohne Besonnensein, die nicht denkt, sondern nur träumt. Er vergaß ganz jene ungerechte und doch unauslöschliche Missachtung, die selbst kluge und bedächtige Leute gegen Menschen im Kellnerfracke bezeugen, er sann nicht nach Möglichkeiten und Zufällen, sondern nährte in seinem Blute diese seltsame Neigung, bis ihre geheime Innigkeit sich aller Bespottung und Bemänglung entrang. Seine Zärtlichkeit war nicht die der heimlich zwinkernden und lauernden Blicke, die jäh losbrechende Kühnheit verwegener Gebärden, die sinnlose Brünstigkeit lechzender Lippen und zitternder Hände, sie war ein stilles Mühen, ein Walten jener kleinen Dienste, die um so erhabener und heiliger in ihrer Demut sind, als sie wissend unbemerkt bleiben. Er strich nach dem Souper über die zerknüllten Tischtuchfalten vor ihrem Platze mit so zärtlichen und kosenden Fingern, wie man wohl liebe und weichruhende Frauenhände streichelt; er rückte alle Dinge ihrer Nähe mit hingebungsvoller Symmetrie zusammen, als ob er sie zu einem Feste bereite. Die Gläser, die ihre Lippen berührt hatten, trug er sich sorgsam in sein enges dumpfes Dachlukenzimmer und ließ sie im perlenden Mondlicht nächdich auffunkeln wie kösdiches Geschmeide. Stets war er aus irgendeinem Winkel der geheime Behorchet ihres Schreitens und Wandeins. Er trank ihre Sprache so wie man einen süßen und duftberauschenden Wein wollüstig auf der Zunge wiegt, und fing die einzelnen Worte und Befehle gierig wie Kinder den fliegenden Spielball. So trug seine trunkene Seele in sein armes und gleichgültiges Leben einen wechselnden und reichen Glanz. Nie kam ihm die weise Torheit, das ganze Ereignis in die kalten, vernichtenden Worte der Tatsächlichkeit zu kleiden, dass der armselige Kellner Frangois eine exotische, ewig unerreichbare Gräfin liebte. Denn er empfand sie gar nicht als Wirklichkeit, sondern als etwas sehr Hohes, sehr Fernes, das nur mehr mit seinem Abglanz des Lebens reichte. Er liebte den herrischen Stolz ihrer Befehle, den gebietenden Winkel ihrer schwarzen, sich fast berührenden Augenbrauen, die wilde Falte um den schmalen Mund, die sichere Grazie ihrer Gebärden. Unterwürfigkeit schien ihm Selbstverständlichkeit, und die demütigende Nähe niederen Dienstes empfand er als Glück, weil er ihr zu danke so oft in den zauberischen Kreis treten durfte, der sie umfing.

So wurde in dem Leben eines einfachen Menschen plötzlich ein Traum wach, gleich einer edlen und sorgfältig gezüchteten Gartenblüte, die an einer Straße blüht, wo sonst der Wanderstaub alle Keime zertritt. Es war der Taumel eines schlichten Menschen, ein zauberischer und narkotischer Traum inmitten eines kalten, gleichtönigen Lebens. Und Träume solcher Menschen sind wie die ruderlosen Boote, die ziellos in schaukelnder Wollust auf stillen, spiegelnden Wassern treiben, bis plötzlich ihr Kiel mit jähem Ruck an ein unbekanntes Ufer stößt.

Die Wirklichkeit ist aber stärker und robuster als alle Träume. Eines Abends sagte ihm der feiste Waadtländer Portier im Vorübergehn: „Die Ostrowska fährt morgen mit dem Acht-Uhr-Zug.“ Und dann noch ein paar andre gleichgültige Namen, die er überhörte. Denn ein wirres Brausen und Wirbeln war aus diesen Worten in seinem Hirne geworden. Ein paar Mal fuhr er sich mechanisch mit den Fingern über die gepresste Stirn, als wollte er eine drückende Schicht wegschieben, die dort lagerte und das Verständnis umdämmerte. Er machte ein paar Schritte; es war ein Taumeln. Unsicher und erschreckt glitt er an einem hohen goldgerahmten Spiegel vorbei, aus dem ihm ein fahles und fremdes Gesicht kreidig entgegenstarrte. Die Gedanken wollten nicht kommen, sie waren gleichsam festgemauert hinter einer dunklen nebligen Wand. Fast unbewusst tastete er am Geländer die breite Treppe in den umdämmerten Garten hinab, wo die hohen Pinien[12 - Pinie die; -n; – ein Fichtenbaum]-Bäume einsam standen wie finstere Gedanken. Noch ein paar Schritte wankte seine unruhige Gestalt, gleich dem niederen und taumelnden Flug eines großen dunklen Nachtvogels, dann sank er auf eine Bank, den Kopf an die kühle Lehne gepresst. Es war ganz still dort. Rückwärts zwischen den runden Sträuchern funkelte das Meer. Weiche und zitternde Lichter glühten dort leise, und in der Stille verlor sich der eintönig murmelnde Singsang fernplätschernder Brandungsquellen.

Und plötzlich war alles klar, ganz klar. So schmerzklar, dass er fast ein Lächeln fand. Es war einfach alles zu Ende. Die Gräfin Ostrowska fährt nach Hause, und der Kellner François bleibt auf seinem Posten. War dies denn so seltsam? Gingen nicht alle die Fremden fort, die kamen, nach zwei, nach drei, nach vier Wochen? Wie töricht, das nicht überdacht zu haben. Es war ja alles so klar, zum Lachen, zum Weinen klar. Und die Gedanken schwirrten und schwirrten. Morgen abend, mit dem Acht-Uhr-Zug nach Warschau. Nach Warschau – Stunden und Stunden durch Wälder und Täler, über Hügel und Berge, über Steppen und Flüsse und durch brausende Städte. Warschau! Wie weit das war! Er konnte es sich gar nicht ausdenken, aber im tiefsten fühlen, dieses stolze und drohende, harte und ferne Wort: Warschau. Und er…

Eine Sekunde flatterte noch eine kleine träumerische Hoffnung auf. Er konnte ja nachfahren. Und dort sich verdingen als Diener, als Schreiber, als Fuhrknecht, als Sklave; als frierender Betder dort auf der Straße stehn, aber nur nicht so furchtbar ferne sein, den Atem derselben Stadt nur atmen, sie manchmal vielleicht vorüberbrausen sehen, nur ihren Schatten sehen, ihr Kleid und ihr dunkles Haar. Schon zuckten eilfertige Träumereien empor. Aber die Stunde war hart und unerbitdich. Er sah das Unerreichbare nackt und klar. Er rechnete: hundert oder zweihundert Francs Ersparnisse[13 - Ersparnisse die pl – Spargelder] im besten Falle. Das reichte kaum die Hälfte des Weges. Und was dann? Wie durch einen zerrissenen Schleier sah er auf einmal sein Leben, fühlte, wie arm, wie kläglich, wie hässlich es jetzt werden musste. Öde leere Kellnerjahre, zermartert von törichter Sehnsucht, diese Lächerlichkeit sollte seine Zukunft sein. Wie ein Schauder kam es über ihn. Und plötzlich liefen alle Gedankenketten stürmisch und unabwendbar zusammen. Es gab nur eine Möglichkeit. – Leise schwankten die Wipfel in einer unmerklichen Brise. Eine finstere schwarze Nacht stand drohend vor ihm. Da erhob er sich sicher und gelassen von seiner Bank und schritt über den knirschenden Kies zu dem großen, in weißem Schweigen schlafenden Hause empor. Bei ihren Fenstern blieb er stehen. Sie waren blind und ohne ein funkelndes Lichterzeichen, daran sich träumerische Sehnsucht hätte entzünden können. Nun ging sein Blut in ruhigen Schlägen, und er schritt wie einer, den nichts mehr verwirrt und betrügt. In seinem Zimmer warf er sich ohne jede Erregung auf das Bett und schlief dumpfen traumlosen Schlaf bis zum rufenden Morgenzeichen.

Am nächsten Tage war sein Gebaren gänzlich in den Grenzen sorgfältig gezirkelter Überlegung und erzwungener Ruhe. Mit kühler Gleichgültigkeit erledigte er seine Pflichten, und seine Gebärden hatten eine so sichere und sorglose Gewalt, dass niemand hinter der trügerischen Maske den herben Entschluss hätte ahnen können. Kurz vor der Stunde des Diners eilte er mit seinen kleinen Ersparnissen in das vornehmste Blumengeschäft und kaufte erlesene Blumen, die ihn in ihrer farbigen Pracht wie Worte anmuteten: feuergolden glühende Tulpen, die wie eine Leidenschaft waren, weiße breitgekränzte Chrysanthemen, die wie lichte und exotische Träume anmuteten, schmale Orchideen, die schlanken Bilder der Sehnsucht und ein paar stolze betörende Rosen. Und dann erstand er eine prächtige Vase aus opalisierendem funkelndem Glase. Die paar Francs, die ihm noch blieben, schenkte er im Vorübergehen einem Bettelkinde mit rascher und sorgloser Gebärde. Und eilte zurück. Die Vase mit den Blumen stellte er mit wehmütiger Feierlichkeit vor das Kuvert der Gräfin, das er nun zum letzten Male mit einer voluptuösen und langsamen Peinlichkeit bereitete.

Dann kam das Diner. Er servierte wie immer: kühl, lautlos und geschickt, ohne aufzuschauen. Nur zum Ende umfing er ihre ganze biegsame, stolze Gestalt mit einem unendlichen Blicke, von dem sie nie wusste. Und nie erschien sie ihm so schön wie in diesem letzten wunschlosen Blick. Dann trat er ruhig, ohne Abschied und Gebärde vom Tische zurück und ging aus dem Saal. Wie ein Gast, vor dem sich die Bedienten beugen und neigen, schritt er durch die Gänge und über die vornehme Empfangstreppe hinab der Straße zu: man hätte fühlen müssen, dass er mit diesem Augenblick seine Vergangenheit verließ. Vor dem Hotel blieb er eine Sekunde unschlüssig stehen: dann wandte er sich den blinkenden Villen und breiten Gärten entlang einem Wege zu, weiter, immer weiter wandelnd in seinem nachdenklichen Promenadeschritt, ohne zu wissen, wohin.

Bis zum Abend irrte er so unstet in träumerischem Verlorensein. Er sann über nichts mehr nach. Nicht über Vergangenes und nicht über das Unabwendbare. Er spielte nicht mehr mit dem Todesgedanken, so wie man wohl noch in den letzten Augenblicken den funkelnden, mit tiefem Auge drohenden Revolver prüfend in der wägenden Hand hebt und wieder senkt. Längst hatte er sich das Urteil gesprochen. Nur Bilder kamen noch, in flüchtigem Fluge, gleich ziehenden Schwalben. Zuerst die Jugendtage bis zu einer verhängnisvollen Schulstunde, da ihn ein törichtes Abenteuer aus einer verführerisch wirkenden Zukunft jählings in das Gewirre der Welt stieß. Dann die rastlosen Fahrten, Mühen um den Taglohn, Versuche, die immer wieder missglückten, bis die große finstere Welle, die man Schicksal nennt, seinen Stolz zerbrach und ihn an einen unwürdigen Posten warf. Viele farbige Erinnerungen wirbelten vorüber. Und schließlich glänzte noch die sanfte Spiegelung dieser letzten Tage aus den wachen Träumen; und jählings stießen sie wieder das dunkle Tor der Wirklichkeit auf, das er durchschreiten musste. Er besann sich, dass er noch heute sterben wollte.

Eine Weile sann er über die vielen Wege nach, die zum Tode führen, und wägte ihre Bitterkeit und Behendigkeit gegeneinander ab. Bis ihn plötzlich ein Gedanke durchzuckte. Aus trüben Sinnen fiel ihm jäh ein finsteres Symbol ein: so wie sie unwissend und vernichtend über sein Schicksal hinweggebraust war, so sollte sie auch seinen Körper zermalmen. Sie selbst sollte es vollbringen. Sie selbst ihr Werk vollenden. Und nun hasteten die Gedanken mit unheimlicher Sicherheit. In einer knappen Stunde, um acht Uhr ging der Express ab, der sie ihm entführte. Dem wollte er sich unter die Räder werfen, sich zerstampfen lassen von der gleichen stürmenden Gewalt, die ihm die Frau seiner Träume entriss. Unter ihren Füßen wollte er verbluten. Die Gedanken stürmten und stürmten gleichsam jubelnd einander nach. Er wusste auch den Ort. Weiter oben am Waldhang, wo die rauschenden Wipfel den letzten Blick auf die nahe Bucht verdunkelten. Er sah auf die Uhr: fast schlugen die Sekunden und sein hämmerndes Blut den gleichen Takt. Es war schon Zeit, sich auf den Weg zu machen. Nun kam mit einem Male Elastizität und Zielsicherheit in seine schlaffen Schritte, jener harte eilige Takt, der das Träumen im Vorwärtswandeln ertötet. Unruhig stürmte er in die dämmernde Pracht des südlichen Abends der Stelle zu, wo zwischen den fernen bewaldeten Hügeln der Himmel eingebettet war als purpurner Streif. Und er eilte vorwärts, bis er an das Geleise kam, das mit seinen beiden silbernen Linien vor ihm aufglänzte und seinen Weg geleitete. Und sie führten ihn in gewundenem Zuge aufwärts durch die tiefen duftenden Tale, deren dunstige Schleier das matte Mondlicht durchsilberte, sie lenkten ihn im steigenden Gange in das Hügelland, wo man sah, wie ferne das weite nachtschwarze Meer mit seinen funkelnden Strandlichtern aufglänzte. Und sie zeigten ihm endlich den tiefen, unruhig rauschenden Wald, der das Geleise in seinen sinkenden Schatten begrub.

Es war schon spät, als er nun schweratmend am dunklen Hange des Waldes stand. Schauerlich und schwarz reihten sich die Bäume um ihn. Nur hoch oben in den durchschimmernden Kronen spann ein fahles zitterndes Mondlicht in den Zweigen, die stöhnten, wenn sie die leise Nachtbrise in die Arme nahm. Manchmal zuckten seltsame Rufe ferner Nachtvögel in diese dumpfe Stille. Die Gedanken erstarrten ihm ganz in dieser bangenden Einsamkeit. Er wartete nur, wartete und starrte, ob nicht unten an der Kurve[14 - Kurve die, -, -n-, – eine Biegung an der Straße] der ersten ansteigenden Serpentine[15 - Serpentine die, -, -n-, – eine steile Straße oder ein steiler Weg mit vielen engen Kurven] das rote Licht des Zuges auftauchen wollte. Manchmal sah er wieder nervös auf die Uhr und zählte die Sekunden. Dann horchte er wieder nach dem fernen Schrei der Lokomotive. Aber es war eine Täuschung. Ganz still wurde es wieder. Die Zeit schien erstarrt zu sein.

Endlich glänzte fern unten das Licht. Er fühlte in dieser Sekunde einen Stoß im Herzen, wusste aber nicht, ob es Furcht oder Jubel war. Mit jäher Gebärde warf er sich hin auf die Schienen. Zuerst fühlte er einen Augenblick nur die wohlige Kühle der Eisenstreifen an seiner Schläfe. Dann horchte er. Der Zug war noch weit. Minuten mochten es wohl dauern. Noch hörte man nichts außer dem flüsternden Rauschen der Bäume im Wind. Wirr sprangen die Gedanken. Und plötzlich einer, der blieb und sich wie ein schmerzhafter Pfeil in sein Herz bohrte: dass er um ihretwillen starb und sie es nie ahnen würde. Dass nicht eine einzige leise Welle seines aufschäumenden Lebens die ihre berührt hatte. Dass sie nie wissen würde, dass ein fremdes Leben an ihrem gehangen, an ihrem zerschmettert sei.

Ganz leise keuchte von ferne durch die atemstille Luft der rhythmische Gang der steigenden Maschine. Aber der Gedanke brannte unvermindert weiter und folterte die letzten Minuten des Sterbenden. Näher und näher ratterte der Zug. Und da schlug er noch einmal die Augen auf. Uber ihm war ein schweigender blauschwarzer Himmel und ein paar rauschende Kronen. Und über dem Walde ein weißer blinkender Stern. Ein einsamer Stern über dem Walde… Schon begannen die Schienen unter seinem Kopfe leise zu schwingen und zu singen. Aber der Gedanke brannte wie Feuer in seinem Herzen und in dem Blicke, der alle Glut und Verzweiflung seiner Liebe fasste.

Alle Sehnsucht und diese letzte schmerzliche Frage fluteten über in den weißen leuchtenden Stern, der mild auf ihn niedersah. Näher und näher schmetterte der Zug. Und der Sterbende umfing noch einmal mit einem letzten unsagbaren Blick den funkelnden Stern, den Stern über dem Walde. Dann schloss er die Augen. Die Schienen zitterten und wankten, näher und näher stampfte der ratternde Gang des fliegenden Zuges, dass der Wald dröhnte wie von großen hämmernden Glocken. Die Erde schien zu taumeln. Noch ein betäubendes sausendes Schwirren, ein wirbelndes Getöse, dann ein schriller Pfiff, der ängstlich tierische Schrei der Dampfpfeife und das gelle Stöhnen einer vergeblichen Bremse…

Die schöne Gräfin Ostrowska hatte im Zug ein eigenes reserviertes Coupe[16 - Coupe (fr.) das; -r, -s; – ein Zugabteil]. Seit der Abfahrt las sie einen französischen Roman, sanft gewiegt von der schaukelnden Bewegung des Wagens. Die Luft des engen Raumes war schwül und getränkt von dem drückenden Dufte vieler welkender Blumen. Schon nickten von den prächtigen Abschiedskörben die weißen Fliedertrauben müde herab wie überreife Früchte, erschlafft hingen die Blüten an den Stengeln, und die schweren und breiten Kelche der Rosen schienen zu welken in der heißen Wolke der berauschenden Düfte. Erstickende Schwüle wärmte diese schweren Duftwellen, die träge niederdrückten, selbst in der sausenden Eile des Zuges.

Plötzlich ließ sie mit matten Fingern das Buch sinken. Sie wusste selbst nicht, warum. Ein geheimes Gefühl war es, das sie aufriss. Sie fühlte einen dumpfen schmerzlichen Druck. Ein jäher, unverständlicher beklemmender Schmerz umpresste ihr Herz. Sie glaubte ersticken zu müssen in dem schwülen betäubenden Dunst der Blumen. Und dieser ängstigende Schmerz wich nicht, sie fühlte jede Schwingung der sausenden Räder, das blinde Vorwärtsstampfen marterte sie unsäglich. Eine plötzliche Sehnsucht packte sie, den eilenden Schwung des Zuges hemmen zu können, ihn zurückzureißen von dem dunklen Schmerz, dem er entgegenstürmte. Nie hatte sie in ihrem Leben eine ähnliche Angst vor etwas Furchtbarem, Unsichtbarem, Grausamem ihr Herz umklemmen gefühlt, als in diesen Sekunden unverständlichen Schmerzes und unbegreiflicher Angst. Und immer wilder wurde dieses unsagbare Gefühl, immer enger der Druck um die Kehle. Wie ein Gebet stöhnte in ihr der Gedanke, dass der Zug anhalten möge.

Da plötzlich ein schriller Signalpfiff, der wilde warnende Schrei der Lokomotive und das klägliche knirschende Stöhnen der Bremse. Und verlangsamt der Rhythmus der fliegenden Räder, langsamer und langsamer, dann ein ratterndes Stammeln und ein stokkender Stoß…

Mühsam tappt sie zum Fenster, um die kühle Luft zu trinken. Die Scheibe rasselt nieder. Draußen schwarze, stürmende Gestalten… fliegende Worte von wechselnden Stimmen: ein Selbstmörder… Unter den Rädern… Tot… Auf freiem Feld…

Sie zuckt zusammen. Instinktiv trifft ihr Blick den hohen schweigenden Himmel und drüben die schwarzen rauschenden Bäume. Und über ihnen ein einsamer Stern über dem Walde. Sie fühlt seinen Blick wie eine funkelnde Träne. Sie sieht ihn an und spürt jählings eine Traurigkeit, wie sie sie nie gekannt. Eine Traurigkeit voll Glut und Sehnsucht, wie sie in ihrem eigenen Leben nie war…

Langsam rattert der Zug weiter. Sie lehnt in der Ecke und spürt leise Tränen über die Wangen tropfen. Die dumpfe Angst ist gewichen, sie fühlt nur noch einen tiefen seltsamen Schmerz, dessen Spur sie vergebens nachsinnt. Einen Schmerz, wie ihn verschreckte Kinder haben, wenn sie in finsterer undurchdringlicher Nacht plötzlich erwachen und fühlen, dass sie ganz einsam sind…

Untergang eines Herzens

Zu entscheidender Erschütterung eines Herzens bedarf das Schicksal nicht immer wuchtigen Ausholens und schroff verstoßender Gewalt; gerade aus flüchtiger Ursache Vernichtung zu entfalten, reizt seine unbändige Bildnerlust. Wir nennen dies erste leise Berühren in unserer dumpfen Menschensprache Anlass und vergleichen erstaunt sein winziges Maß mit der oft mächtig fortwirkenden Gewalt; aber so wenig eine Krankheit mit ihrem Kenntlichwerden, so wenig beginnt das Schicksal eines Menschen erst, sobald es sichtbar und Geschehnis wird. Immer, im Geist und im Blute, waltet das Schicksal längst innen, eh es von außen die Seele berührt. Sich-Erkennen ist schon Sich-Wehren, und ein vergebliches zumeist.

Der alte Mann – Salomonsohn hieß er und durfte sich daheim Geheimer Kommissionsrat nennen – wachte nachts im Hotel von Gardone, wohin er seine Familie anlässlich der Ostertage begleitet, infolge eines heftigen Schmerzes auf: der Leib war ihm wie mit scharfen Dauben umschnürt, kaum rang sich der Atem durch die angespannte Brust. Der alte Mann erschrak, litt er doch häufig an Gallenkrämpfen, und gegen den Rat der Ärzte hatte er statt der verordneten Karlsbader Kur um seiner Familie willen den südlichen Aufenthalt gewählt. Einen Anfall jener gefährlichen Art befürchtend, betastete er ängstlich seinen breiten Leib, um aber bald – erleichtert, mitten im noch fortquälenden Schmerz – festzustellen: nur der Magen drückte ihn hart, offenbar infolge der ungewohnten italienischen Kost oder einer jener leichten Vergiftungen, wie sie dortzulande häufig den Reisenden befallen. Aufatmend fiel die zitternde Hand zurück, aber der Druck blieb und hemmte den Atem: so stöhnte sich der alte Mann schwerfällig aus dem Bett, um ein wenig Bewegung zu machen. Und tatsächlich: im Stehen und noch mehr im Gehen wurde der Druck matter. Aber das dunkle Zimmer bot wenig Raum, zudem fürchtete er, die im Schwesterbett schlafende Frau aufzuwecken und unnötig in Sorge zu setzen. So warf er sich den Schlafmantel um, zog Filzpantoffeln über die nackten Füße und tastete vorsichtig in den Korridor, dort ein wenig auszuschreiten und die Beklemmung zu lindern.

Im Augenblick, da er die Tür gegen den dunklen Gang öffnete, hallte durch die breit aufgetanen Fenster die Stunde vom Kirchturm: vier erst wuchtige und dann weich über den See zerzitternde Glockenschläge: vier Uhr morgens.

Der lange Korridor lag vollkommen dunkel. Aber aus deutlicher Erinnerung des Tages wusste der alte Mann ihn geradeausgehend und tiefräumig: so schritt er, ohne der Beleuchtung zu bedürfen, stark atmend von einem Ende zum ändern, und nochmals und nochmals, zufrieden gewährend, dass allmählich jene Klammer um die Brust sich löste. Schon bereitete er sich vor, durch die wohltuende Übung des Schmerzes fast vollkommen entledigt, wieder in sein Zimmer zurückzukehren, als ein Geräusch ihn erschreckt innehalten ließ. Geräusch: ein Wispern von irgend nah her in der Dunkelheit, dünn und doch unverkennbar. Etwas knackte im Gebälk, etwas flüsterte, rührte sich, und schon schnitt für eine Sekunde aus spaltbreit geöffneter Tür ein schmaler Kegel Licht das formlos Finstere durch. Was war das? Unwillkürlich drückte sich der alte Mann in eine Ecke, keineswegs aus Neugier, sondern einzig dem leichtverständlichen Gefühl der Beschämung nachgebend, bei so absonderlich nachtwandlerischem Gebaren ertappt zu werden. Aber wider seinen Willen fast hatte er in dieser einen Sekunde, wo das Licht den Gang überblitzte, wahrzunehmen vermeint, dass aus jenem Zimmer eine weißgekleidete weibliche Gestalt herausglitt und gegen das Ende des Korridors zu verschwand. Und wirklich, dort an einer der letzten Türen des Ganges knackte jetzt eine leise Klinke. Dann alles wieder dunkel und atemstill.

Der alte Mann begann plötzlich zu taumeln wie von einem Stoß gegen das Herz. Dort am äußersten Ende des Ganges, dort, wo jene Klinke verräterisch sich geregt, dort waren… dort waren doch nur seine eigenen Zimmer, das dreiräumige Appartement, das er für seine Familie gemietet. Seine Frau, sie hatte er vor wenigen Minuten noch schlafatmend verlassen, so konnte – nein, eine Täuschung war unmöglich – diese weibliche Gestalt, die abenteuernd von fremdem Zimmer zurückkehrte, niemand anderes gewesen sein als Erna, seine Tochter, die kaum neunzehnjährige.

Der alte Mann schauerte am ganzen Leib, so durchfrostete ihn das Entsetzen. Seine Tochter Erna, das Kind, das helle übermütige Kind – nein, das konnte nicht möglich sein, er musste sich getäuscht haben. – Was sollte sie denn da tun im fremden Zimmer, wenn nicht… Wie ein böses Tier stieß er den eigenen Gedanken von sich weg, aber herrisch krallte sich das spukhafte Bild der fliehenden Gestalt in die Schläfen, nicht loszureißen mehr, nicht mehr abzutun: er musste Gewissheit haben. Keuchend tastete er die Wand des Korridors entlang bis zu ihrer Tür, nachbarlich der seinen. Aber entsetzlich: gerade hier, gerade bei dieser einen Tür im Gange, dieser einzigen Tür, zitterte ein dünner Faden Licht durch die Fuge, und aus dem Schlüsselloch stach verräterisch-weißer Punkt: um vier Uhr morgens hatte sie noch Licht in ihrem Zimmer! Und neues Zeugnis: eben knackte innen der elektrische Kontakt, der weiße Faden Licht fiel spurlos ins Schwarze – nein, nein, hier half kein Sichselbstbelügen – Erna, seine Tochter, sie war es, die da nächdich aus fremdem Bett in das ihre schlich.

Der alte Mann zitterte vor Grauen und Kälte; gleichzeitig brach ihm Schweiß aus dem Leibe und überschwemmte die Poren. Die Tür einschlagen, mit den Fäusten sie zerprügeln, die Schamlose, war sein erstes Gefühl. Aber die Füße schwankten unter dem breiten Leib. Kaum noch fand er Kraft, sich in sein Zimmer und zum Bett zu schleppen; dort fiel er mit dumpfen Sinnen in die Kissen wie ein gefälltes Tier.

Der alte Mann lag reglos in seinem Bett; seine Augen starrten offen in das Dunkel. Neben ihm ging unbesorgt und satt der Atem seiner Frau. Erster Gedanke war, sie wachzurütteln, die schreckhafte Entdeckung zu berichten, sich das Herz auszuschreien, auszutoben. Aber wie das aussprechen, laut in Worten, das Entsetzliche? Nein, nie, nie käme ihm dies Wort über die Lippe. Aber was tun? Was tun?

Er versuchte nachzudenken. Aber die Gedanken taumelten wie Fledermäuse blind durcheinander. Es war ja so ungeheuerlich: Erna, das zarte, wohlerzogene Kind mit den schmeichelnden Augen… wann, wann hatte er sie noch über dem Schulbuch lesend gefunden, mit dem kleinen rosigen Finger die schweren Schriftzeichen mühsam nachziehend… wann sie nur in ihrem blassblauen Kleidchen von der Schule zum Zuckerbäcker geführt, den Kinderkuss gefühlt von dem noch bezuckerten Mund… War das nicht gestern gewesen?… Nein, das lag Jahre zurück…, aber wie kindlich hatte sie ihn gestern, ja wirklich gestern noch gebettelt, er möchte ihr den blaugoldenen Sweater kaufen, der in der Auslage sich so bunt vordrängte. „Papachen, bitte! bitte!“ – mit gefalteten Händen und dem Lachen, dem selbstgewiss-frohen, dem er nie widerstehen konnte… Und jetzt, jetzt schlich sie, zehn Zoll von seiner Tür, nachts hinaus in das Bett eines fremden Mannes und wälzte sich dort gierig und nackt…

„Mein Gott!.. mein Gott!“… er stöhnte unwillkürlich auf, der alte Mann. „Diese Schande! diese Schande!.. mein Kind, mein zartes, behütetes Kind mit irgendeinem Mann… Mit wem?… Wer kann es nur sein?… Wir sind doch erst drei Tage hier in Gardone, und sie hat keinen von den geschniegelten Laffen vorher gekannt, nicht diesen schmalköpfigen Conte Ubaldi, nicht den italienischen Offizier und diesen Mecklenburger Herrenreiter… erst beim Tanzen am zweiten Tage sind sie bekannt geworden, und schon soll sie einer… Nein, das kann nicht der Erste gewesen sein, nein… das muss schon früher begonnen haben… zu Hause… und ich weiß nichts, ich ahne nichts, ich Narr, ich geschlagener Narr… Aber was weiß ich denn überhaupt von ihnen?… Den ganzen Tag schufte ich für sie, sitze vierzehn Stunden im Kontor, genau so wie früher mit dem Musterkoffer auf der Bahn… nur Geld für sie zu schaffen, Geld, Geld, damit sie schöne Kleider haben und reich werden… und abends, wenn ich heimkomme, müde, zerschlagen, da sind sie fort: im Theater, auf Bällen, in Gesellschaft… was weiß ich denn von ihnen, was sie treiben den ganzen Tag?… Nur das weiß ich jetzt, dass mein Kind nachts mit ihrem jungen reinen Leib zu den Männern geht wie eine von der Straße… Oh, diese Schande!“

Der alte Mann stöhnte immer wieder auf. Jeder neue Gedanke riss die Wunde tiefer: ihm war, als läge sein Gehirn blutig offen und wühlten rote Maden darin.

,Aber warum habe ich das alles geduldet?… Warum liege ich jetzt noch da und quäl mich ab, indes sie sich satt schläft mit ihrem unzüchtigen Leib?… Warum bin ich nicht gleich hineingefahren in das Zimmer, damit sie weiß, ich kenne ihre Schande?… Warum habe ich ihr nicht die Knochen zerprügelt?… Weil ich schwach bin… weil ich feig bin… Immer war ich schwach gegen sie beide… alles habe ich ihnen nachgegeben… ich war ja stolz, ihnen das Leben leicht sein zu lassen, wenn schon meines verdorben war… mit den Fingernägeln habe ich das Geld zusammengekratzt, Pfennig für Pfennig… das Fleisch hätte ich mir von den Händen reißen lassen, sie nur zufrieden zu sehen… Aber kaum ich sie reich gemacht, schon haben sie sich meiner geschämt… nicht elegant genug bin ich ihnen mehr gewesen… zu ungebildet… wo hätte ich Bildung lernen sollen? Mit zwölf Jahren haben sie mich schon aus der Schule genommen, und ich hab verdienen müssen, verdienen, verdienen… Musterkoffer tragen, von Dorf zu Dorf fahren, und dann von Stadt zu Stadt agentieren, ehe ich mein eigenes Geschäft auftun konnte…, und kaum waren sie oben und im eigenen Haus, da mochten sie meinen alten ehrlichen guten Namen nicht mehr… den Kommissionsrat, Geheimrat habe ich mir kaufen müssen, damit man sie nicht mehr Frau Salomonsohn anspricht, damit sie vornehm tun können… Vornehm! Vornehm!.. Ausgelacht haben sie mich, wenn ich mich wehrte gegen die Vornehmtuerei, gegen ihre feine Gesellschaft, wenn ich ihnen erzählte, wie meine Mutter, Gott hab sie selig, das Haus führte, still, bescheiden, nur für den Vater und uns… altmodisch haben sie mich genannt… Du bist altmodisch, Papachen, hat sie immer gespottet… ja, altmodisch, ja… und jetzt liegt sie mit fremden Männern in fremdem Bett, mein Kind, mein einziges Kind… Oh, diese Schande, diese Schande…“

So furchtbar stieß dem alten Mann die seufzende Qual aus der Brust, dass die Frau an seiner Seite erwachte. „Was ist es?“ fragte sie schlaftrunken. Der alte Mann rührte sich nicht und hielt den Atem an. Und so lag er reglos im finstern Sarg seiner Qual bis in den Morgen hinein, von den Gedanken zerfressen wie von Würmern.

Morgens am Frühstückstisch war er als Erster zur Stelle. Aufseufzend setzte er sich hin, jeder Bissen widerte ihn an.

„Wieder allein“, dachte er, „immer allein!.. Wenn ich morgens ins Büro gehe, schlafen sie noch behäbig und faul von ihren Tanzereien und Theatern… wenn ich abends heimkomme, sind sie schon fort auf Vergnügung, in Gesellschaft: da können sie mich nicht brauchen… oh, das Geld, das verfluchte Geld hat sie verdorben… das hat sie mir fremd gemacht… Ich Narr hab es zusammengescharrt und mich dabei selber bestohlen, mich hab ich arm gemacht damit und sie selber schlecht… fünfzig sinnlose Jahre habe ich geschuftet, keinen freien Tag mir gegönnt, und jetzt bin ich allein…“

Er wurde allmählich ungeduldig. „Warum kommt sie nicht… ich will mit ihr reden, ich muss es ihr sagen… wir müssen weg von hier, sofort… warum kommt sie nicht… wahrscheinlich ist sie noch müde, schläft prächtig mit gutem Gewissen, indes ich mir das Herz zerreiße, ich Narr… Und die Mutter putzt sich stundenlang, muss baden, sich appretieren, maniküren, frisieren lassen, die kommt nicht vor elf herab… ist es da ein Wunder?… was soll da werden aus einem Kind?… Oh, das Geld, das verfluchte Geld.“

Von rückwärts knisterte leichter Schritt. „Morgen, Papachen, gut geruht?“ Etwas beugte sich zart von der Seite heran, dünner Kuss streifte die hämmernde Stirn. Unwillkürlich scheute er mit dem Kopf zurück: der süßlichschwüle Geruch des Coty-Parfüms ekelte ihn. Und dann…

„Was hast du, Papachen… wieder schlechter Laune… Einen Kaffee, Kellner, und ham and eggs… Schlecht geschlafen oder schlechte Nachrichten?“

Der alte Mann bezwang sich. Er duckte den Kopf, ohne Mut, aufzuschauen, und schwieg. Nur ihre Hände sah er auf dem Tisch, die geliebten Hände: lässig und manikürt spielten sie wie verwöhnte schmale Windhunde auf dem weißen Rasen des Tuches. Er zitterte. Scheu tastete sein Blick die zarten jungfräulichen Arme empor, die kindlichen, die ihn früher… wie lange war das her?… so oft umschlungen vor dem Schlafengehen… Er sah die feine Wölbung der Brüste, die locker unter dem neuen Sweater im Atmen bebten. „Nackt… nackt… mit einem fremden Mann sich gewälzt“, dachte er ingrimmig. „AU das hat er gefasst, betastet, beschmeichelt, geschmeckt, genossen… mein Fleisch und Blut… mein Kind… oh, dieser fremde Schuft… oh… oh.“

Unbewusst hatte er wieder gestöhnt. „Was hast du denn, Papachen?“ drängte sie schmeichlerisch heran.

„Was ich habe?“ dröhnte es in ihm. „Eine Hure zur Tochter, und nicht den Mut, es ihr zu sagen.“

Aber er murrte nur undeutlich: „Nichts! Nichts!“ und griff hastig nach der Zeitung, sich aus aufgeschlagenen Blättern eine Palisade[17 - Palisade die-, -, -n; – ein starker Holzpfahl] zu bauen gegen ihren fragenden Blick, denn immer mehr fühlte er sich unmächtig, ihren Augen zu begegenen. Seine Hände zitterten. „Jetzt müsste ich es ihr sagen, jetzt, solange wir allein sind“, quälte es ihn. Aber die Stimme versagte sich; nicht einmal aufzuschauen fand er die Kraft.

Und plötzlich, mit einem Ruck stieß er den Sessel zurück und flüchtete schweren Schrittes gegen den Garten; denn er fühlte, wie wider seinen Willen ihm eine dicke Träne über die Wange rollte. Und das sollte sie nicht sehen.

Der alte kurzbeinige Mann irrte im Garten herum und starrte lang auf den See. Ganz blind innen von zurückgestockten Tränen konnte er sich doch nicht erwehren, zu sehen, wie schön diese Landschaft war: hinter silbrigem Licht grünwellig aufsteigend, schwarz schraffiert mit den dünnen Strichen von Zypressen[18 - Zypresse die; -, -n; – ein hoher schmaler (Nadel) Baum (besonders in den Mittelmeerländern), dessen Nadeln wie Schuppen übereinander liegen] blickten weichfarbig die Hügel und hinter ihnen schroffer die Berge, streng und doch ohne Hochmut die Lieblichkeit des Sees überschauend, wie ernste Männer geliebter Kinder belangloses Spiel. Wie das lind sich aufbreitete mit offener, blumiger, gasdicher Gebärde, wie das lockte, gütig und glücklich zu sein, dies zeidos selige Lächeln Gottes in seinen Süden hinein! „Glücklich!“ Der alte Mann wiegte verworren den allzu schweren Kopf.

„Hier könnte man glücklich sein. Einmal hab ich’s auch haben wollen, auch einmal selber fühlen, wie schön die Welt der Sorglosen ist… einmal nach fünfzig Jahren Schreiben und Rechnen und Feilschen und Schachern auch einmal paar helle Tage genießen wollen… einmal, einmal, einmal, ehe man mich einscharrt… funfund-sechzig Jahre, mein Gott, da hat der Tod einem die Hand schon im Leib, und das Geld hilft einem nichts mehr und die Doktoren… Nur ein paar leichte Atemzüge wollte ich vorher, auch einmal etwas für mich… Aber mein Vater selig hat schon immer gesagt: „Das Vergnügen ist nichts für unsereinen, man trägt seinen Pack am Rücken bis ins Grab“… Gestern hab ich gemeint, auch ich dürft einmal mir’s wohl sein lassen… gestern da war ich so etwas wie ein glücklicher Mensch, hab mich gefreut an meinem schönen hellen Kind, mich gefreut an ihrer Freude… und schon hat mich Gott gestraft, schon nimmt er mir’s weg… Denn das ist vorbei jetzt für immer… Ich kann nicht mehr sprechen mit meinem eigenen Kind… ich kann ihr nicht mehr in die Augen schauen, so schäm ich mich… Immer werde ich daran denken müssen, zu Hause, im Büro und nachts im Bett: wo ist sie jetzt, wo war sie, was hat sie getan?… nie mehr ruhig nach Hause kommen, und da sitzt sie und springt mir entgegen, und das Herz geht mir auf, wenn ich sie sehe, jung und schön… Wenn sie mich küsst, werde ich mich fragen, wer hat sie gestern gehabt, diese Lippen… immer in Angst leben, wenn sie von mir fort ist, und immer mich schämen, wenn ich ihre Augen sehe. – Nein, so kann man nicht leben… so kann man nicht leben…“

Der alte Mann torkelte murmelnd hin und her wie ein Betrunkener. Immer starrte er wieder auf den See, immer liefen ihm wieder die Tränen in den Bart hinein. Er musste den Zwicker abnehmen und stand mit seinen kurzsichtigen nassen Augen so tölpelig auf dem schmalen Weg, dass ein Gärtnerjunge, der eben vorbei kam, verdutzt stehenblieb, laut auflachte und mit ein paar italienischen Spaßworten dem Verworrenen nachhöhnte. Das weckte den alten Mann aus seinem Schmerztaumel; er griff nach dem Zwicker und schlich zur Seite in den Garten, irgendwo dort auf einer Bank sich vor dem Menschen zu vergraben.

Aber kaum dass er sich abseitiger Stelle im Garten genähert, so schreckte ihn ein Lachen von links her wieder auf… ein Lachen, das er kannte und das ihm jetzt das Herz zerriss. Seine Musik war das gewesen, neunzehn Jahre lang, dies leichte Lachen ihres Übermuts… für dieses Lachen hatte er die Nächte durchfahren dritter Klasse bis Posen und Ungarn hinein, nur um dann etwas ihnen hinzuschütten, gelben Humus, aus dem diese unbesorgte Heiterkeit blühte… einzig für dieses Lachen hatte er gelebt und sich die Galle krank geärgert im Leibe… nur damit dies Lachen immer klingend blieb um den geliebten Mund. Und nun schnitt es in die Eingeweide wie eine glühende Säge, dies verfluchte Lachen.

Und doch zog es den Widerstrebenden an. Sie stand am Tennisplatz, das Rakett wirbelnd in der nackten Hand, lockeren Gelenks es hochwerfend im Spiel und wieder fangend. Und immer gleichzeitig mit dem aufgewirbelten Schläger wirbelte das übermütige Lachen in den azurnen[19 - azurn – leuchtend blau] Himmel hinauf. Die drei Herren sahen ihr bewundernd zu, der Conte Ubaldi im lockern Tennishemd, der Offizier in seiner straffldeidenden, sehnenspannenden Uniform, und der Herrenreiter in tadellosen Breeches, drei scharf profilierte männliche Gestalten wie Statuen um dies wie ein Schmetterling flatternde Spielding. Der alte Mann starrte selbst gefangen hin. Mein Gott, wie schön sie war in ihrem hellen fußfreien Kleid, die Sonne fließend zerstäubt im blonden Haar! Und wie selig diese jungen Glieder ihre eigene Leichtigkeit fühlten in Sprung und Lauf, berauscht und berauschend mit diesem rhythmisch lockern Gehorchen der Gelenke. Jetzt warf sie übermütig den weißen Tennisball in die Luft, einen zweiten, einen dritten ihm nach; wunderbar, wie in Biegen und Haschen die schlanke Gerte ihres Mädchenleibes sich schwang, aufschnellend jetzt, den letzten zu greifen. So hatte er sie nie gesehen, so aufgezündet von übermütigen Flammen, weiße, fliehende, wehende Flamme selbst mit dem silbernen Rauch des Lachens über dem Lodern des Leibes – eine jungfräuliche Göttin, dem Efeu des südlichen Gartens, dem weichen Blau des spiegelnden Sees panisch entstiegen: so tanzhaft wild spannte sich nie daheim dieser schmale starrsehnige Leib im eifernden Spiele. Nie, nein, nie hatte er sie so gesehen, innerhalb der dumpfen, mauergedrängten Stadt, nie ihre Stimme in Zimmer und Straße gehört so 1erchenhaft losgebunden vom irdisch Dumpfen der Kehle in eine fast singende Heiterkeit, nein, nein, nie war sie so schön gewesen. Der alte Mann starrte und starrte hin. Er hatte alles vergessen, er sah nur und sah diese weiße, fliehende Flamme. Und so hätte er gestanden, endlos ihr Bild einsaugend mit leidenschaftlichem Blick, hätte sie nicht endlich mit flinker Drehung, mit einem jappenden aufflatternden Sprung auch den letzten der jonglierten Bälle aufgefangen und atmend, keuchend, erhitzt mit lachend stolzem Blick an die Brust gedrückt. „Brava, Brava“ – wie nach einer Opernarie applaudierten die drei Herren, die angeregt ihrem geschickten Fangball zugesehen. Diese gutturalen Stimmen weckten den alten Mann aus der Bezauberung. Grimmig starrte er sie an.

„Da sind sie, die Schurken[20 - Schurke der; -n, -n; – jemand, der böse Dinge tut = Schuft]“, hämmerte ihm das Herz. „Da sind sie… Aber wer ist es von ihnen?… wer hat sie gehabt von den dreien?… Wie fein sie ausstaffiert sind, parfümiert und rasiert, diese Tagediebe… unsereins musste in ihrem Alter im Kontor sitzen mit ausgeflickten Hosen und sich die Absätze krumm treten bei den Kunden… und ihre Väter, die sitzen vielleicht heute noch so und schinden sich ihretwegen die Nägel blutig… sie aber fahren in der Welt herum, stehlen dem lieben Herrgott den Tag, haben braune, unbesorgte Gesichter und helle, freche Augen… da kann man leicht frisch sein und vergnügt und braucht so einem eitlen Kind nur ein paar verzuckerte Worte hinzuwerfen, und schon kriecht sie ins Bett… Aber wer ist es von den dreien, welcher ist es?… Einer von ihnen, ich weiß es, der sieht ihr durch das Kleid ins Nackte, und schmatzt mit der Zunge: die hab ich gehabt… kennt sie heiß und bloß und denkt sich, heute abend wieder, und blinzelt ihr zu, – oh, dieser Hund!.. ihn totpeitschen können, diesen Hund!“

Man hatte ihn drüben bemerkt. Die Tochter schwang salutierend das Rakett und lachte ihm zu, die Herren grüßten. Er dankte nicht, starrte nur überschwemmten, blutunterlaufenen Blicks auf ihren übermütigen Mund:

„Dass du noch so lachen kannst, du Schamlose… aber auch der eine da lacht vielleicht in sich hinein und denkt sich, da steht er, der alte dumme Jud, der nachts sein Bett zerschnarcht… wenn der wüsste, der alte Narr!.. Ja, ich weiß, ihr lacht, ihr tretet über mich weg wie über einen schmutzigen Kotzen… aber die Tochter, die ist fesch und willig, die läuft euch hurtig ins Bett… und die Mutter, schon ein wenig dick ist sie und aufgetakelt, geschminkt und gestrichen, aber doch, redete man ihr zu, sie würde vielleicht auch noch ein Tänzchen wagen… Habt ja recht, ihr Hunde, habt ja recht, wenn sie euch nachrennen, die läufigen Weiber, die ehrlosen… Was geht’s euch an, dass sich dem ändern das Herz dabei zerkrümmt… wenn ihr nur euren Spaß habt, wenn sie nur ihren Spaß haben, die ehrlosen Weiber… Mit dem Revolver sollte man euch niederknallen, mit der Hetzpeitsche über euch fahren… Aber ihr habt ja recht, solang es keiner tut… solange man nur den Zorn in sich frisst wie ein Hund sein Ausgeworfenes… habt ja recht, wenn man so feig ist, so erbärmlich feig… nicht hingeht, die Schamlose packt und am Ärmel von euch wegreißt… wenn man bloß stumm dabeisteht, die Galle im Mund, feig… feig… feig…“

Mit den Händen hielt sich der alte Mann am Geländer, so schüttelte ihn ohnmächtiger Zorn. Und plötzlich spie[21 - speien (spie, hat gespien) – sich erbrechen] er vor den eigenen Fuß und taumelte aus dem Garten.

Der alte Mann tappte hinein in die kleine Stadt, vor einer Auslage blieb er plötzlich stehen; allerhand Dinge touristischen Gebrauchs, Hemden und Netze, Blusen und Angelzeug, Krawatten, Bücher, Backwerk bauten sich dort aus zufälligem Beieinander zu künstliehen Pyramiden und farbigen Etageren. Aber sein Blick starrte nur auf ein einziges Ding, das verachtet zwischen dem eleganten Gerümpel[22 - Gerümtel das; -r, nur Sg, – alte Dinge, die kaputt oder nutzlos sind (und irgendwo aufbewahrt werden)] lag: ein Knotenstock, dick und klobig, mit eiserner Bergspitze gehärtet, schwer in der Hand und furchtbar wohl niederfallend im Schlag. „Niederschlagen… niederschlagen, den Hund!“ Der Gedanke versetzte ihn in einen wirren, fast wollüstigen Taumel; es stieß ihn hinein in die Kramerei, wo er jenen knolligen Kolben gegen geringes Entgelt erstand. Und kaum das schwere, wuchtig-gefährliche Ding in der Faust, fühlte er sich stärker: immer macht ja eine Waffe den körperlich Schwachen mehr seiner gewiss. Er spürte, wie vom Griff her die Muskeln vehementer sich spannten: „Niederschlagen… niederschlagen, den Hund!“ murmelte er zu sich selbst, und unbewusst wurde sein schwer stolpernder Schritt fester, aufrechter, geschwinder; er ging, ja er lief den Strandweg auf und ab, schweiß atmend schon, aber mehr dank der durchgebrochenen Leidenschaft als des beschleunigten Ganges. Denn immer hitziger krampfte sich die Hand an den wuchtigen Griff. Mit seiner Waffe trat er in die bläuliche Schattenkühle der Halle, sofort gereizten Blicks den unsichtbaren Gegner suchend. Und wirklich, in der Ecke, auf den weichen Strohkörben saßen sie alle beisammen, Whisky und Soda aus dünnen Strohröhren saugend, heiter gesprächig in faulenzerischer Geselligkeit: seine Frau, seine Tochter und die unvermeidlichen drei. „Welcher ist es? welcher ist es?“ dachte er dumpf, die Faust um den schweren Knoten gepresst. „Wem von ihnen den Schädel zerschlagen?… wem?… wem?“ Aber schon sprang, sein unruhiges Suchen missverstehend, Erna auf und ihm entgegen. „Da bist du, Papachen! Wir haben dich überall gesucht. Denk dir, Herr von Medwitz nimmt uns mit in seinem Fiat, wir fahren bis nach Desenzano den ganzen See entlang.“ Dabei drängte sie ihn zärtlich dem Tische zu, als ob er sich für die Einladung noch bedanken sollte.

Die Herren waren höflich aufgestanden und boten ihm die Hand. Der alte Mann zitterte. Aber an seinem Arme lag weich und betäubend dies Beschwichtigende ihrer warmen Gegenwart. In einer Ohnmacht des Willens nahm er, eine nach der ändern, die dargebotene Hand, setzte sich stumm, holte eine Zigarre heraus und kaute den Zorn seiner verbissenen Zähne in die weiche Masse. Uber ihn hinweg flatterte das abgerissene Gespräch, französisch geführt, von übermütigem Lachen mehrstimmig überflogen.

Der alte Mann saß stumm geduckt und biss an seiner Zigarre, dass der Saft ihm braun in die Zähne rann. „Recht haben sie… recht haben sie“, dachte er.,Anspucken soll man mich… jetzt habe ich ihm noch die Hand gereicht!.. allen dreien, aber ich weiß doch, dass einer von ihnen der Schurke ist… ruhig sitze ich am selben Tisch mit ihm… ich schlage ihn nicht nieder, nein, ich schlage ihn nicht nieder, ich reiche ihm höflich die Hand… Recht haben sie, ganz recht, wenn sie über mich lachen… Und wie sie über mich hinwegreden, als ob ich gar nicht da wäre!.. als ob ich schon unter der Erde läge… und dabei wissen doch beide, Erna und ihre Mutter, dass ich kein Wort Französisch verstehe… beide wissen sie’s, beide, aber keine fragt mich irgend etwas nur zum Schein, nur damit ich nicht so lächerlich dasitze, so entsetzlich lächerlich… Luft bin ich für sie, Luft… ein unangenehmes Anhängsel, etwas Lästiges, Störendes… etwas, dessen man sich schämt und das man nur nicht wegtut, weil es Geld verdient… Geld, Geld, dieses dreckige, erbärmliche Geld, mit dem ich sie verdorben habe… dieses Geld, auf dem der Fluch Gottes liegt… Kein Wort reden sie zu mir, meine Frau, mein eigenes Kind, nur für diese Lungerer, für diese glatten, geputzten Laffen haben sie Blicke… wie sie ihnen zulachen, aufgekitzelt, als wären sie ihnen mit der Hand ans Fleisch gefahren… Und ich, ich dulde das alles… Ich sitze da, höre zu, wie sie lachen, und verstehe nichts, und sitze doch da, statt aufzuschlagen mit der Faust… da, mit dem Stock auf sie zu dreschen und sie auseinanderzutreiben, ehe sie sich zu paaren beginnen vor meinen eigenen Augen… ich erlaube das alles… ich sitze da, stumm, dumm, feig… feig… feig…“

„Gestatten Sie“, fragte in diesem Augenblick in mühseligem Deutsch der italienische Offizier und griff nach dem Feuerzeug.

Da fuhr, aufgeschreckt aus seinen gehitzten Gedanken, der alte Mann empor und starrte den Ahnungslosen grimmig an. Der Zorn stand noch heiß in ihm. Einen Augenblick krampfte die Hand den Stock. Dann aber zerrte sich der Mund schon wieder schief herab und zerging in ein unsinniges Grinsen: „Oh, ich gestatte“, wiederholte er, und die Stimme schlug schneidend über. „Gewiss gestatte ich, hehe… alles gestatte ich… was Sie wollen… hehe… alles gestatte ich… alles, was ich habe, steht ja zu Ihrer Verfügung… mit mir kann man sich alles gestatten…“

Der Offizier sah ihn befremdet an. Der Sprache un-kund, hatte er nicht ganz verstanden. Aber dieses schiefe, grinsende Lachen beunruhigte ihn. Der deutsche Herr fuhr unwillkürlich auf, die beiden Frauen kalkweiß – für einen Augenblick stand die Luft zwischen ihnen allen starr und atemlos wie in der dünnen Pause zwischen Blitz und dem nachrollenden Donner.

Aber dann lockerte sich die wilde Verzerrung, der Stock glitt aus der gekrampften Faust. Wie ein geprügelter Hund kroch der alte Mann in sich zurück und hüstelte verlegen, von seiner eigenen Kühnheit erschreckt. Hastig knüpfte Erna, um die peinliche Spannung abzuschwächen, das abgerissene Gespräch neuerdings an; der deutsche Baron antwortete mit sichtlich beflissener Heiterkeit, und nach wenigen Minuten schon lief der gestockte Schwall wieder sorglos dahin.

Der alte Mann saß vollkommen abwendig inmitten der Schwatzenden, man hätte glauben können, er schliefe. Der wuchtige Stock, seinen Händen entsunken, pendelte[23 - pendeln – etwas hängen lassen und hin und her schwingen] zwecklos zwischen den Beinen. Immer tiefer glitt das Haupt in die aufgestützte Hand. Aber niemand achtete mehr auf ihn: über sein Schweigen rollte die plaudernde Woge klingend hinweg, manchmal sprühte an übermütig scherzendem Wort Schaum von Gelächter funkelnd empor; er aber lag unten reglos in unendlichem Dunkel, ertrunken in Scham und Schmerz.

Die drei Herren standen auf, Erna folgte eilfertig und langsamer die Mutter; sie gingen, heiterem Vorschlag folgend, ins Musikzimmer nebenan und hielten es nicht für nötig, den dumpf vor sich Hindösenden besonders aufzufordern. Erst von der plötzlichen Leere um sich betroffen, wachte er auf, wie ein Schlafender aufschreckt vom Gefühl der Kälte, wenn nachts die Decke heruntergeglitten ist und kalte Zugluft den bloßen Leib überstreicht. Unwillkürlich tappte der Blick auf die verlassenen Sessel; aber da hämmerte schon vom Klaviersalon nebenan klapprig und reißerisch ein Jazz, er hörte Lachen und aufmunternde Rufe. Sie tanzten nebenan. Ja, tanzen, immer tanzen, das konnten sie! Immer wieder sich das Blut aufjagen, immer sich geil aneinanderreiben, bis der Braten gar war. Tanzen, abends, nachts und am hellichten Tag, die Faulenzer, die Müßiggänger, damit kirrten sie die Weiber.

Erbittert fasste er wieder den derben Stock und schlurfte ihnen nach. An der Tür blieb er stehen. Der deutsche Herrenreiter saß am Klavier und rasselte, halb umgewendet, um den Tanzenden gleichzeitig zuzusehen, auswendig und ungefähr einen amerikanischen Gassenhauer über die Tasten. Erna tanzte mit dem Offizier, die Mutter, schwerfällig und stark, schob der langstielige Conte Ubaldi nicht ohne Mühe rhythmisch vor und zurück. Aber der alte Mann starrte nur auf Erna und ihren Partner. Wie der Windhund leicht und schmeichlerisch seine Hände auf ihre zarte Schulter legte, als gehöre dieses Wesen ihm gänzlieh an! Wie ihr Körper wiegend und hingehend, gleichsam sich versprechend, an den seinen drängte, wie sie ineinander-wuchsen vor seinen eigenen Augen in mühsam verhaltener Leidenschaft! Ja, der war es, der – denn in diesen beiden flutenden Körpern glühte sichtlich ein Einander-kennen, eine schon ins Blut gedrungene Gemeinschaft. Ja, der war es, der – nur der konnte es sein, er las an ihren Augen, die, halbgeschlossen und doch überströmend, in diesem flüchtigen Schweben ein heißer Genossenes erinnernd widerstrahlten – der war es, der Dieb, der nächtens glühend griff und durchdrang, was sich jetzt in dünnem wogendem Kleid halbdurchsichtig verhehlte, sein Kind, sein Kind! Unwillkürlich trat er heran, sie jenem wegzureißen. Aber sie bemerkte ihn nicht. Mit jeder Bewegung dem Rhythmus, dem unmerklich sie lenkenden Druck des Führers, des Verführers hingegeben: rückgelehnten Hauptes mit feucht geöffnetem Mund, ganz Trunkenheit und Selbstvergessen, wogte sie leise im weichen Geström der Musik, den Raum nicht fühlend, die Zeit nicht und den Menschen, den zitternden, keuchenden alten Mann, der blutunterlaufenen Blicks auf sie starrte in einer fanatischen Verzückung des Zornes. Nur sich selbst fühlte sie, ihre eigenen jungen Glieder, widerstandslos folgend dem knatternden Riss der jappenden, wirbelnden Tanzmelodie; nur sich selbst fühlte sie und dass ein Männliches atemnah sie begehrte, starker Arm sie umfing und sie sich bewahren musste in dieser weichen Schwebe, ihm nicht entgegenzustürzen mit begehrlichen Lippen und heiß einziehender Luft des Sich-Gebens. Und all dies war magisch dem alten Mann im eigenen erschütterten Blut bewusst: immer, wenn der Tanz sie von ihm wegströmte, war ihm, als ginge sie unter für immer.

Plötzlich riss wie eine klirrende Saite[24 - Saite die; -, -n – eine Art Faden oder Draht aus Metall, Tierdarm oder Kunststoff, der an einem Musikinstrument die Töne erzeugt, wenn man ihn streicht oder zupft] die Musik mitten im Takte ab. Der deutsche Baron sprang auf: „Assez joue pour vous“, lachte er. „Maintenant je veux danser moi-meme.[25 - Maintenant je veux danser moi-meme (fr.) – Wollen sie tanzen!]“ Alle stimmten übermütig bei, die Gruppe löste sich aus der bewegten Zweiheit des Tanzes in ein locker flatterndes Beisammensein.

Der alte Mann kam wieder zu sich: etwas tun jetzt, etwas sagen! Nicht so tölpelig, so jämmerlich überflüssig dabeistehen! Eben wogte seine Frau vorbei, ein wenig keuchend von der Anstrengung und doch warm von Zufriedenheit. Der Zorn gab ihm einen plötzlichen Entschluss. Er trat ihr in den Weg: „Komm“, keuchte er ungeduldig, „ich habe mit dir zu reden.“

Sie blickte ihn verwundert an: Schweißperlen feuchteten ihm die blasse Stirn, seine Augen blickten irr. Was wollte er denn? Warum gerade jetzt sie stören? Schon formte sich ausweichendes Wort auf der Lippe; aber da war etwas so Zuckendes, so Gefährliches in seinem Gehaben, dass sie, des grimmigen Ausbruchs von vordem sich plötzlich erinnernd, ihm widerwillig folgte.

„Excusez, messieurs, un instant![26 - Excusez, messieurs, un instant (fr.) – Moment, bitte!]“ wandte sie sich zuvor noch entschuldigend zu den Herren zurück. „Bei ihnen entschuldigt sie sich“, dachte ingrimmig der Aufgeregte, „bei mir haben sie sich nicht entschuldigt, wie sie vom Tisch aufgestanden sind. Ich bin der Hund für sie, der Fußfetzen, auf dem man herumtritt. Aber sie haben recht, sie haben recht, wenn ich es dulde.“

Sie wartete mit streng hochgezogenen Augenbrauen; wie ein Schüler vor dem Lehrer stand er zuckender Lippe vor ihr.

„Nun?“ forderte sie ihn schließlich heraus.

„Ich will nicht… ich will nicht…“ stammelte er endlich unbeholfen. „Ich will nicht, dass ihr…, dass ihr mit diesen Leuten da verkehrt.“

„Mit welchen Leuten?“ – absichtlich nicht verstehend, hob sie indigniert den Blick, als hätte er sie selber beleidigt.

„Mit denen da“ – wütend schwenkte er seinen niedern Kopf in die Richtung des Musikzimmers hinüber – , „es passt mir nicht… ich will es nicht…“

„Und warum nicht?“

„Immer dieser inquisitorische Ton“, dachte er erbittert, „als ob ich ihr Bedienter wäre“; und aufgeregter stotterte er: „Ich habe meine Gründe… Es passt mir nicht… Ich will nicht, dass Erna mit diesen Leuten spricht… Ich muss nicht alles sagen.“

„Dann tut es mir leid“, hochfahrend lehnte sie ab. „Ich finde alle drei Herren außerordentlich wohlerzogene Leute, weit bessere Gesellschaft, als wir sie zu Hause finden.“

„Bessere Gesellschaft!.. Diese Tagediebe… diese… diese“… Der Zorn würgte immer unerträglicher. Und plötzlich stampfte er auf. „Ich will es nicht… ich verbiete es… hast du verstanden?“

„Nein“, antwortete sie kaltblütig. „Ich habe gar nichts verstanden. Ich weiß nicht, warum ich dem Kind sein Vergnügen verderben sollte…“

„Sein Vergnügen!.. sein Vergnügen!.. „er taumelte wie unter einem Hieb, rot das Gesicht, die Stirn überströmt von feuchtem Schweiß – die Hand tastete ins Leere nach dem schweren Stock, sich anzuhalten oder loszuschlagen damit. Aber er hatte ihn vergessen. Das brachte ihn wieder zu sich. Er zwang sich – eine warme Welle strich ihm plötzlich über das Herz. Er trat näher, als wollte er ihre Hand fassen. Seine Stimme wurde ganz klein, betderisch fast. „Du… du verstehst mich nicht… ich will ja nichts für mich… ich bitte euch nur darum… es ist meine erste Bitte seit Jahren: fahren wir fort von hier… fort, nach Florenz, nach Rom, wohin ihr wollt, alles ist mir recht… Ihr könnt alles bestimmen, ganz wie ihr wollt… nur fort von hier, ich bitte dich… fort,… nur fort, heute noch… heute… ich… ich kann es nicht länger ertragen… ich kann nicht.“