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Casanovas Heimfahrt
Arthur Schnitzler
Arthur Schnitzler
CASANOVAS HEIMFAHRT
Casanovas Heimfahrt
In seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre, als Casanova längst nicht mehr von der Abenteuerlust der Jugend, sondern von der Ruhelosigkeit nahenden Alters durch die Welt gejagt wurde, fühlte er in seiner Seele das Heimweh nach seiner Vaterstadt Venedig so heftig anwachsen, daß er sie, gleich einem Vogel, der aus luftigen Höhen zum Sterben allmählich nach abwärts steigt, in eng und immer enger werdenden Kreisen zu umziehen begann. Öfter schon in den letzten zehn Jahren seiner Verbannung hatte er an den hohen Rat Gesuche gerichtet, man möge ihm die Heimkehr gestatten; doch hatten ihm früher bei der Abfassung solcher Satzschriften, in denen er Meister war, Trotz und Eigensinn, manchmal auch ein grimmiges Vergnügen an der Arbeit selbst die Feder geführt, so schien sich seit einiger Zeit in seinen fast demütig flehenden Worten ein schmerzliches Sehnen und echte Reue immer unverkennbarer auszusprechen. Er glaubte um so sicherer auf Erhörung rechnen zu dürfen, als die Sünden seiner früheren Jahre, unter denen übrigens nicht Zuchtlosigkeit, Händelsucht und Betrügereien meist lustiger Natur, sondern Freigeisterei den Venezianer Ratsherren die unverzeihlichste dünkte, allmählich in Vergessenheit zu geraten begannen und die Geschichte seiner wunderbaren Flucht aus den Bleikammern von Venedig, die er unzählige Male an regierenden Höfen, in adeligen Schlössern, an bürgerlichen Tischen und in übelberüchtigten Häusern zum besten gegeben hatte, jede andere Nachrede, die sich an seinen Namen knüpfte, zu übertönen anfing; und eben wieder, in Briefen nach Mantua, wo er sich seit zwei Monaten aufhielt, hatten hochmögende Herren dem an innerm wie an äußerm Glanz langsam verlöschenden Abenteurer Hoffnung gemacht, daß sich sein Schicksal binnen kurzem günstig entscheiden würde.
Da seine Geldmittel recht spärlich geworden waren, hatte Casanova beschlossen, in dem bescheidenen, aber anständigen Gasthof, den er schon in glücklicheren Jahren einmal bewohnt hatte, das Eintreffen der Begnadigung abzuwarten, und er vertrieb sich indes die Zeit – ungeistigerer Zerstreuungen nicht zu gedenken, auf die gänzlich zu verzichten er nicht imstande war – hauptsächlich mit Abfassung einer Streitschrift gegen den Lästerer Voltaire, durch deren Veröffentlichung er seine Stellung und sein Ansehen in Venedig gleich nach seiner Wiederkehr bei allen Gutgesinnten in unzerstörbarer Weise zu befestigen gedachte.
Eines Morgens, auf einem Spaziergang außerhalb der Stadt, während er für einen vernichtenden, gegen den gottlosen Franzosen gerichteten Satz die letzte Abrundung zu finden sich mühte, befiel ihn plötzlich eine außerordentliche, fast körperlich peinvolle Unruhe; das Leben, das er in leidiger Gewöhnung nun schon durch drei Monate führte: die Morgenwanderungen vor dem Tor ins Land hinaus, die kleinen Spielabende bei dem angeblichen Baron Perotti und dessen blatternarbiger Geliebten, die Zärtlichkeiten seiner nicht mehr ganz jungen, aber feurigen Wirtin, ja sogar die Beschäftigung mit den Werken Voltaires und die Arbeit an seiner eigenen kühnen und bisher, wie ihm dünkte, nicht übel gelungenen Erwiderung; – all dies erschien ihm, in der linden, allzu süßen Luft dieses Spätsommermorgens, gleichermaßen sinnlos und widerwärtig; er murmelte einen Fluch vor sich hin, ohne recht zu wissen, wen oder was er damit treffen wollte; und, den Griff seines Degens umklammernd, feindselige Blicke nach allen Seiten sendend, als richteten aus der Einsamkeit ringsum unsichtbare Augen sich höhnend auf ihn, wandte er plötzlich seine Schritte nach der Stadt zurück, in der Absicht, noch in derselben Stunde Anstalten für seine sofortige Abreise zu treffen. Denn er zweifelte nicht, daß er sich sofort besser befinden würde, wenn er nur erst der ersehnten Heimat wieder um einige Meilen näher gerückt wäre. Er beschleunigte seinen Gang, um sich rechtzeitig einen Platz in der Eilpost zu sichern, die vor Sonnenuntergang in der Richtung nach Osten abfuhr; – weiter hatte er kaum etwas zu tun, da er sich einen Abschiedsbesuch beim Baron Perotti wohl schenken durfte, und ihm eine halbe Stunde vollauf genügte, um seine gesamten Habseligkeiten für die Reise einzupacken. Er dachte der zwei etwas abgetragenen Gewänder, von denen er das schlechtere am Leibe trug, und der vielfach geflickten, einst fein gewesenen Wäsche, die mit ein paar Dosen, einer goldenen Kette samt Uhr und einer Anzahl von Büchern seinen ganzen Besitz ausmachten; – vergangene Tage fielen ihm ein, da er als vornehmer Mann mit allem Notwendigen und Überflüssigen reichlich ausgestattet, wohl auch mit einem Diener – der freilich meist ein Gauner war – im prächtigen Reisewagen durch die Lande fuhr; – und ohnmächtiger Zorn trieb ihm die Tränen in die Augen. Ein junges Weib, die Peitsche in der Hand, kutschierte ein Wägelchen an ihm vorbei, darin zwischen Säcken und allerlei Hausrat schnarchend ihr betrunkener Mann lag. Sie blickte Casanova, wie er verzerrten Gesichtes, Unverständliches durch die Zähne murmelnd, unter den abgeblühten Kastanienbäumen der Heerstraße langbeinig ausschreitend einherkam, zuerst neugierig spöttisch ins Gesicht, doch da sie ihren Blick zornig blitzend erwidert sah, nahmen ihre Augen einen erschrockenen, und endlich, wie sie sich im Weiterfahren nach ihm umwandte, einen wohlgefällig lüsternen Ausdruck an. Casanova, der wohl wußte, daß Grimm und Haß länger in den Farben der Jugend zu spielen vermögen als Sanftheit und Zärtlichkeit, erkannte sofort, daß es nur eines frechen Anrufs von seiner Seite bedurft hätte, um dem Wagen Halt zu gebieten und dann mit dem jungen Weib anstellen zu können, was ihm weiter beliebte; doch, obzwar diese Erkenntnis seine Laune für den Augenblick besserte, schien es ihm nicht der Mühe wert, um eines so geringen Abenteuers willen auch nur wenige Minuten zu verziehen; und so ließ er das Bauernwägelchen samt seinen Insassen im Staub und Dunst der Landstraße unangefochten weiterknarren.
Der Schatten der Bäume nahm der emporsteigenden Sonne nur wenig von ihrer sengenden Kraft, und Casanova sah sich genötigt, seinen Schritt allmählich zu mäßigen. Der Staub der Straße hatte sich so dicht auf sein Gewand und Schuhwerk gelegt, daß ihnen ihre Verbrauchtheit nicht mehr anzumerken war, und so konnte man Casanova, nach Tracht und Haltung, ohne weiteres für einen Herrn von Stande nehmen, dem es just gefallen hatte, seine Karosse einmal daheim zu lassen. Schon spannte sich der Torbogen vor ihm aus, in dessen nächster Nähe der Gasthof gelegen war, in dem er wohnte, als ihm ein ländlich schwerfälliger Wagen entgegengeholpert kam, in dem ein behäbiger, gutgekleideter, noch ziemlich junger Mann saß. Er hatte die Hände über dem Magen gekreuzt und schien eben mit blinzelnden Augen einnicken zu wollen, als sein Blick, zufällig Casanova streifend, in unerwarteter Lebhaftigkeit aufglänzte, wie zugleich seine ganze Erscheinung in eine Art von heiterm Aufruhr zu geraten schien. Er erhob sich zu rasch, sank sofort zurück, stand wieder auf, versetzte dem Kutscher einen Stoß in den Rücken, um ihn zum Halten zu veranlassen, drehte sich in dem weiterrollenden Wagen um, um Casanova nicht aus dem Gesicht zu verlieren, winkte ihm mit beiden Händen zu und rief endlich mit einer dünnen hellen Stimme dreimal dessen Namen in die Luft. Erst an der Stimme hatte Casanova den Mann erkannt, trat auf den Wagen zu, der stehengeblieben war, ergriff lächelnd die beiden sich ihm entgegenstreckenden Hände und sagte: »Ist es möglich, Olivo – Sie sind es?« – »Ja, ich bin es, Herr Casanova, Sie erkennen mich also wieder?« – »Warum sollt› ich nicht? Sie haben zwar seit Ihrem Hochzeitstag, an dem ich Sie zuletzt gesehn, an Umfang ein wenig zugenommen, – aber auch ich mag mich in den fünfzehn Jahren nicht unerheblich verändert haben, wenn auch nicht in gleicher Weise.« – »Kaum«, rief Olivo, »so gut wie gar nicht, Herr Casanova! Übrigens sind es sechzehn Jahre, vor wenigen Tagen waren es sechzehn! Und wie Sie sich wohl denken können, haben wir, gerade bei dieser Gelegenheit, ein hübsches Weilchen lang von Ihnen gesprochen, Amalia und ich…« – »Wirklich«, sagte Casanova herzlich, »Sie erinnerte sich beide noch manchmal meiner?« Olivos Augen wurden feucht. Noch immer hielt er Casanovas Hände in den seinen und drückte sie nun gerührt. »Wieviel haben wir Ihnen zu danken, Herr Casanova! Und wir sollten unsres Wohltäters jemals vergessen? Und wenn wir jemals —« – »Reden wir nicht davon«, unterbrach Casanova. »Wie befindet sich Frau Amalia? Wie ist es überhaupt zu verstehn, daß ich in diesen ganzen zwei Monaten, die ich nun in Mantua verbringe – freilich recht zurückgezogen, aber ich gehe doch viel spazieren nach alter Gewohnheit – wie kommt es, daß ich Ihnen, Olivo, daß ich Ihnen beiden nicht ein einziges Mal begegnet bin?« – »Sehr einfach, Herr Casanova! Wir wohnen ja längst nicht mehr in der Stadt, die ich übrigens niemals habe leiden können, so wenig wie Amalia sie leiden mag. Erweisen Sie mir die Ehre, Herr Casanova, steigen Sie ein, in einer Stunde sind wir bei mir zu Hause« – und da Casanova leicht abwehrte – »Sagen Sie nicht nein. Wie glücklich wird Amalia sein, Sie wiederzusehen, und wie stolz, Ihnen unsre drei Kinder zu zeigen. Ja, drei, Herr Casanova. Lauter Mädchen. Dreizehn, zehn und acht… Also noch keines in den Jahren, sich – mit Verlaub – sich – von Casanova das Köpfchen verdrehen zu lassen.« Er lachte gutmütig und machte Miene, Casanova einfach zu sich in den Wagen hereinzuziehen. Casanova aber schüttelte den Kopf. Denn, nachdem er fast schon versucht gewesen war, einer begreiflichen Neugier nachzugeben und der Aufforderung Olivos zu folgen, überkam ihn seine Ungeduld mit neuer Macht, und er versicherte Olivo, daß er leider genötigt sei, heute noch vor Abend Mantua in wichtigen Geschäften zu verlassen. Was hatte er auch in Olivos Haus zu suchen? Sechzehn Jahre waren eine lange Zeit! Amalia war indes gewiß nicht jünger und schöner geworden; bei dem dreizehnjährigen Töchterlein würde er in seinen Jahren kaum sonderlichen Anwert finden; und Herrn Olivo selbst, der damals ein magerer, der Studien beflissener Jüngling gewesen war, als bäurisch behäbigen Hausvater in ländlicher Umgebung zu bewundern, das lockte ihn nicht genug, als daß er darum eine Reise hätte aufschieben sollen, die ihn Venedig wieder um zehn oder zwanzig Meilen näher brachte. Olivo aber, der nicht gesonnen schien, Casanovas Weigerung ohne weiteres hinzunehmen, bestand darauf, ihn vorerst einmal im Wagen nach dem Gasthof zu bringen, was ihm Casanova füglich nicht abschlagen konnte. In wenigen Minuten waren sie am Ziel. Die Wirtin, eine stattliche Frau in der Mitte der Dreißig, begrüßte in der Einfahrt Casanova mit einem Blick, der das zwischen ihnen bestehende zärtliche Verhältnis auch für Olivo ohne weitres ersichtlich machen mußte. Diesem aber reichte sie die Hand als einem guten Bekannten, von dem sie – wie sie Casanova gegenüber gleich bemerkte – eine gewisse, auf seinem Gut wachsende, sehr preiswürdige, süßlich-herbe Weinsorte regelmäßig zu beziehen pflegte. Olivo beklagte sich sofort, daß der Chevalier von Seingalt (denn so hatte die Wirtin Casanova begrüßt, und Olivo zögerte nicht, sich gleichfalls dieser Anrede zu bedienen) so grausam sei, die Einladung eines wiedergefundenen alten Freundes auszuschlagen, aus dem lächerlichen Grunde, weil er heute, und durchaus gerade heute, von Mantua wieder abreisen müsse. Die befremdete Miene der Wirtin belehrte ihn sofort, daß diese von Casanovas Absicht bisher noch nichts gewußt hatte, und Casanova hielt es daraufhin für angebracht, zu erklären, daß er den Reiseplan zwar nur vorgeschützt, um nicht der Familie des Freundes durch einen so unerwarteten Besuch lästig zu fallen; tatsächlich aber sei er genötigt, ja verpflichtet, in den nächsten Tagen eine wichtige schriftstellerische Arbeit abzuschließen, wofür er keinen geeigneteren Ort wüßte, als diesen vorzüglichen Gasthof, in dem ihm ein kühles und ruhiges Zimmer zur Verfügung stände. Darauf beteuerte Olivo, daß seinem bescheidenen Haus keine größre Ehre widerfahren könne, als wenn der Chevalier von Seingalt dort sein Werk zum Abschluß brächte; die ländliche Abgeschiedenheit könne einem solchen Unterfangen doch nur förderlich sein; an gelehrten Schriften und Hilfsbüchern, wenn Casanova solcher benötigte, wäre auch kein Mangel, da seine, Olivos, Nichte, die Tochter seines verstorbenen Stiefbruders, ein junges, aber trotz ihrer Jugend schon höchst gelehrtes Mädchen, vor wenigen Wochen mit einer ganzen Kiste voll Büchern bei ihnen eingetroffen sei; – und wenn des Abends gelegentlich Gäste erschienen, so brauchte sich der Herr Chevalier weiter nicht um sie zu kümmern; es sei denn, daß ihm nach des Tages Arbeit und Bemühen eine heitre Unterhaltung oder ein kleines Spielchen nicht eher eine willkommene Zerstreuung bedeutete. Casanova hatte kaum von einer jungen Nichte vernommen, als er auch schon entschlossen war, sich dieses Geschöpf in der Nähe zu besehn; anscheinend noch immer zögernd, gab er dem Drängen Olivos endlich nach, erklärte aber gleich, daß er keineswegs länger als ein oder zwei Tage von Mantua fernbleiben könne, und beschwor seine liebenswürdige Wirtin, Briefe, die für ihn indes hier anlangen mochten und vielleicht von höchster Wichtigkeit waren, ihm unverzüglich durch einen Boten nachzusenden. Nachdem die Sache so zu Olivos großer Zufriedenheit geordnet war, begab sich Casanova auf sein Zimmer, machte sich für die Reise fertig, und schon nach einer Viertelstunde trat er in die Gaststube, wo Olivo sich indes in ein eifriges Gespräch geschäftlicher Natur mit der Wirtin eingelassen hatte. Nun erhob er sich, trank stehend sein Glas Wein aus, und verständnisvoll zwinkernd versprach er ihr, den Chevalier – wenn auch nicht bereits morgen oder übermorgen – doch in jedem Falle wohlbehalten und unversehrt an sie zurückzustellen. Casanova aber, plötzlich zerstreut und hastig, empfahl sich so kühl von seiner freundlichen Wirtin, daß sie ihm, schon am Wagenschlag, ein Abschiedswort ins Ohr flüsterte, das eben keine Liebkosung war.
Während die beiden Männer die staubige, im sengenden Mittagsglanz daliegende Straße ins Land hinausfuhren, erzählte Olivo weitschweifig und wenig geordnet von seinen Lebensumständen: wie er bald nach seiner Verheiratung ein winziges Grundstück nahe der Stadt gekauft, einen kleinen Gemüsehandel angefangen; dann seinen Besitz allmählich erweitert und Landwirtschaft zu treiben begonnen; – wie er es endlich durch die eigne und seiner Gattin Tüchtigkeit mit Gottes Segen so weit gebracht, daß er vor drei Jahren von dem verschuldeten Grafen Marazzani dessen altes, etwas verfallenes Schloß samt dazugehörigem Weingut käuflich zu erwerben imstande gewesen, und wie er sich nun auf adligem Grund mit Frau und Kindern behaglich, wenn auch keineswegs gräflich, eingerichtet habe. All dies aber verdanke er zuletzt doch nur den hundertfünfzig Goldstücken, die seine Braut oder vielmehr deren Mutter von Casanova zum Geschenk erhalten habe; – ohne diese zauberkräftige Hilfe wäre sein Los wohl heute noch kein andres, als es damals gewesen: ungezogne Rangen im Lesen und Schreiben zu unterweisen; wahrscheinlich wäre er auch ein alter Junggeselle und Amalie eine alte Jungfer geworden… Casanova ließ ihn reden und hörte ihm kaum zu. Ihm zog das Abenteuer durch den Sinn, in das er damals zugleich mit manchen andern bedeutungsvollern verstrickt gewesen war, und das, als das geringste von allen, seine Seele so wenig als seither seine Erinnerung beschäftigt hatte. Auf einer Reise von Rom nach Turin oder Paris – er wußte es selbst nicht mehr – während eines kurzen Aufenthalts in Mantua hatte er Amalia eines Morgens in der Kirche erblickt und, da ihm ihr hübsches blasses, etwas verweintes Antlitz wohlgefallen, eine freundlich galante Frage an sie gerichtet. Zutunlich wie sie damals alle gegen ihn waren, hatte sie ihm gern ihr Herz aufgeschlossen, und so erfuhr er, daß sie, die selbst in dürftigen Verhältnissen lebte, in einen armen Schullehrer verliebt war, dessen Vater ebenso wie ihre Mutter zu einer so aussichtslosen Verbindung die Einwilligung entschieden verweigerte. Casanova erklärte sich sofort bereit, die Angelegenheit ins reine zu bringen. Er ließ sich vor allem mit Amaliens Mutter bekanntmachen, und da diese als eine hübsche Witwe von sechsunddreißig Jahren auf Huldigungen noch Anspruch machen durfte, war Casanova bald so innig mit ihr befreundet, daß seine Fürsprache alles bei ihr zu erreichen vermochte. Sobald sie erst ihre ablehnende Haltung aufgegeben, versagte auch Olivos Vater, ein heruntergekommener Kaufmann, seine Zustimmung nicht länger, insbesondere als Casanova, der ihm als entfernter Verwandter der Brautmutter vorgestellt wurde, sich großmütig verpflichtete, die Kosten der Hochzeit und einen Teil der Aussteuer zu bezahlen. Amalia selbst aber konnte nicht anders, als dem edlen Gönner, der ihr erschienen war wie ein Bote aus einer andern höhern Welt, sich in einer Weise dankbar erzeigen, die das eigne Herz ihr gebot; und als sie sich am Abend vor ihrer Hochzeit der letzten Umarmung Casanovas mit glühenden Wangen entrang, war ihr der Gedanke völlig fern, an ihrem Bräutigam, der sein Glück am Ende doch nur der Liebenswürdigkeit und dem Edelsinn des wunderbaren Fremden verdankte, ein Unrecht begangen zu haben. Ob Olivo von der außerordentlichen Erkenntlichkeit Amaliens gegenüber dem Wohltäter je durch ein Geständnis Kunde erhalten, ob er ihr Opfer vielleicht als ein selbstverständliches vorausgesetzt und ohne nachträgliche Eifersucht hingenommen hatte, oder ob ihm gar, was geschehen war, bis heute ein Geheimnis geblieben war, – darum hatte Casanova sich niemals gekümmert und kümmerte sich auch heute nicht darum.
Die Hitze stieg immer höher an. Der Wagen, schlecht gefedert und mit harten Kissen versehn, rumpelte und stieß zum Erbarmen, das dünnstimmig gutmütige Geschwätz Olivos, der nicht abließ, seinen Begleiter von der Ersprießlichkeit seines Bodens, der Vortrefflichkeit seiner Hausfrau, der Wohlgeratenheit seiner Kinder und von dem vergnügt harmlosen Verkehr mit bäuerlicher und adliger Nachbarschaft zu unterhalten, begann Casanova zu langweilen, und ärgerlich fragte er sich, aus welchem Grunde er denn eigentlich eine Einladung angenommen, die für ihn nichts als Unbequemlichkeiten und am Ende gar Enttäuschungen im Gefolge haben konnte. Er sehnte sich nach seinem kühlen Gasthofszimmer in Mantua, wo er zu dieser selben Stunde ungestört an seiner Schrift gegen Voltaire hätte weiterarbeiten können, – und schon war er entschlossen, beim nächsten Wirtshaus, das eben sichtbar wurde, auszusteigen, ein beliebiges Gefährt zu mieten und zurückzufahren, als Olivo ein lautes Holla he! hören ließ, nach seiner Art mit beiden Händen zu winken begann und, Casanova beim Arm packend, auf einen Wagen deutete, der neben dem ihren, zugleich mit diesem, wie auf Verabredung, stehengeblieben war. Von jenem andern aber sprangen, eines hinter dem andern, drei ganz junge Mädchen herunter, so daß das schmale Brett, das ihnen als Sitz gedient hatte, in die Höhe flog und umkippte. »Meine Töchter«, wandte sich Olivo, nicht ohne Stolz, an Casanova, und als dieser sofort Miene machte, seinen Platz im Wagen zu verlassen: »Bleiben Sie nur sitzen, mein teurer Chevalier, in einer Viertelstunde sind wir am Ziel, und so lange können wir uns schon alle in meiner Kutsche behelfen. Maria, Nanetta, Teresina – seht, das ist der Chevalier von Seingalt, ein alter Freund eures Vaters, kommt nur näher, küßt ihm die Hand, denn ohne ihn wäret ihr« – er unterbrach sich und flüsterte Casanova zu: »Bald hätt› ich was Dummes gesagt.« Dann verbesserte er sich laut: »Ohne ihn wäre manches anders!« Die Mädchen, schwarzhaarig und dunkeläugig wie Olivo, und alle, auch die älteste, Teresina, noch von kindlichem Aussehn, betrachteten den Fremden mit ungezwungener, etwas bäurischer Neugier, und die jüngste, Maria, schickte sich, der väterlichen Weisung folgend, an, ihm allen Ernstes die Hand zu küssen; Casanova aber ließ es nicht zu, sondern nahm eins der Mädchen nach dem andern beim Kopf und küßte jedes auf beide Wangen. Indes wechselte Olivo ein paar Worte mit dem jungen Burschen, der das Wägelchen mit den Kindern bis hierher gebracht hatte, worauf jener auf das Pferd einhieb und die Landstraße in der Richtung nach Mantua weiterfuhr.
Die Mädchen nahmen Olivo und Casanova gegenüber unter Lachen und scherzhaftem Gezänk auf dem Rücksitz Platz; sie saßen eng aneinandergedrängt, redeten alle zugleich, und da ihr Vater gleichfalls zu sprechen nicht aufhörte, war es Casanova anfangs nicht leicht, ihren Worten zu entnehmen, was sie alle einander eigentlich zu erzählen hatten. Ein Name klang auf, der eines Leutnants Lorenzi; er sei, wie Teresina berichtete, vor einer Weile an ihnen vorbeigeritten, habe für den Abend seinen Besuch in Aussicht gestellt und lasse den Vater schönstens grüßen. Ferner meldeten die Kinder, daß die Mutter anfangs gleichfalls beabsichtigt hätte, dem Vater entgegenzufahren; aber in Anbetracht der großen Hitze hatte sie›s doch vorgezogen, daheim bei Marcolina zu bleiben. Marcolina aber war noch in den Federn gelegen, als man von Hause wegfuhr; und vom Garten aus durchs offne Fenster hatten sie sie mit Beeren und Haselnüssen beworfen, sonst schliefe sie wohl noch zu dieser Stunde.
»Das ist sonst nicht Marcolinens Art«, wandte sich Olivo an seinen Gast; »meistens sitzt sie schon um sechs Uhr oder noch früher im Garten und studiert bis zur Mittagszeit. Gestern freilich hatten wir Gäste, und es dauerte etwas länger als gewöhnlich; auch ein kleines Spielchen wurde gemacht, – nicht eins, wie es der Herr Chevalier gewöhnt sein mögen – wir sind harmlose Leute und wollen einander nicht das Geld abnehmen. Und da auch unser würdiger Abbate sich zu beteiligen pflegt, so können Sie sich wohl denken, Herr Chevalier, daß es nicht sehr sündhaft dabei zugeht.«
Als vom Abbate die Rede war, lachten die Mädchen und hatten einander weiß Gott was zu erzählen, worüber es noch mehr zu lachen gab als vorher. Casanova aber nickte nur zerstreut; in der Phantasie sah er das Fräulein Marcolina, das er noch gar nicht kannte, in ihrem weißen Bette liegend, dem Fenster gegenüber, die Decke heruntergestreift, halb entblößten Leibes, mit schlaftrunknen Händen sich gegen die hereinfliegenden Beeren und Haselnüsse wehrend; – und eine törichte Glut flog durch seine Sinne. Daß Marcolina die Geliebte des Leutnants Lorenzi war, daran zweifelte er so wenig, als hätte er selbst sie beide in zärtlichster Umschlingung gesehn, und er war so bereit, den unbekannten Lorenzi zu hassen, als ihn nach der niemals geschauten Marcolina verlangte.
Im zitternden Dunst des Mittags, über graugrünes Laubwerk emporragend, ward ein viereckiges Türmchen sichtbar. Bald bog der Wagen von der Landstraße auf einen Seitenweg; links stiegen Weinhügel gelinde an, rechts über den Rand einer Gartenmauer neigten sich Kronen uralter Bäume. Der Wagen hielt an einem Tor, dessen verwitterte Holzflügel weit offen standen, die Fahrgäste stiegen aus, der Kutscher, auf einen Wink Olivos, fuhr weiter, dem Stalle zu. Ein breiter Weg unter Kastanienbäumen führte zu dem Schlößchen, das sich auf den ersten Anblick etwas kahl, ja vernachlässigt darbot. Was Casanova vor allem ins Auge fiel, war ein zerbrochenes Fenster im ersten Stockwerk; ebenso entging es ihm nicht, daß die Umfassung auf der Plattform des breiten, aber niedern Turmes, der etwas plump auf dem Gebäude saß, da und dort abbröckelte. Hingegen zeigte die Haustüre eine edle Schnitzerei, und in den Flur tretend, erkannte Casanova sofort, daß das Innere des Hauses sich in einem wohlerhaltenen und jedenfalls weit bessern Zustand befand, als dessen Äußres hätte vermuten lassen.
»Amalia«, rief Olivo laut, daß es von den gewölbten Mauern widerhallte. »Komm herunter so geschwind du kannst! Ich hab› dir einen Gast mitgebracht, Amalia, und was für einen Gast!« Aber Amalia war schon vorher oben auf der Stiege erschienen, ohne für die aus der vollen Sonne in das Dämmer Tretenden sofort sichtbar zu sein. Casanova, dessen scharfe Augen sich die Fähigkeit bewahrt hatten, selbst das Dunkel der Nacht zu durchdringen, hatte sie früher bemerkt als der Gatte. Er lächelte und fühlte zugleich, daß dieses Lächeln sein Antlitz jünger machte. Amalia war keineswegs fett geworden, wie er gefürchtet, sondern sah schlank und jugendlich aus. Sie hatte ihn gleich erkannt. »Welche Überraschung, welches Glück!« rief sie ohne jede Verlegenheit aus, eilte rasch die Stufen hinab und reichte Casanova zur Begrüßung die Wange, worauf dieser sie ohne weitres wie eine liebe Freundin umarmte. »Und ich soll wirklich glauben«, sagte er dann, »daß Maria, Nanetta und Teresina Ihre leiblichen Töchter sind, Amalia? Der Zeit nach möchte es zwar stimmen —« »Und allem übrigen nach auch«, ergänzte Olivo, »verlassen Sie sich darauf, Chevalier!« – »Dein Zusammentreffen mit dem Chevalier«, sagte Amalia mit einem erinnerungstrunknen Blick auf den Gast, »ist wohl an deiner Verspätung schuld, Olivo?« – »So ist es, Amalia, aber hoffentlich gibt es trotz der Verspätung noch etwas zu essen?« – »Wir haben uns natürlich nicht allein zu Tisch gesetzt, Marcolina und ich, so hungrig wir schon waren.« – »Und werden Sie sich nun«, fragte Casanova, »auch noch so lange gedulden, bis ich meine Kleider und mich selbst ein wenig vom Staub der Landstraße gereinigt habe?« – »Gleich will ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen«, sagte Olivo, »und hoffe, Chevalier, Sie werden zufrieden sein, beinahe so zufrieden…« er zwinkerte und fügte leise hinzu: »wie in Ihrem Gasthof in Mantua, wenn es auch an mancherlei fehlen dürfte.« Er ging voraus, die Stiege zur Galerie hinauf, die sich rings um die Halle im Viereck zog, und von deren äußerstem Winkel eine schmale Holztreppe sich nach oben wand. In der Höhe angelangt, öffnete Olivo die Türe zum Turmgemach und, an der Schwelle stehenbleibend, wies er es Casanova mit vielen Komplimenten als bescheidenes Fremdenzimmer an. Eine Magd brachte den Mantelsack nach, entfernte sich mit Olivo, und Casanova stand allein in einem mäßigen, mit allem Notwendigen ausgestatteten, doch ziemlich kahlen Raum, durch dessen vier schmale hohe Bogenfenster sich ein weiter Blick nach allen Seiten auf die sonnbeglänzte Ebene mit grünen Weingeländen, bunten Fluren, gelben Feldern, weißen Straßen, hellen Häusern und dunklen Gärtchen darbot. Casanova kümmerte sich nicht weiter um die Aussicht und machte sich rasch fertig, nicht so sehr aus Hunger, als aus einer quälenden Neugier, Marcolina so bald als möglich von Angesicht zu Angesicht zu sehen; er wechselte nicht einmal das Gewand, weil er erst am Abend glänzender aufzutreten gedachte.
Als er das im Erdgeschoß gelegene holzgetäfelte Speisezimmer betrat, sah er um den wohlbestellten Tisch außer dem Ehepaar und den drei Töchtern ein in mattschimmerndes, einfach herunterfließendes Grau gekleidetes Mädchen von zierlicher Gestalt sitzen, das ihn mit so unbefangenem Blick betrachtete, als wäre er jemand, der zum Hause gehörte oder doch schon hundertmal hier zu Gast gewesen. Daß sich in ihrem Blick nichts von jenem Leuchten zeigte, wie es ihn früher so oft begrüßt, auch wenn er als Nichtgekannter im berückenden Glanz seiner Jugend oder in der gefährlichen Schönheit seiner Mannesjahre erschienen war, das mußte Casanova freilich als eine längst nicht mehr neue Erfahrung hinnehmen. Aber auch in der letzten Zeit noch genügte meist die Nennung seines Namens, um auf Frauenlippen den Ausdruck einer verspäteten Bewunderung oder doch wenigstens ein leises Zucken des Bedauerns hervorzurufen, das gestand, wie gern man ihm ein paar Jahre früher begegnet wäre. Doch als ihn jetzt Olivo seiner Nichte als Herrn Casanova, Chevalier von Seingalt vorstellte, lächelte sie nicht anders, als wenn man ihr irgendeinen gleichgültigen Namen genannt hätte, in dem kein Klang von Abenteuern und Geheimnissen verzitterte. Und selbst als er neben ihr Platz nahm, ihr die Hand küßte, und aus seinen Augen ein Funkenregen von Entzücken und Begier über sie niederging, verriet ihre Miene nichts von der leisen Befriedigung, die doch als bescheidene Antwort auf eine so glühende Huldigung zu erwarten gewesen wäre.
Nach wenigen höflich einleitenden Worten ließ Casanova seine Nachbarin merken, daß er von ihren gelehrten Bestrebungen in Kenntnis gesetzt sei, und fragte sie, mit welcher Wissenschaft sie sich denn besonders abgebe? Sie erwiderte, daß sie vor allem das Studium der höhern Mathematik betreibe, in das sie durch Professor Morgagni, den berühmten Lehrer an der Universität von Bologna, eingeführt worden sei. Casanova äußerte seine Verwunderung über ein solches bei anmutigen jungen Mädchen wahrlich ungewöhnliches Interesse an einem so schwierigen und dabei nüchternen Gegenstand, erhielt aber von Marcolina die Antwort, daß ihrer Ansicht nach die höhere Mathematik die phantastischeste, ja man könnte sagen, unter allen Wissenschaften die ihrer Natur nach wahrhaft göttliche vorstelle. Als Casanova sich über diese ihm ganz neue Auffassung eine nähere Erklärung erbitten wollte, wehrte Marcolina bescheiden ab und äußerte, daß es den Anwesenden, vor allem aber ihrem lieben Oheim, viel erwünschter sein dürfte, Näheres von den Erlebnissen eines vielgereisten Freundes zu erfahren, den er so lange nicht gesehn, als einem philosophischen Gespräch zuzuhören. Amalia schloß sich ihrer Anregung lebhaft an, und Casanova, immer gern bereit, Wünschen solcher Art nachzugeben, bemerkte leichthin, daß er in den letzten Jahren sich vorzüglich auf geheimen diplomatischen Sendungen befunden, die ihn, um nur die größern Städte zu nennen, zwischen Madrid, Paris, London, Amsterdam und Petersburg umhergetrieben. Er berichtete von Begegnungen und Unterhaltungen ernster und heitrer Art mit Männern und Frauen der verschiedensten Stände, auch des freundlichen Empfangs zu erwähnen vergaß er nicht, der ihm am Hof der Katharina von Rußland zuteil geworden, und sehr spaßhaft erzählte er, wie Friedrich der Große ihn beinahe zum Erzieher an einer Kadettenschule für pommersche Junker gemacht hatte; – eine Gefahr, der er sich allerdings durch rasche Flucht entzogen. Von all dem und manchem andern sprach er, als hätte es sich in einer eben erst verflossenen Zeit zugetragen und läge nicht in Wirklichkeit Jahre und Jahrzehnte zurück; mancherlei erfand er dazu, ohne sich seiner größern und kleinern Lügen selber recht bewußt zu werden, freute sich seiner eignen Laune wie der Teilnahme, mit der man ihm lauschte; und während er so erzählte und phantasierte, ward ihm fast, als wäre er in der Tat noch heute der glückverwöhnte, unverschämte, strahlende Casanova, der mit schönen Frauen durch die Welt gefahren, den weltliche und geistliche Fürsten mit hoher Gunst ausgezeichnet, der Tausende verschwendet, verspielt und verschenkt hatte – und nicht ein herabgekommener Schlucker, den ehemalige Freunde von England und Spanien her mit lächerlichen Summen unterstützten, – die indes auch manchmal ausblieben, so daß er auf die paar armseligen Geldstücke angewiesen war, die er dem Baron Perotti oder dessen Gästen abgewann; ja, er vergaß sogar, daß es ihm wie ein höchstes Ziel erschien, in der Vaterstadt, die ihn erst eingekerkert und nach seiner Flucht geächtet und verbannt hatte, als der geringste ihrer Bürger, als ein Schreiber, als ein Bettler, als ein Nichts – sein einst so prangendes Dasein zu beschließen.
Auch Marcolina hörte ihm aufmerksam zu, aber mit keinem andern Ausdruck, als wenn man ihr etwa aus einem Buch leidlich unterhaltsam Geschichten vorläse. Daß ihr ein Mensch, ein Mann, daß ihr Casanova selbst, der all dies erlebt hatte und noch vieles andre, was er nicht erzählte, daß ihr der Geliebte von tausend Frauen gegenübersaß, – und daß sie das wußte, davon verrieten ihre Mienen nicht das geringste. Anders schimmerte es in Amaliens Augen. Für sie war Casanova derselbe geblieben, der er gewesen; ihr klang seine Stimme verführerisch wie vor sechzehn Jahren, und er selbst fühlte, daß es ihn nur ein Wort und kaum so viel kosten würde, das Abenteuer von damals, sobald es ihm beliebte, von neuem aufzunehmen. Doch was war ihm Amalia in dieser Stunde, da ihn nach Marcolina verlangte wie nach keiner vor ihr? Durch das mattglänzend sie umfließende Gewand glaubte er ihren nackten Leib zu sehen; die knospenden Brüste blühten ihm entgegen, und als sie sich einmal neigte, um ihr zu Boden geglittenes Taschentuch aufzuheben, legte Casanovas entflammte Phantasie ihrer Bewegung einen so lüsternen Sinn unter, daß er sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Daß er eine Sekunde lang unwillkürlich im Erzählen stockte, entging Marcolina so wenig, wie daß sein Blick seltsam zu flirren begann, und er las in dem ihren ein plötzliches Befremden, Verwahrung, ja eine Spur von Ekel. Rasch faßte er sich wieder und schickte sich eben an, seine Erzählung mit neuer Lebhaftigkeit fortzusetzen, als ein wohlbeleibter Geistlicher eintrat, der vom Hausherrn als der Abbate Rossi begrüßt und von Casanova sofort als derselbe erkannt wurde, mit dem er vor siebenundzwanzig Jahren auf einem Marktschiff zusammengetroffen war, das von Venedig nach Chioggia fuhr. »Sie hatten damals ein Auge verbunden«, sagte Casanova, der selten eine Gelegenheit vorübergehen ließ, mit seinem vorzüglichen Gedächtnis zu prunken, »und ein Bauernweib mit gelbem Kopftuch empfahl Ihnen eine heilkräftige Salbe, die ein junger, sehr heisrer Apotheker zufällig mit sich führte.« Der Abbate nickte und lächelte geschmeichelt. Dann aber, mit einem pfiffigen Gesicht, trat er ganz nahe an Casanova heran, als hätte er ihm ein Geheimnis mitzuteilen. Doch mit ganz lauter Stimme sagte er: »Und Sie, Herr Casanova, befanden sich in Begleitung einer Hochzeitsgesellschaft… ich weiß nicht, ob als zufälliger Gast oder gar als Brautführer, jedenfalls sah die Braut Sie mit viel zärtlicheren Augen an als den Bräutigam… Ein Wind erhob sich, beinahe ein Sturm, und Sie begannen ein höchst verwegenes Gedicht vorzulesen.« – »Das tat der Chevalier gewiß nur«, sagte Marcolina, »um den Sturm zu beschwichtigen.« – »Solche Zaubermacht«, erwiderte Casanova, »traute ich mir niemals zu; allerdings will ich nicht leugnen, daß sich niemand mehr um den Sturm kümmerte, als ich zu lesen begonnen.«
Die drei Mädchen hatten sich an den Abbate herangemacht. Sie wußten wohl warum. Denn seinen ungeheuren Taschen entnahm er köstliches Zuckerwerk in großen Mengen und schob es mit seinen dicken Fingern den Kindern zwischen die Lippen. Indes berichtete Olivo dem Abbate in aller Ausführlichkeit, wie er Casanova wiedergefunden. Wie verloren hielt Amalia auf die herrische braune Stirn des teuren Gastes ihren leuchtenden Blick geheftet. Die Kinder liefen in den Garten; Marcolina hatte sich erhoben und sah ihnen durchs offne Fenster nach. Der Abbate hatte Grüße vom Marchese Celsi zu bestellen, der, wenn es seine Gesundheit zuließe, heute abend samt Gemahlin bei seinem werten Freund Olivo erscheinen wollte. »Das trifft sich gut«, sagte dieser, »da haben wir gleich dem Chevalier zu Ehren eine hübsche kleine Spielgesellschaft; die Brüder Ricardi erwarte ich gleichfalls, und auch Lorenzi kommt; die Kinder sind ihm auf seinem Spazierritt begegnet.« – »Er ist noch immer da?« fragte der Abbate. »Schon vor einer Woche hieß es, er solle zu seinem Regiment abgehen.« – »Die Marchesa«, meinte Olivo lachend, »wird ihm beim Obersten einen Urlaub erwirkt haben.« – »Es wundert mich«, warf Casanova ein, »daß es für Mantueser Offiziere jetzt Urlaub gibt.« Und er erfand weiter: »Zwei meiner Bekannten, einer aus Mantua, der andre aus Cremona, sind nachts mit ihren Regimentern in der Richtung gegen Mailand abmarschiert.« – »Gibt›s Krieg?« fragte Marcolina vom Fenster her; sie hatte sich umgewandt, die Züge ihres umschatteten Gesichts blieben undeutbar, – doch ein leises Beben ihrer Stimme hatte Casanova als einziger wohl gemerkt. »Es wird vielleicht zu nichts kommen«, sagte er leichthin. »Aber da die Spanier eine drohende Haltung einnehmen, heißt es bereit sein.« – »Weiß man denn überhaupt«, fragte Olivo wichtig und stirnrunzelnd, »auf welche Seite wir uns schlagen werden, auf die spanische oder auf die französische?« – »Das dürfte dem Leutnant Lorenzi gleich sein«, meinte der Abbate. »Wenn er nur endlich dazu kommt, sein Heldentum zu erproben.« – »Das hat er schon getan«, sagte Amalia. »Bei Pavia vor drei Jahren hat er mitgefochten.« Marcolina aber schwieg.
Casanova wußte genug. Er trat an Marcolinens Seite und umfaßte den Garten mit einem großen Blick. Er sah nichts als die ausgedehnte wilde Wiese, auf der die Kinder spielten, und die von einer Reihe hoher dichter Bäume gegen die Mauer zu abgeschlossen war. »Was für ein prächtiger Besitz«, wandte er sich an Olivo. »Ich wäre neugierig, ihn näher kennenzulernen.« – »Und ich, Chevalier«, erwiderte Olivo, »wünsche mir kein größeres Vergnügen, als Sie über meine Weinberge und durch meine Felder zu führen. Ja, wenn ich die Wahrheit sagen soll, fragen Sie doch Amalia, in den Jahren, seit das kleine Gütchen mir gehört, hab› ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als Sie endlich auf meinem eignen Grund und Boden als Gast zu begrüßen. Zehnmal war ich daran, Ihnen zu schreiben, Sie einzuladen. Aber war man denn je sicher, daß eine Nachricht Sie erreichen würde? Erzählte einem irgendwer, man hätte Sie kürzlich in Lissabon gesehn – so konnte man sicher sein, daß Sie indes nach Warschau oder nach Wien abgereist waren. Und nun, da ich Sie wie durch ein Wunder eben in der Stunde wiederfinde, da Sie Mantua verlassen wollen, und es mir – es war nicht leicht, Amalia – gelingt, Sie hierherzulocken, da geizen Sie so mit Ihrer Zeit, daß Sie uns – möchten Sie es glauben, Herr Abbate – daß er uns nicht mehr als zwei Tage schenken will!« – »Der Chevalier wird sich vielleicht zu einer Verlängerung seines Aufenthalts überreden lassen«, sagte der Abbate, der eben mit viel Behagen eine Pfirsichschnitte im Mund zergehen ließ, und warf auf Amalia einen raschen Blick, aus dem Casanova zu entnehmen glaubte, daß sie den Abbate in tieferes Vertrauen gezogen hatte als ihren Gatten. – »Das wird mir leider nicht möglich sein«, erwiderte Casanova förmlich; »denn ich darf Freunden, die solchen Anteil an meinem Schicksal nehmen, nicht verhehlen, daß meine venezianischen Mitbürger im Begriffe sind, mir für das Unrecht, das sie mir vor Jahren zugefügt, eine etwas verspätete, aber um so ehrenvollere Genugtuung zu geben, und ich ihrem Drängen mich nicht länger werde versagen können, wenn ich nicht undankbar oder gar nachträgerisch erscheinen will.« Mit einer leichten Handbewegung wehrte er eine neugierig-ehrfurchtsvolle Frage ab, die er auf Olivos Lippen sich runden sah, und bemerkte rasch: »Nun, Olivo, ich bin bereit. Zeigen Sie mir Ihr kleines Königreich.«
»Wär› es nicht geratener«, warf Amalia ein, »dazu die kühlere Tageszeit abzuwarten? Der Chevalier wird jetzt gewiß lieber ein wenig ruhen oder sich im Schatten ergehen wollen?« Und aus ihren Augen schimmerte zu Casanova ein schüchternes Flehen hin, als müßte während eines solchen Lustwandelns draußen im Garten ihr Schicksal sich zum zweitenmal entscheiden. – Niemand hatte gegen Amaliens Vorschlag etwas einzuwenden, und man begab sich ins Freie. Marcolina, den andern voraus, lief im Sonnenschein über die Wiese zu den Kindern, die dort mit Federbällen spielten, und nahm sofort am Spiele teil. Sie war kaum größer als das älteste der drei Mädchen, und, wie ihr nun das freigelockte Haar um die Schultern flatterte, sah sie selber einem Kinde gleich. Olivo und der Abbate ließen sich in der Allee, in der Nähe des Hauses, auf einer steinernen Bank nieder. Amalia wandelte an Casanovas Seite weiter. Als sie von den andern nicht mehr gehört werden konnte, begann sie im Tonfall von einst, als wäre ihre Stimme für Casanova niemals in einem andern erklungen:
»So bist du wieder da, Casanova! Wie hab› ich diesen Tag ersehnt. Daß er einmal kommen würde, hab› ich gewußt.« – »Es ist ein Zufall, daß ich da bin«, sagte Casanova kalt. Amalia lächelte nur. »Nenn› es, wie du willst. Du bist da! Ich habe in diesen sechzehn Jahren von nichts anderm geträumt als von diesem Tag!« – »Es ist anzunehmen«, entgegnete Casanova, »daß du im Laufe dieser Zeit von mancherlei anderm geträumt und – nicht nur geträumt hast.« Amalia schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß es nicht so ist, Casanova. Und auch du hast meiner nicht vergessen, sonst hättest du, der du so eilig bist, nach Venedig zu gelangen, Olivos Einladung nicht angenommen!« – »Was denkst du eigentlich, Amalia? Ich sei hergekommen, um deinen guten Mann zum Hahnrei zu machen?« – »Warum sprichst du so, Casanova? Wenn ich dir wieder gehöre, so ist es weder Betrug noch Sünde!« Casanova lachte laut auf. »Keine Sünde? Warum keine Sünde? Weil ich ein alter Mann bin?« – »Du bist nicht alt. Für mich kannst du es niemals werden. In deinen Armen hab› ich meine erste Seligkeit genossen – und so ist es mir gewiß bestimmt, daß mir mit dir auch meine letzte zuteil wird!« – »Deine letzte?« wiederholte Casanova höhnisch, obwohl er nicht ganz ungerührt war, – »dagegen dürfte mein Freund Olivo wohl mancherlei einzuwenden haben.« – »Das«, erwiderte Amalia errötend, »das ist Pflicht – meinethalben sogar Vergnügen; aber Seligkeit ist es doch nicht… war es niemals.«
Sie gingen die Allee nicht zu Ende, als scheuten beide die Nähe des Wiesenplatzes, wo Marcolina und die Kinder spielten, – wie auf Verabredung kehrten sie um und waren bald wieder, schweigend, beim Wohnhaus angelangt. An der Schmalseite stand ein Fenster des Erdgeschosses offen. Casanova sah in der dämmernden Tiefe des Gemachs einen halbgerafften Vorhang, hinter dem das Fußende des Bettes sichtbar wurde. Über einem Stuhl daneben hing ein lichtes, schleierartiges Gewand. »Marcolinens Zimmer?« fragte Casanova. – Amalia nickte. Und zu Casanova anscheinend heiter und wie ohne jeden Verdacht: »Sie gefällt dir?« – »Da sie schön ist.« – »Schön und tugendhaft.« – Casanova zuckte die Achseln, als hätte er danach nicht gefragt. Dann sagte er: »Wenn du mich heute zum erstenmal sähest – ob ich dir wohl auch gefiele, Amalia?« – »Ich weiß nicht, ob du heute anders aussiehst als damals. Ich sehe dich – wie du damals warst. Wie ich dich seither immer, auch in meinen Träumen, sah.« – »Sieh mich doch an, Amalia! Die Runzeln meiner Stirn… Die Falten meines Halses! Und die tiefe Rinne da von den Augen den Schläfen zu! Und hier – ja, hier in der Ecke fehlt mir ein Zahn«, – er riß den Mund grinsend auf. »Und diese Hände, Amalia! Sieh sie doch an! Finger wie Krallen… kleine gelbe Flecken auf den Nägeln… Und die Adern da – blau und geschwollen – Greisenhände, Amalia!« – Sie nahm seine beiden Hände, so wie er sie ihr wies, und im Schatten der Allee küßte sie eine nach der andern mit Andacht. »Und heute nacht will ich deine Lippen küssen«, sagte sie in einer demütig zärtlichen Art, die ihn erbitterte.
Unweit von ihnen, am Ende der Wiese, lag Marcolina im Gras, die Hände unter den Kopf gestützt, den Blick in die Höhe gewandt, und die Bälle der Kinder flogen über sie hin. Plötzlich streckte sie den einen Arm aus und haschte nach einem der Bälle. Sie fing ihn auf, lachte hell, die Kinder fielen über sie her, sie konnte sich ihrer nicht erwehren, ihre Locken flogen. Casanova bebte. »Du wirst weder meine Lippen noch meine Hände küssen«, sagte er zu Amalia, »und du sollst mich vergeblich erwartet und vergeblich von mir geträumt haben – es sei denn, daß ich vorher Marcolina besessen habe.« – »Bist du wahnsinnig, Casanova?« rief Amalia mit weher Stimme. – »So haben wir einander nichts vorzuwerfen«, sagte Casanova. »Du bist wahnsinnig, da du in mir altem Manne den Geliebten deiner Jugend wiederzusehen glaubst, ich, weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, Marcolina zu besitzen. Aber vielleicht ist uns beiden beschieden, wieder zu Verstand zu kommen. Marcolina soll mich wieder jung machen – für dich. Also – führe meine Sache bei ihr, Amalia!« – »Du bist nicht bei dir, Casanova. Es ist unmöglich. Sie will von keinem Mann etwas wissen.« – Casanova lachte auf. »Und der Leutnant Lorenzi?« – »Was soll›s mit Lorenzi sein?« – »Er ist ihr Liebhaber, ich weiß es.« – »Wie du dich irrst, Casanova. Er hat um ihre Hand angehalten, und sie hat sie ausgeschlagen. Und er ist jung – er ist schön – ja, fast glaub› ich, schöner als du je gewesen bist, Casanova!« – »Er hätte um sie geworben?« – »Frage doch Olivo, wenn du mir nicht glaubst.« – »Nun, mir gilt›s gleich. Was geht›s mich an, ob sie eine Jungfrau ist oder eine Dirne, Braut oder Witwe – ich will sie haben, ich will sie!« – »Ich kann sie dir nicht geben, mein Freund.« Und er fühlte aus dem Ton ihrer Stimme, daß sie ihn beklagte. »Nun siehst du«, sagte er, »was für ein schmählicher Kerl ich geworden bin, Amalia! Noch vor zehn – noch vor fünf Jahren hätt› ich keinen Beistand und keine Fürsprache gebraucht, und wäre Marcolina die Göttin der Tugend selbst gewesen. Und nun will ich dich zur Kupplerin machen. Oder wenn ich reich wäre… Ja, mit zehntausend Dukaten… Aber ich habe nicht zehn. Ein Bettler bin ich, Amalia.« – »Auch für hunderttausend bekämst du Marcolina nicht. Was kann ihr am Reichtum liegen? Sie liebt die Bücher, den Himmel, die Wiesen, die Schmetterlinge und die Spiele mit Kindern… Und mit ihrem kleinen Erbteil hat sie mehr als sie bedarf.« – »Oh, wär› ich ein Fürst!« rief Casanova, ein wenig deklamierend, wie es zuweilen seine Art war, gerade wenn ihn eine echte Leidenschaft durchwühlte. »Hätt› ich die Macht, Menschen ins Gefängnis werfen, hinrichten zu lassen… Aber ich bin nichts. Ein Bettler – und ein Lügner dazu. Ich bettle bei den hohen Herrn in Venedig um ein Amt, um ein Stück Brot, um Heimat! Was ist aus mir geworden? Ekelt dich nicht vor mir, Amalia?« – »Ich liebe dich, Casanova!« – »So verschaffe sie mir, Amalia! Es steht bei dir, ich weiß es. Sag› ihr, was du willst. Sag› ihr, daß ich euch gedroht habe. Daß du mir zutraust, ich könnte euch das Dach über dem Hause anzünden! Sag› ihr, ich wär› ein Narr, ein gefährlicher Narr, aus dem Irrenhaus entsprungen, aber die Umarmung einer Jungfrau könnte mich wieder gesund machen. Ja, das sag› ihr.« – »Sie glaubt nicht an Wunder.« – »Wie? Nicht an Wunder? So glaubt sie auch nicht an Gott. Um so besser! Ich bin gut angeschrieben beim Erzbischof von Mailand! Sag› ihr das! Ich kann sie verderben! Euch alle kann ich verderben. Das ist wahr, Amalia! Was sind es für Bücher, die sie liest? Gewiß sind auch solche darunter, die die Kirche verboten hat. Laß sie mich sehen. Ich will eine Liste zusammenstellen. Ein Wort von mir…« – »Schweige, Casanova! Dort kommt sie. Verrate dich nicht! Nimm deine Augen in acht! Nie, Casanova, nie, höre wohl, was ich sage, nie hab› ich ein reineres Wesen gekannt. Ahnte sie, was ich eben habe hören müssen, sie erschiene sich wie beschmutzt; und du würdest sie, solang du hier bist, mit keinem Blick mehr zu sehen bekommen. Sprich mit ihr. Ja, sprich mit ihr – du wirst sehen, du wirst mich um Verzeihung bitten.«
Marcolina, mit den Kindern, kam heran; diese liefen an ihr vorbei, ins Haus, sie selber aber, wie um dem Gast eine Höflichkeit zu erweisen, blieb vor ihm stehn, während Amalia, wie mit Absicht, sich entfernte. Und nun war es Casanova in der Tat, als wehte es ihm von diesen blassen, halb geöffneten Lippen, dieser glatten, von dunkelblondem, nun aufgestecktem Haar umrahmten Stirn wie ein Hauch von Herbheit und Keuschheit entgegen; – was er selten einer Frau, was er auch ihr gegenüber früher im geschlossnen Raum nicht verspürt – eine Art von Andacht, von Hingegebenheit ohne jedes Verlangen, floß durch seine Seele. Und mit Zurückhaltung, ja in einem Ton von Ehrerbietung, wie man sie Höhergebornen gegenüber an den Tag zu legen liebt, und der ihr schmeicheln mußte, stellte er die Frage an sie, ob sie die kommenden Abendstunden wieder dem Studium zu widmen beabsichtige. Sie erwiderte, daß sie auf dem Land überhaupt nicht regelmäßig zu arbeiten pflegte, doch könne sie›s nicht hindern, daß gewisse mathematische Probleme, mit denen sie sich eben beschäftigte, ihr auch in den Ruhestunden nachgingen, wie es ihr eben jetzt begegnet sei, während sie auf der Wiese gelegen war und zum Himmel aufgesehn hatte. Doch als Casanova, durch ihre Freundlichkeit ermutigt, sich scherzend erkundigte, was denn dies für ein hohes und dabei so zudringliches Problem gewesen sei, entgegnete sie etwas spöttisch, es habe keineswegs das allergeringste mit jener berühmten Kabbala zu tun, in der der Chevalier von Seingalt, wie man sich erzähle, Bedeutendes leiste, und so würde er kaum viel damit anzufangen wissen. Es ärgerte ihn, daß sie von der Kabbala mit so unverhohlener Ablehnung sprach, und obwohl ihm selbst, in den freilich seltnen Stunden innerer Einkehr, bewußt war, daß jener eigentümlichen Mystik der Zahlen, die man Kabbala nennt, keinerlei Sinn und keine Berechtigung zukäme, daß sie in der Natur gewissermaßen gar nicht vorhanden, nur von Gaunern und Spaßmachern – welche Rolle er abwechselnd, aber immer mit Überlegenheit gespielt – zur Nasführung von Leichtgläubigen und Toren benutzt würde, so versuchte er jetzt doch gegen seine eigne bessre Überzeugung Marcolina gegenüber die Kabbala als vollgültige und ernsthafte Wissenschaft zu verteidigen. Er sprach von der göttlichen Natur der Siebenzahl, die sich so schon in der Heiligen Schrift angedeutet fände, von der tiefsinnig-prophetischen Bedeutung der Zahlenpyramiden, die er selbst nach einem neuen System aufzubauen gelehrt hatte, und von dem häufigen Eintreffen seiner auf diesem System beruhenden Voraussagen. Hatte er nicht erst vor wenigen Jahren in Amsterdam den Bankier Hope durch den Aufbau einer solchen Zahlenpyramide veranlaßt, die Versicherung eines schon verloren geglaubten Handelsschiffes zu übernehmen und ihn dadurch zweimalhunderttausend Goldgulden verdienen lassen? Noch immer war er so geschickt im Vortrag seiner schwindelhaft geistreichen Theorien, daß er auch diesmal, wie es ihm oft geschah, an all das Unsinnige zu glauben begann, das er vortrug, und sogar mit der Behauptung zu schließen sich getraute, die Kabbala stelle nicht so sehr einen Zweig als vielmehr die metaphysische Vollendung der Mathematik vor. Marcolina, die ihm bisher sehr aufmerksam und anscheinend ganz ernsthaft zugehört hatte, schaute nun plötzlich mit einem halb bedauernden, halb spitzbübischen Blick zu ihm auf und sagte: »Es liegt Ihnen daran, mein werter Herr Casanova« (sie schien ihn jetzt mit Absicht nicht »Chevalier« zu nennen), »mir eine ausgesuchte Probe von Ihrem weltbekannten Unterhaltungstalent zu geben, wofür ich Ihnen aufrichtig dankbar bin. Aber Sie wissen natürlich so gut wie ich, daß die Kabbala nicht nur nichts mit der Mathematik zu tun hat, sondern geradezu eine Versündigung an ihrem eigentlichen Wesen bedeutet; und sich zu ihr nicht anders verhält als das verworrene oder lügenhafte Geschwätz der Sophisten zu den klaren und hohen Lehren des Plato und des Aristoteles.« – »Immerhin«, erwiderte Casanova rasch, »werden Sie mir zugeben müssen, schöne und gelehrte Marcolina, daß auch die Sophisten keineswegs durchaus als so verächtliche und törichte Gesellen zu gelten haben, wie man nach Ihrem allzu strengen Urteil annehmen müßte. So wird man – um nur ein Beispiel aus der Gegenwart anzuführen – Herrn Voltaire seiner ganzen Denk- und Schreibart nach gewiß als das Muster eines Sophisten bezeichnen dürfen, und trotzdem wird es niemandem einfallen, auch mir nicht, der ich mich als seinen entschiedenen Gegner bekenne, ja, wie ich nicht leugnen will, eben damit beschäftigt bin, eine Schrift gegen ihn zu verfassen, auch mir fällt es nicht ein, seiner außerordentlichen Begabung die gebührende Anerkennung zu versagen. Und ich bemerke gleich, daß ich mich nicht etwa durch die übertriebene Zuvorkommenheit habe bestechen lassen, die mir Herr Voltaire bei Gelegenheit meines Besuchs in Ferney vor zehn Jahren zu erweisen die Güte hatte.«– Marcolina lächelte. »Das ist ja sehr hübsch von Ihnen, Chevalier, daß Sie den größten Geist des Jahrhunderts so milde zu beurteilen die Gewogenheit haben.« – »Ein großer Geist – der größte gar?« rief Casanova aus. »Ihn so zu nennen, scheint mir schon deshalb unstatthaft, weil er bei all seinem Genie ein gottloser Mensch, ja geradezu ein Gottesleugner ist. Und ein Gottesleugner kann niemals ein großer Geist sein.« – »Meiner Ansicht nach, Herr Chevalier, bedeutet das durchaus keinen Widerspruch. Aber Sie werden vor allem zu beweisen haben, daß man Voltaire einen Gottesleugner nennen darf.« —
Nun war Casanova in seinem Element. Im ersten Kapitel seiner Streitschrift hatte er eine ganze Menge von Stellen aus Voltaires Werken, vor allem aus der berüchtigten ›Pucelle‹ zusammengetragen, die ihm besonders geeignet schienen, dessen Ungläubigkeit zu beweisen; und die er nun dank seinem vorzüglichen Gedächtnis, zusammen mit seinen eigenen Gegenargumenten, wörtlich zu zitieren wußte. Aber in Marcolina hatte er eine Gegnerin gefunden, die ihm sowohl an Kenntnissen wie an Geistesschärfe wenig nachgab und ihm überdies, wenn auch nicht an Redegewandtheit, so doch an eigentlicher Kunst und insbesondre an Klarheit des Ausdrucks weit überlegen war. Die Stellen, die Casanova als Beweise für die Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit Voltaires auszulegen versucht hatte, deutete Marcolina gewandt und schlagfertig als ebenso viele Zeugnisse für des Franzosen wissenschaftliches und schriftstellerisches Genie, sowie für sein unermüdlich heißes Streben nach Wahrheit, und sie sprach es ungescheut aus, daß Zweifel, Spott, ja daß der Unglaube selbst, wenn er mit so reichem Wissen, solch unbedingter Ehrlichkeit und solch hohem Mut verbunden sei, Gott wohlgefälliger sein müsse als die Demut des Frommen, hinter der sich meist nichts andres verberge, als eine mangelhafte Fähigkeit, folgerichtig zu denken, ja oftmals – wofür es an Beispielen nicht fehle – Feigheit und Heuchelei.
Casanova hörte ihr mit wachsendem Staunen zu. Da er sich außerstande fühlte, Marcolina zu bekehren, um so weniger, als er immer mehr erkannte, wie sehr eine gewisse schwankende Seelenstimmung seiner letzten Jahre, die er als Gläubigkeit aufzufassen sich gewöhnt hatte, durch Marcolinens Einwürfe sich völlig aufzulösen drohte, so rettete er sich in die allgemein gehaltene Betrachtung, daß Ansichten, wie Marcolina sie eben ausgesprochen, nicht nur die Ordnung im Bereich der Kirche, sondern daß sie auch die Grundlagen des Staates in hohem Grade zu gefährden geeignet seien, und sprang von hier aus gewandt auf das Gebiet der Politik über, wo er mit seiner Erfahrung und Weltläufigkeit eher darauf rechnen konnte, Marcolinen gegenüber eine gewisse Überlegenheit zu zeigen. Aber wenn es ihr hier auch an Personenkenntnis und Einblick in das höfisch-diplomatische Getriebe gebrach und sie darauf verzichten mußte, Casanova im einzelnen zu widersprechen, auch wo sie der Verläßlichkeit seiner Darstellung zu mißtrauen Neigung verspürte; – aus ihren Bemerkungen ging unwidersprechlich für ihn hervor, daß sie weder vor den Fürsten dieser Erde noch vor den Staatsgebilden als solchen sonderliche Achtung hegte und der Überzeugung war, daß die Welt im Kleinen wie im Großen von Eigennutz und Herrschsucht nicht so sehr regiert, als vielmehr in Verwirrung gebracht werde. Einer solchen Freiheit des Denkens war Casanova bisher nur selten bei Frauen, bei einem jungen Mädchen gar, das gewiß noch keine zwanzig Jahre zählte, war er ihr noch nie begegnet; und nicht ohne Wehmut erinnerte er sich, daß sein eigener Geist in vergangenen Tagen, die schöner waren als die gegenwärtigen, mit einer bewußten und etwas selbstzufriedenen Kühnheit die gleichen Wege gegangen war, die er nun Marcolina beschreiten sah, ohne daß diese sich ihrer Kühnheit überhaupt bewußt zu werden schien. Und ganz hingenommen von der Eigenart ihrer Denk- und Ausdrucksweise vergaß er beinahe, daß er an der Seite eines jungen, schönen und höchst begehrenswerten Wesens einherwandelte, was um so verwunderlicher war, als er sich mit ihr ganz allein in der nun völlig durchschatteten Allee, ziemlich weit vom Wohnhaus, befand. Plötzlich aber, sich in einem eben begonnenen Satz unterbrechend, rief Marcolina lebhaft, ja wie freudig aus: »Da kommt mein Oheim!«… Und Casanova, als hätte er Versäumtes nachzuholen, flüsterte ihr zu: »Wie schade. Gar zu gerne hätte ich mich noch stundenlang mit Ihnen weiter unterhalten, Marcolina!« – Er fühlte selbst, wie während dieser Worte in seinen Augen die Begier von neuem aufzuleuchten begann, worauf Marcolina, die in dem abgelaufenen Gespräch in aller Spöttelei sich fast zutraulich gegeben, sofort wieder eine kühlere Haltung annahm, und ihr Blick die gleiche Verwahrung, ja den gleichen Widerwillen ausdrückte, der Casanova heute schon einmal so tief verletzt hatte. Bin ich wirklich so verabscheuungswürdig? fragte er sich angstvoll. Nein, gab er sich selbst zur Antwort. Nicht das ist›s. Aber Marcolina – ist kein Weib. Eine Gelehrte, eine Philosophin, ein Weltwunder meinethalben – aber kein Weib. – Doch er wußte zugleich, daß er sich so nur selbst zu belügen, zu trösten, zu retten versuchte, und daß diese Versuche vergeblich waren. Olivo stand vor ihnen. »Nun«, meinte er zu Marcolina, »hab› ich das nicht gut gemacht, daß ich dir endlich jemanden ins Haus gebracht habe, mit dem sich›s so klug reden läßt, wie du›s von deinen Professoren in Bologna her gewohnt sein magst?« – »Und nicht einmal unter diesen, liebster Oheim«, erwiderte Marcolina, »gibt es einen, der es sich getrauen dürfte, Voltaire selbst zum Zweikampf herauszufordern!« – »Ei, Voltaire? Der Chevalier fordert ihn heraus?« rief Olivo, ohne zu verstehen. – »Ihre witzige Nichte, Olivo, spricht von der Streitschrift, die mich in der letzten Zeit beschäftigt. Liebhaberei für müßige Stunden. Früher hatte ich Gescheiteres zu tun.« Marcolina, ohne auf diese Bemerkung zu achten, sagte: »Sie werden eine angenehme kühle Luft für Ihren Spaziergang haben. Auf Wiedersehen.« Sie nickte kurz und eilte über die Wiese dem Hause zu. Casanova hielt sich davor zurück, ihr nachzublicken, und fragte: »Wird uns Frau Amalia begleiten?« – »Nein, mein werter Chevalier«, erwiderte Olivo, »sie hat allerlei im Hause zu besorgen und anzuordnen – und jetzt ist auch die Stunde, in der sie die Mädchen zu unterrichten pflegt.« – »Was für eine tüchtige, brave Hausfrau und Mutter! Sie sind zu beneiden, Olivo!« – »Ja, das sag› ich mir selbst alle Tage«, entgegnete Olivo, und die Augen wurden ihm feucht.
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