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Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
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Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке

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Sascha brachte sie ins Krankenhaus, in das der Vater eilig eingeliefert worden war.

Der Vater lag ruhig, mit dunklem Gesicht, in sich hineinhorchend[62 - in sich hineinhorchend – прислушиваясь к себе]. Im Innern schlug das kranke Herz. Die Großmutter saß daneben und blickte ins Gesicht des Sohnes. Der Vater wurde operiert, man schnitt ihm die Brust auf – während die Ärzte zauberten, befand sich sein Herz eine halbe Stunde außerhalb des Körpers. Er überlebte. Er durfte nichts trinken. Als aber bald danach Brüderchen Kolja starb, begann Wasja doch zu trinken. Er betrank sich einmal, dann noch einmal, dann kam er ins Krankenhaus und starb schnell, binnen zweier Tage.

Sascha wusste, dass die Großmutter das Bett machte und zum wievielten Male darüber nachdachte, warum nur, warum sie nicht von ihm geträumt hatte, als Wasja zum zweiten Mal schlecht wurde, warum rief er sie nicht, und nie konnte sie eine Antwort darauf finden.

Er erschien nicht im Traum und rief nicht nach ihr. Im Winter wurde bei den Nachbarn angerufen – das einzige Telefon im Dorf – und es hieß, Wasja sei gestorben, richten Sie das aus, wir bringen ihn fürs Begräbnis. Und drei Wochen nach dem Begräbnis kam Saschas Brief, den Sascha eineinhalb Wochen vor dem Tod des Vaters geschrieben hatte. Aufgrund der schlechten Arbeit des Postdienstes überschritt der Brief alle Zustellfristen, fast war es, als wäre er zu Fuß gegangen. In diesem Brief hatte Sascha geschrieben, dass der Vater sich gut fühle.

»Wie konnte das alles so plötzlich passieren?«, fragte die Großmutter Sascha, der noch einmal aufgestanden war, um zu rauchen und sich danach hinzulegen. »Du hast im Brief geschrieben, dass es dem Vater gut geht. Ich lese das, und er ist schon im Grab. Und nichts ist ihm besser geworden. Er hat sich ein Leben lang abgequält.«

Die Großmutter blickte Sascha ruhig an, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Die Leute sagen manchmal, dass die Enkel mehr geliebt werden als die Kinder. Das ist nicht wahr …«, dachte Sascha.

Die Großmutter liebte ihre Söhne. Sascha war für die Großmutter eine undeutliche Erinnerung an jene Zeit, als die Familie vollständig und die Söhne noch am Leben waren. Sie hatte aber keine Kraft, in Sascha die Züge seines Vaters zu sehen, in ihm ihr eigenes – dem Sohn und dem Enkel weitergegebenes – Blut zu spüren. Sascha war ein eigenständiger Mensch, beinahe schon fremd …

Ganz selten aber schaute die Großmutter Sascha in der Hoffnung an, der verstorbene Sohn möge im Antlitz des Enkels erscheinen, ein Zeichen geben, riss sich davon aber sogleich los: »Nein, er ist es, nicht er …«

Sascha verstand das und akzeptierte gelassen die stille, kaum merkliche, hauchdünne Entfremdung der Großmutter. Bewusst war ihm das nicht aufgrund einer klaren Einsicht und obwohl er es eher vor sich selbst verheimlichte, spürte er, dass es ihm so – in einer gewissen Distanz zur Großmutter – leichter fiel, sich hier aufzuhalten. Wenn jeder in seinem Herzen sein Unglück trägt, sollten sich diese Herzen möglicherweise besser nicht berühren. Vermutlich ist es besser, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten, wenn es ohnehin schon unmöglich ist, das Ganze zu ertragen.

Der Großvater wollte jedenfalls nicht mehr länger leiden, es zog ihn zu den Kindern[63 - es zog ihn zu den Kindern – его тянуло к детям].

Er ertrug den Tod der beiden Söhne stoisch und noch ein Jahr vor dem Tod des dritten war er bei Kräften gewesen. Kräftiger als Sascha – Sascha konnte sich erinnern, wie er sich über Opas Gesundheit gewundert hatte, als sie einmal auf dem Hof arbeiteten und Opa mit einem riesigen Hammer herumwerkte, den Sascha kaum hochheben konnte.

Aber dann verließ ihn auch der letzte Sohn, und Opa überlegte sich, ob er weiterleben solle.

In Opas Kopf gab es keine Abbilder der Vergangenheit. Es gab keine Erinnerungen an jene Zeit, als er, ein junger Stoßarbeiter, auf dem Mähdrescher arbeitete, und daran, als er, ein junger Offizier, mit der Waffe Befehle erteilte. Weder an die fast dreijährige Gefangenschaft erinnerte er sich, noch an das Leben nach dem Krieg. Es gab nicht die Klarheit einer guten Erinnerung. Es gab Nachklänge, Unausgesprochenes, Fetzen an Erinnerungen, kein einziger Gedanke hatte sein Ende gefunden, alles wackelte wie in einem dunklen Waggon, mit flackerndem, fast kraftlosem Licht – irgendwo Stimmen unsichtbarer Mitreisender, das Geschirr scheppert, es gibt keinen Zugbegleiter, und hinter dem Fenster blitzt etwas Verschwommenes auf.

Opa horchte, konnte aber nichts erkennen.

Großmutter ging vorbei, das bemerkte Opa. Und wieder konnte er nichts denken, nichts über sie, nichts über sich, nichts über irgendjemand. Es war nichts zu entscheiden, und nichts entschied sich von selbst. Alles war verflossen und verwischte sich. Das Farblose rollte heran. Selten tropft das, was sich auf dem Boden findet.

Der Großvater schaltete das Radio immer auf volle Lautstärke – damals. Um sechs Uhr früh ertönte im Haus die Hymne. Die Großmutter war zu dieser Zeit schon aufgestanden.

Sascha streckte die dürren, dreckigen Beine, er ärgerte sich über den Großvater. Aber er schlief sofort wieder ein, sobald die Melodie auf hörte. Er stand in guter Geistesverfassung auf. Er aß eine Milchsuppe. Manchmal fand er in der Suppe eine Fliege, aber Sascha ekelte sich nicht; er aß alles auf, nachdem er die Fliege herausgefischt und neben den Teller gelegt hatte. Die Fliege lag in einer kleinen weißen Pfütze, mit zusammengeklebten Flügeln. Die Suppe war außergewöhnlich schmackhaft, süß, heiß. Nach der Suppe gab es Karawajtschiki und Tee. Alles war so fein.

Um sechs Uhr morgens fing das Radio zu bellen an, als wäre die Platte mit der Hymne schon zu Ende oder hätte gar nicht erst beginnen können, weil sie hängengeblieben war. Das Radio atmete schwer mit seiner schwarzen, staubigen Lunge und begann zu schnarren. Der Lärm hörte nicht auf.

Sascha öffnet die Augen.

Über dem Kopf hingen Ikonen.

Das kleine Fensterchen neben dem Bett saugte alles Licht an.

Oma war nicht im Haus.

Sascha horchte, wollte den Atem des Großvaters hören, doch er hörte nichts. Er wollte nicht aufstehen. Aber liegen – zu zweit mit dem Großvater hinter der Trennwand – wollte er noch weniger.

Die Füße berührten angewidert den Boden. Die Schultern zuckten zurück. Die Backenknochen zogen sich zusammen, als er das Gähnen zurückhielt. Die Augen irrten flink durch das Zimmer, suchten etwas, um sich festzuhalten, damit das Herz sich beruhigte und der Morgen im Guten begann.

In der gegenüberliegenden Zimmerecke befand sich der »Familienschrein«[64 - der »Familienschrein« – «семейный иконостас»], mit tausendfach angesehenen Fotos. Sascha schaute ihn trotzdem immer wieder gerne an – bis jetzt.

Er zog sich an, schlüpfte sofort in Hosen und T-Shirt und Pullover und ohne Gedanken wie »… schau mal, wie der Großvater dort …« an sich ranzulassen, streckte er sich und schlich sich, möglichst leise, in die Ecke, zu den ausgeblichenen, verschwommenen Fotos.

Die großen Bilder beeindruckten Sascha immer wieder: 1933, die Mädchen des Dorfes sitzen in einer Gruppe, es sind ungefähr zwanzig. Die Mädchen sind gepflegt, man kann sagen, herausgeputzt, eine süßer als die andere. Aber – es ist die Zeit der Kollektivierung, alle müssen halt arbeiten. Sascha vergaß immer, die Großmutter zu fragen, wie das eigentlich gewesen war. Das da ist Großmutter, sie war ungefähr sechzehn oder jünger (sie wusste den Tag ihrer Geburt nicht und feierte ihren Geburtstag nie) – aber schon ein wunderbares Mädchen, alles war schon da. Und das Jahr 1933 stand vor der Tür.

Und hier, das ist Opa, mit einem Freund, 1938. Die Gesichter sind klar, die Augen weit geöffnet, hartes männliches Lächeln. Die Kommandantenuhr am Arm des Großvaters, riesengroß, zur Schau gestellt. Ein Genosse von halbkaukasischem Aussehen, aber so ein würdevoller Kaukasier, hell, glänzend von unten bis oben, als würde er auf mysteriöse Weise das Blitzlicht spiegeln. Das Jahr 1938. Warum lächeln alle?

Es geht ihnen gut. Sie sind zufrieden, weil sie fotografiert werden, das Leben liegt vor ihnen.

Der Freund des Großvaters, dessen Familiennamen Sascha vergessen hatte, starb den Heldentod im Vaterländischen Krieg, er war Pilot. Seine Büste steht beim Geschäft, ewig welke Blumen zu Füßen.

Der Großvater war unabkömmlich[65 - unabkömmlich – вне досягаемости] – bis 1942 schickten sie ihn nicht an die Front, er war der beste Mähdrescherfahrer im Gebiet. Der Großvater war damals schon mit der Großmutter verheiratet, Kinder hatten sie jedoch noch keine.

Aber im Herbst 1942 musste auch der Großvater an die Front. Bald danach geriet er in Gefangenschaft[66 - in Gefangenschaft geraten – попасть в плен]. Und den ganzen Krieg über blieb er dann in Gefangenschaft. Er erzählte nicht gerne davon. Gerne erinnerte er sich nur daran, wie ihm in der Gefangenschaft ein Hellseher vorausgesagt hatte, er würde achtzig Jahre alt.

»Die Leute starben unauf hörlich, mehrere Menschen jeden Tag«, sagte der Großvater. »Wir schliefen nebeneinander, damit es wärmer war, alle in einer Reihe. Alle drehten sich gleichzeitig von einer Seite auf die andere, mehrere Male pro Nacht. Du drehst dich um und der Nachbar neben dir streckt alle Viere von sich, er liegt kalt da … Mir hatte man prophezeit – und ich glaubte es nicht, niemand glaubte daran, dass er noch einen Tag leben werde – und da sagt man mir ›achtzig Jahre‹ voraus. Aber ich habe es erlebt. Und dann lebte ich noch ein Weilchen länger.«

Als Saschas Vater starb, war der Großvater bereits vierundachtzig.

Der Großvater erzählte bei der Totenfeier diese Geschichte noch einmal, und fügte hinzu: »Ich hätte mit achtzig sterben sollen. Die Söhne lebten noch. Ich wäre glücklich gestorben. Aber jetzt, Sankya, verstehe ich nicht, wozu ich gelebt habe, ich habe nichts – letztlich auch niemanden in die Welt gesetzt, es ist, als hätte ich gar nicht gelebt.«

Die Großmutter sagte: »Der Großvater hat die Gefangenschaft überlebt, weil er nicht rauchte. Die Deutschen gaben den Gefangenen Tabak und Brot. Der Großvater tauschte seinen Tabak bei anderen Gefangenen gegen Brot. Er gab ihn nicht einfach so her.«

Sascha dachte manchmal: Soll man das dem Großvater vorwerfen oder nicht? Es hätte Sascha auf der Welt gar nicht gegeben, hätte der Großvater nicht ein zusätzliches Stück Brot für den Tabak erhalten. Was soll ich ihm vorwerfen? Wenn du jemand beschuldigen willst, begib dich in diese Sklaverei, überlebe dort drei Jahre, gib den Tabak einfach so ab, während ihn die anderen tauschen, kommst du dann lebend zurück, kannst du Vorwürfe erheben.

Als der Großvater aus der Gefangenschaft zurückkehrte, wog er siebenundvierzig Kilo – bei einer Körpergröße von einem Meter dreiundachtzig.

Der Großvater erzählte außerdem noch: Als sie befreit wurden (von den Alliierten, den Amerikanern), machten er und einige seiner Genossen sich zu Fuß auf den Weg[67 - sich auf den Weg machen – отправиться в путь] zu den eigenen Leuten. Sie gingen durch eine befreite deutsche Siedlung, fanden ein Fass mit weißem Honig. Sie waren fünf Mann – und alle, außer dem Großvater, stürzten sich auf den Honig, um ihn zu essen, gleich mit den Händen, direkt aus dem Fass. Der Großvater warnte seine Kümmerlinge, das Zeug nicht zu essen – sie hörten nicht auf ihn. Sie aßen sich satt und begannen sofort zu erbrechen, zu taumeln und sich zu winden. So starben sie alle, nicht weit vom Fass mit dem weißen Honig.

Manchmal sah Sascha dieses Fass, gefüllt mit etwas Weißem und Dickflüssigem. Wie schmutzige bebende Finger mit langen Nägeln in den Honig gleiten. Zahnlose Münder, die von verdreckten Haaren umwachsen sind, schnappen nach dem Honig. Und der Honig verätzt die Kehle. Und der Großvater sitzt abseits, gebeugt und abgewandt. Vielleicht hatten Großvaters Weggefährten auch noch gelacht, einige Minuten lang waren sie sehr übermütig gewesen. Doch plötzlich setzte einer sich abrupt hin oder fiel sofort um, und die Augen weiteten sich vor Schmerz …

Und der Großvater ging allein weiter.

Von den Kommunisten wurde er ausgeschlossen, weil er in Gefangenschaft gewesen war. Er kehrte ins Dorf zurück, zu seiner Frau. Im Lauf der Nachkriegsjahre zeugten[68 - zeugen – зачинать, рождать] sie drei Söhne.

Da sind sie, die Söhne – auf einem anderen Foto. Saschas Vater, Wasja, er steht zwischen Großmutter und Großvater, ein blonder Schopf, oder wie es hier im Dorf heißt – flachsblond[69 - flachsblond – белобрысый], das bedeutet, dass die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren[70 - die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren – волосы светлые, как лен, выгоревший на солнце]. Der Großvater hält den mittleren Sohn auf den Armen, die Großmutter das kleine Söhnchen. Der Großvater – mager, hochgewachsen, abgearbeitet, streng. Die Großmutter – mit dunklem Gesicht, hohlwangig, sich selbst nicht ähnlich. Es war schwierig gewesen, die Kinder aufzuziehen.

Daneben eine andere Aufnahme – Saschas Urgroßvater mit Freunden – der Vater des Großvaters. Die festgehaltene Zeit: Der Erste Weltkrieg, vor dem Hintergrund eines Bunkers stehen vier Soldaten, mit – wie bei Pferden – langgezogenen Gesichtern, sinnlos, repräsentabel. An Urgroßvaters Brust drei Georgs- Orden. Er hat dann noch im Bürgerkrieg gekämpft und auch Auszeichnungen erhalten. Aus dem Bürgerkrieg waren allerdings keine Aufnahmen erhalten. Und die Auszeichnungen waren verloren gegangen.

Und hier ist Sascha selbst, vierzehnjährig, rosig, hellhäutig, die Haare wie zur Seite geleckt. Als er aus dem Dorf wegfuhr, war er, wie alle Dorfjungen, strohblond, in der Stadt verlor er die helle, seltene Färbung und wurde dunkelblond.

Sascha war mittlerweile der Einzige, der noch etwas über das Leben dieser Menschen wusste, die auf den Schwarzweißfotos abgebildet waren, zumindest war er ein Zeuge ihrer Existenz. Wenn die Großmutter stirbt, kann keiner mehr irgendwem erklären, wer hier abgebildet ist, welche Leute das sind – Stille. Ja, es wird auch niemand fragen, das braucht keiner. Die neuen Hausherren werden den Fotoaltar in das undurchdringliche Gestrüpp auf der anderen Straßenseite schmeißen, die Gesichter auf den Bildern werden verwaschen, und das war’s dann. Als wäre es nie gewesen[71 - Als wäre es nie gewesen. – Как будто их никогда и не было.].

Schon jetzt wusste Sascha nicht mehr, wer all die Menschen auf den vielen Fotos waren – vielleicht irgendwelche Verwandte der Großmutter, des Großvaters, vielleicht Nachbarn, mit denen sie befreundet gewesen waren, sonst noch wer. Die ganze Verwandtschaft ist weggestorben und die Freunde sind gestorben, es gab niemanden mehr, der sich erinnern konnte, wie die Großeltern in den Nachkriegsjahren eigentlich waren, ganz zu schweigen von der Zeit vor dem Krieg. Es hatte ja auch eine Hochzeit stattgefunden – die jungen Leute küssten sich scheu und die Gäste lärmten und tranken und alle lächelten, oder fast alle, vielleicht hat jemand missmutig in der Ecke gesessen und sich leise betrunken, auf jeder Hochzeit gibt es solche, trotzdem waren alle glücklich und lärmten … aber vermutlich ist kein Zeuge dieser Hochzeit mehr übrig geblieben.

Sascha erinnerte sich plötzlich, wie dem Großvater einmal herausgerutscht war, dass er mit der Großmutter in zweiter Ehe verheiratet sei. Die erste Frau hatte er am Tag nach der Hochzeit verlassen. Was sie eigentlich gemacht hatte, sagte der Großvater nicht. Angeekelt verlor er über seine erste Hochzeit ein paar Worte, die Sascha längst vergessen hatte, das war alles.

Dass der Großvater zwei Mal verheiratet gewesen war, beeindruckte Sascha sogar mehr als die furchtbaren Jahre, die der Großvater in Gefangenschaft verbracht hatte. Was war das für eine Ehefrau, was war das für ein Mädchen? Was hat sie getan? Hat der Großvater sie etwa mit einem anderen erwischt? Oder hat sie sich betrunken und den Großvater beschimpft? »Vielleicht hat sie das Tor mit Pech beschmiert?«, dachte Sascha, und vergaß dabei, dass im Dorf kein Haus hinter dem Tor versteckt war. Du machst einen Schritt von der Straße weg – und da ist gleich die Tür, die oft nicht einmal verschlossen ist. Und Hunde hielt auch niemand.

»Das Tor … mit Pech …«, äffte Sascha sich selbst nach. »Zu viele Bücher gelesen …«

Niemand weiß, wie das alles gewesen war. Aber all das war gewesen.

Wie kommt das, ha? Wohin sind alle verschwunden?

Hätte es einen Wert, zu wissen, wie die Großeltern ihr Leben gelebt haben? Oder war es für gar nichts nütze?

Sascha ging leise zum Großvater hin.

Die Türrahmen in der Hütte waren niedrig, und Sascha verbeugte sich unwillkürlich vor dem Großvater, der aber nichts sah – er lag mit geschlossenen Augen da. Sascha hörte das heisere, bebende Atmen des Großvaters und blickte einige Momente lang auf seine blasse Stirn mit der dünnen, schwärzlichen Vene.

Der Großvater zuckte mit den tränenden Augen, man konnte die Pupillen unter den Lidern nicht ausmachen.

»Sieht er? Sieht er nicht? Soll ich was sagen?«

»Sankya«, sagte der Großvater leise. »Bist aufgestanden. Hättest noch weiterschlafen …«

Sascha schwieg und sah den Großvater ohne zu blinzeln an. Der Großvater atmete.

Sascha nahm den Hocker und stellte ihn neben Großvaters Bett, vielleicht tat er das auch lauter, als es möglich gewesen wäre – schon die Bewegung, der Lärm verwischten gleichsam den Eindruck der schwermütigen Schmerzhaftigkeit dessen, was hier vor sich ging.

Der Großvater schielte kaum merklich auf den daneben sitzenden Sascha – das Lid zuckte, ein bleicher Fleck der Pupille bewegte sich, und das Lid zuckte von Neuem, drückte eine kleine Träne hervor, die sich sofort in einer Falte verlor.

»Fährst du bald? Bleib doch noch … Bleib, bis ich sterbe … Ich sterbe bald … Begrab mich wenigstens. Die Oma ist doch alleine … Die Weiber werden mich begraben. Es gibt doch keine Männer mehr …«

»In solchen Fällen«, dachte Sascha, »sagt man sicher: ›Was heißt du stirbst bald, Großvater, alles kommt in Ordnung. Du liegst ein bisschen und wirst bald wieder aufstehen.‹« Er schwieg.

»Solange ich lebe, kann ich mich nicht erinnern, dass die Weiber jemanden begraben hätten … Gibt’s in der Stadt noch Männer?«

Sascha lächelte ein wenig.

»Gibt es«, sagte er laut, um wenigstens etwas zu sagen.

»Bei uns sind sie alle ausgestorben. Ich bin der letzte. Alle sind zu meinen Lebzeiten geboren, aufgewachsen, und alle sind sie gestorben. Ich habe sie alle begraben … Die meinigen und die fremden.«

Der Großvater verstummte und lag lange schweigend da.

»Ich esse nichts, und kann trotzdem nicht sterben …«

Er schwieg wieder.

»Erinnerst du dich an meinen silbernen Löffel? Nimm ihn, wenn ich sterbe. Mein Vater hat ihn mir gegeben. Jetzt gehört er dir.«

Sascha erinnerte sich an diesen Löffel – er war schwer, schön. Die Großmutter sagte, dass der Großvater mit diesem Löffel alle seine kleinen Jungs auf die rosa Stirn schlug, wenn sie bei Tisch Unfug trieben[72 - Unfug trieben – безобразничать, баловаться]. Sascha glaubte das nicht. Mit so einem Löffel kann man töten. Ja, und das passte auch nicht zu Großvaters Charakter. Sascha dachte, dass er nie im Leben gehört hatte, wie Großvater schrie – nie erhob er die Stimme und niemals fluchte er. Seine Unzufriedenheit äußerte er durch Gesten. Einmal kam Sascha mit dem Vater ins Dorf, ungefähr vor fünf Jahren war das. Der Großvater war schon fast achtzig. Onkel Kolja kam noch dazu und sie tranken den ganzen Abend und tranken noch die halbe Nacht weiter. Am Morgen setzten sie sich zum Frühstück, um auszunüchtern. Die Großmutter, die ja hörte, wie schwer der Großvater im Schlaf atmete, entschied, ihn zu schützen und füllte den Söhnen die Gläser mit Selbstgebranntem[73 - das Selbstgebrannte – самогонка] ganz voll, dem Großvater nur etwas mehr als die Hälfte. In Großvaters Gesicht bewegte sich nicht ein einziger Muskel, mit einer laschen Bewegung schob er mit dem Handrücken der Rechten das Glas weg, nicht abrupt, aber immerhin so, dass es umfiel: Der Selbstgebrannte breitete sich auf dem Tisch aus, der Gestank war schneidend. Dann stand der Großvater auf und schob den Stuhl weg, als wollte er hinausgehen.

»Bleib schon sitzen, du Waldgeist! Bleib sitzen!«, schrie die Großmutter. Augenblicklich wischte sie den Tisch ab, stellte das Glas hin, füllte es bis zum Rand und ging schimpfend hinaus, maßvoll schimpfend, nicht laut und nicht bösartig, seit Langem kannte sie die Grenze, die sie nicht überschreiten durfte, wenn sie ihren Mann tadelte.

Der Großvater setzte sich, trank ruhig aus und die Großmutter versuchte nie mehr, ihm nicht richtig einzuschenken; es erinnerte oder erwähnte auch niemand mehr diesen Vorfall.

Sascha schaute auf den Großvater, dieser war wohl eingeschlafen. Sascha stand vorsichtig auf.

Auf der Straße stand Dunst, nebelgraue Feuchtigkeit, die im Sommer besonders unangenehm war.

Das Dorf gab kein einziges Lebenszeichen von sich.

Neben derselben Pfütze von gestern stand derselbe Junge mit der Gerte in der Hand. Zischend schlug er auf die schmutzige Spiegelung seiner selbst und sprang dabei von der Pfütze weg.

Der Anblick des Kindes hätte vielleicht das Herz zusammengezogen, wäre im Herzen nicht stille Leere gewesen.

»Du stehst schon auf, Sankya, warum bist du denn schon auf«, sagte die Großmutter, die vom Hof kam. »Gehen wir frühstücken.«

Das Rührei mit Speck, Tomaten und Zucchini – unnatürlich hell, wie die Zeichnung eines Kindes – verströmte ein starkes Aroma, bebte und spritzte als wäre es lebendig und voller Freude.

»Interessant, und wenn man die Alten zu zeichnen zwingt – werden ihre Zeichnungen genauso hell sein wie die der Kinder?«, überlegte Sascha.

Der Selbstgebrannte trübte sich ein, das grobe Brot wurde voller Gelassenheit dunkler. Auf einem Tisch ist Brot ist immer das Strengste, es kennt seinen Preis.

Sascha aß alles schnell und sagte, er gehe spazieren. Er bewegte sich vom Haus weg, den Berg hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich, wie er als Kind auf demselben Weg ging und die Gänse der Nachbarin traf und lange nicht an ihnen vorbeigehen konnte, da der Gänserich, der widerwärtige Vogel, den Hals streckend und mit den Flügeln schlagend, den Weg blockierte. Sascha sprang weg und drehte sich vor Schreck um und lief, mit hochgezogenen Knien. Dann blieb er in einiger Entfernung lange stehen, von einem dunklen Bein auf das andere tretend, wie ein kleines Pferd. Als jemand die Straße entlangging, setzte sich Sascha und tat, als würde er mit den Steinen spielen. Er schämte sich, dass er sich vor einer Gans fürchtete. Der Mensch ging vorbei, erschreckte die Gänse und sie liefen wild mit den Flügel schlagend und wie blöde schnatternd davon.

Wenn Sascha sich erinnerte, sich an sein Leben erinnerte, dann mochte er auch nur diesen Jungen, den dunkelbeinigen, mit den Schrammen. Dann, als er die blonde Mähne losgeworden war, wurde aus diesem Jungen ein weißhäutiger, buckliger Blödkopf, der dumm lachte und alle anderen Merkmale eines Halbwüchsigen hatte. Sascha erinnerte sich nicht an seine Zeit als Halbwüchsiger, er vermied es, sich daran zu erinnern. Fahrig, raufsüchtig, unangenehm – wer möchte sich schon daran erinnern.

Jetzt gab es keine Gänseriche mehr.

Die Stege über das Flüsschen verbogen sich, brachen ein.

»Geht denn etwa niemand mehr ans andere Ufer hinüber?«, dachte Sascha und ertappte sich dabei, dass Großmutters »denn etwa«[74 - »denn etwa« – «нешто»] in seine Sprache eingegangen war. Aber vermutlich verwendete er diesen Ausdruck nur, weil er mit seinem eingebildeten Dörflertum spielte, das sich, wenn es je existiert haben sollte, schon lange in Nichts aufgelöst hatte. Selbst »denn etwa« konnte er nicht gelassen aussprechen, ohne sich bei einem Selbstbetrug zu ertappen.

Sascha ging das Ufer entlang zum weiter entfernten Strand. Manchmal fand er am Ufer alte Boote, die mit Ketten an Bäumen festgemacht waren, oder herrenlose, löchrige, die schon lange niemand mehr brauche. Sascha schaute in jedes Boot, in das feuchte oder vertrocknete Innere.

Das Dorf blieb rechter Hand zurück.

Der Weg zog sich in Furchen, als hätte man ihn durchgekaut und ausgespuckt und während die Spucke vertrocknet war, blieben die verbogenen, groben Spuren von Zähnen oder hartem Zahnfleisch zurück.

Der Fluss wurde allmählich breiter. Manchmal war in der Strömung schwaches Plätschern zu hören.

Über dem Gras taumelten unsinnig Mücken.

Sascha ging zu dem Platz, der Timochas Winkel[75 - Timochas Winkel – Тимохин угол] hieß. Der Vater sagte, hier habe einst der Einsiedler Timocha gelebt, neben dem Fluss, der hier tatsächlich unvermittelt abbog und einen Knick bildete. Timocha war an irgendetwas erstickt. Die Fabel schenkte dem schönen stillen Strand mit dem weißen, fast schneefarbenen Sand seinen Namen.

Als kleiner Junge, der sich am Strand das Bäuchlein wärmt, hatte Sascha oft an Timochas Schicksal gedacht, aber in Anbetracht der Abwesenheit selbst eines kleinen Gebäudes, hatten die Überlegungen, wer dieser Timocha überhaupt gewesen war und wieso er ohne Menschen gelebt hatte, zu nichts geführt. Und dann war Saschka baden gegangen.

Manchmal – der Zeit nach zu urteilen, während der Mittagspausen – kamen junge Männer und hübsche Mädchen zum Strand. Irgendwo nicht weit entfernt wurde Torf abgebaut und in der freien Zeit planschte das arbeitende Volk glucksend herum.

Damals hatte der kleine Sascha zum ersten Mal gesehen, wie ein kräftiger Kerl in Badehose, in die sie so etwas wie eine Kartoffelknolle gelegt hatten, eine gut gebaute Schönheit abknutschte, sie an den Hüften streichelte und ihre weißen Brüste rieb, ohne sich vor dem Jungen zu schämen. Das auf dem Rücken liegende Mädchen ließ sich nicht lange auf die Lippen küssen und schlug bald dem Kerl gegen die Brust. Der nahm schließlich seine gierigen heißen Pfoten weg, stand unvermittelt auf und sprang vom hohen Ufer ins Wasser, verschwand fast für eine Minute unter Wasser, sodass die zerzauste Göre, die aufgestanden war und den Büstenhalter gerichtet hatte, sich Sorgen zu machen begann und unter vorgehaltener Hand Ausschau hielt, bis ihr Kavalier schließlich wie ein Wasserteufel am anderen Ufer auftauchte.

Sascha wusste nicht, was größeren Neid in ihm hervorrief – die Kunst, unter Wasser weit zu schwimmen oder dieser freie Umgang mit dem anderen Geschlecht. Das übrigens erschreckte Saschka, es rief eine merkwürdige Mischung aus Verwunderung und Ekel hervor.

Der Vater führte Sascha weiter am Fluss entlang, weg vom Lärm und den ständigen Flüchen, dort hatten sie noch ein anderes Geheimplätzchen – eine von Sträuchern eingewachsene Betonplatte, von der man nicht wusste, wie sie ans Ufer gekommen war. Der untere Teil der Platte ragte in den Fluss. Im Sommer erwärmte sich die Platte und Sascha und der Vater lagen lange auf ihr und schmorten[76 - schmoren – жарились (на солнце)]. Wenn die Sonne unerträglich wurde, gingen Saschka und der Vater bis zu den Knien ins Wasser und übergossen die Platte mit Wasser – davon wurde sie feucht und kalt, sie war wieder gut geeignet, um sich entspannt darauf zu bräunen und auszuruhen.