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Mein Leben und Streben
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Mein Leben und Streben

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Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin sp?ter, als ich etwas gr??er war, doch auch noch als Knabe, Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese Trommel noch einmal zu erw?hnen haben. Die elf Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast t?glich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor. Es gab auch an andern Orten »K?nigsretter«. Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen und f?r den K?nig alles zu wagen, unter Umst?nden sogar das Leben. Und eines sch?nen Tages kam er, dieser Befehl. Die Signalh?rner erklangen; die Trommeln wirbelten. Aus allen T?ren str?mten die Helden, um sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und sa? da mitten drauf. Es war keine leichte Sache f?r ihn, zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war ?berhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bed?rfnis, von Frau und Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: »Achtung – — Augen rechts, rrrricht‘t euch – — Augen grrrade aus – — G‘wehr bei Fu? – — G‘wehr auf – — G‘wehr pr?sentiert – — G‘wehr ?ber – — Rrrrechts um – — Vorw?rts marsch!« Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem t?rkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Sch?tzen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so marschierten die Heerscharen links, rechts – links, rechts zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vor?ber, dem wir damals unsere Fr?sche anvertrauten, nach W?stenbrand, um ?ber Chemnitz und Freiberg nach der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angeh?riger marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des St?dtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haust?r, dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich gl?hend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle meine Wege, die ich f?r sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das St?ck zu zwei Pfennige. Die mu?te ich ihm vom Kr?mer holen, weil er sich sch?mte, so billige selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er:

»Es ist doch etwas Gro?es, etwas Edles um solche Begeisterung f?r Gott, f?r K?nig und Vaterland!«

»Aber was bringt sie ein?« fragte die Frau Kantorin.

»Das Gl?ck bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Gl?ck!«

Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franz?pfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte ?ber das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, K?nig und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Gl?ck; das wollte und mu?te ich mir merken! Sp?ter hat dann das Leben an diesen drei Worten herumgemodelt und herumgemei?elt; aber m?gen sich die Formen ver?ndert haben, das innere Wesen ist geblieben.

Von allen, die heut ausgezogen waren, um gro?e Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zur?ck. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten ?bergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld ?brig habe, das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, da? er mit seinen Plattf??en nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht ?ndern k?nne. Als es dunkel geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus triftigen Gr?nden entlassen worden waren und die die Nachricht brachten, da? unser Armeekorps hinter Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic] geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die ?berraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, da? man aus Freiburg [sic] die Weisung erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die Preu?en seien in Dresden einger?ckt und so stehe f?r den K?nig und die Regierung nicht das Geringste mehr zu bef?rchten. Man kann sich wohl denken, da? es heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich emp?rte mich gegen das Handschuhflicken. Ich ri? einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und M?dels zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden V?tern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde ausgef?hrt. Wir kampierten bei den W?stenbr?nder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag den Schie?hausberg hinab, wo unsere verwaisten Frauen und M?tter standen, um uns alle, Gro? und Klein, teils ger?hrt, teils lachend in Empfang zu nehmen.

Warum ich das alles so ausf?hrlich erz?hle? Des tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals zusammengeflossen sind. Da? ich trotz allem, was sp?ter geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der fr?hen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden sind.

Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, fr?heren Bahnen zur?ck. Ich n?hte wieder Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule gen?gte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem guten, vollt?nenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell treffsicher und der Oeffentlichkeit gegen?ber mutig. So kam es, da? mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli ?bertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte f?r teure Kirchenst?cke keine Mittel ?brig. Der Herr Kantor mu?te sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht ang?ngig war, da komponierte er selbst. Und er war Komponist! Und zwar was f?r einer! Aber er stammt aus dem kleinen, unbedeutenden D?rfchen Mittelbach, von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium f?rmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden k?nnen und sah einen Taler f?r ein Verm?gen an, von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorz?glicher Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und h?tte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen k?nnen, wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen w?re. Jedermann wu?te: Wo in Sachsen und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und einmal spielen zu k?nnen. Das war die einzige Freude, die er sich g?nnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu fehlte ihm au?er der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes M?dchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddrei?igf??iger »Prinzipal« ert?nte, w?hrend dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften »Vox humana« zugebilligt wurde. Sie besa? mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstg?rten, deren Ertr?gnisse mit der ?u?ersten Genauigkeit verwertet wurden, und da? ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erw?hnt. Sie wu?te das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein K?nigreich verschenke. F?r den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als K?nstler, hatte sie nicht das geringste Verst?ndnis. Sie war an ihre G?rten und er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Bed?rfnisse bek?mmerte sie sich nicht. Sie ?ffnete keines seiner B?cher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papierm?hle verkauft, ohne da? ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, f?r das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niederen L?ften atmet und selbst den begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere H?hen kommen l??t, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine F?gsamkeit besa? und hierzu eine Gutm?tigkeit, die niemals vergessen konnte, da? er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches M?dchen und au?erdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.

Sp?ter gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, da? Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverst?ndlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: »Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike h?lt es nicht aus; sie hat Migr?ne«. Manchmal hie? es auch »sie hat Vapeurs«. Was das war, wu?te ich nicht, doch hielt ich es f?r eine Steigerung von dem, was ich auch nicht wu?te, n?mlich von der Migr?ne. Aber da? sich das immer nur dann einstellte, wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, da? er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der sp?teren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht.

Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine »Erziehung« nannte. Notabene mich »erzog« er; um die Schwestern bek?mmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, da? ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, n?mlich nicht nur eine gl?cklichere, sondern auch eine geistig h?here Lebensstellung. Denn das mu? ich ihm nachr?hmen, da? ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am n?chsten stand, da? er aber den h?heren Wert auf die kr?ftige Entwickelung der geistigen Pers?nlichkeit setzte. Er f?hlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudr?cken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, wom?glich ein hochgebildeter Mann werden, der f?r das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in andern Worten ?u?erte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er w?nschte, und war vollst?ndig ?berzeugt, es erreichen zu k?nnen. Leider aber war er sich ?ber die Wege, auf denen, und ?ber die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, nicht klar, und er untersch?tzte die gewaltigen Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum gr??ten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, da? selbst das allergr??te Opfer eines armen Teufels dem Widerstande der Verh?ltnisse gegen?ber kein Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine Ahnung davon, da? ein ganz anderer Mann als er dazu geh?rte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. Er war der Ansicht, da? ich vor allen Dingen so viel wie m?glich, so schnell wie m?glich zu lernen habe, und hiernach wurde mit gr??ter Energie gehandelt.

Ich war mit f?nf Jahren in die Schule gekommen, aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ?ltere Schwester ein. Dann wurden die Schulb?cher ?lterer Knaben gekauft. Ich mu?te daheim die Aufgaben l?sen, die ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald klassenfremd, f?r so ein kleines, weiches Menschenkind ein gro?es, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich glaube, da? sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was f?r ein gro?er Fehler da begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erw?gung aus, da? ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die n?chst h?here Klasse zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so dr?ckte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge dar?ber zu, da? ich als acht- oder neunj?hriger Knabe schon bei den elf- und zw?lfj?hrigen sa?. In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule freilich nicht viel geh?rte, war dies allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen gro?en, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, da? ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht geh?rte, f?r meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern Seite meiner Seele genommen. Ich sa? nicht unter Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen Bed?rfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht ?ber dieses nur scheinbar winzige, h?chst unwichtige Knabenschicksal zu l?cheln. Der Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen Augenblick z?gern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will festen Boden unter den F??en haben, den es ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, was man als »Jugend« bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, da? ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, da? um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich ganz unm?glich zu unterschreiben vermag.

Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, beschr?nkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf die Schularbeiten. Er holte allen m?glichen sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl bef?higt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu k?nnen. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mu?te es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, da? ich es dadurch besser behalten k?nne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte Gebetb?cher, Rechenb?cher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus dem Jahre 1802, ?ber 500 Seiten stark, mu?te ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzupr?gen. Die stimmten nat?rlich l?ngst nicht mehr! Ich sa? ganze Tage und halbe N?chte lang, um mir dieses w?ste, unn?tige Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verf?tterung und Ueberf?tterung sondergleichen. Ich w?re hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich mein K?rper nicht trotz der ?u?erst schmalen Kost so ?beraus kr?ftig entwickelt h?tte, da? er selbst solche Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte n?mlich keinen Spaziergang und keinen Weg ?ber Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran nur eine Bedingung zu kn?pfen, n?mlich die, da? kein Augenblick der Schulzeit dabei vers?umt wurde. Die Spazierg?nge durch Wald und Hain waren wegen seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr K?mmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Sch?tzenhauptmann Lippold und andere, um Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und ich mit, denn ich mu?te. Er meinte, ich geh?re zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Da? ich bei ihm, in der Gesellschaft erwachsener M?nner, gewi? auch nicht besser aufgehoben war, daf?r hatte er kein Verst?ndnis. Ich konnte da Dinge h?ren, und Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft au?erordentlich m??ig. Ich habe ihn niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelm??iges Quantum ein Glas einfaches Bier f?r sieben Pfennige und ein Glas K?mmel oder Doppelwacholder f?r sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei besonderen Veranlassungen teilte er ein St?ckchen Kuchen f?r sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens mu?ten doch wissen, da? ich da selbst auf erlaubten und vollst?ndig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer Zuh?rer in Dinge und Verh?ltnisse eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht fr?hreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu h?ren, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, auf dem meine F??e das Gef?hl haben mu?ten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann f?hlte, wenn ich zu Gro?mutter kam und bei ihr mich in mein liebes, liebes M?rchenreich fl?chten konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, da? dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. F?r mich hatte es keine F??e; es schwebte; es konnte mir erst sp?ter, wenn ich mich zum Verst?ndnis emporgearbeitet hatte, die St?tze bieten, die mir so n?tig war.

Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur ein ganz gew?hnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die H?lfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Gro?mutter hinzugehen. Das kostete f?nfzehn Pfennige f?r uns beide. Es wurde gegeben: »Das M?llerr?schen oder die Schlacht bei Jena.« Meine Augen brannten; ich gl?hte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten f?r mich. Sie sprachen; sie liebten und ha?ten; sie duldeten; sie fa?ten gro?e, k?hne Entschl?sse; sie opferten sich auf K?nig und f?r Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, mu?te Gro?mutter mir beschreiben, wie die Puppen bewegt werden.

»An einem Holzkreuze,« erkl?rte sie mir. »Von diesem Holzkreuze, gehen die F?den hernieder, die an die Glieder der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das Kreuz bewegt.«

»Aber sie sprechen doch!« sagte ich.

»Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den H?nden h?lt, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen Leben.«

»Wie meinst du das?«

»Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber verstehen lernen.«

Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals zu gehen. Es wurde gespielt »Doktor Faust oder Gott, Mensch und Teufel.« Es w?re ein resultatloses Beginnen, den Eindruck, den dieses St?ck auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der G?thesche Faust, sondern der Faust des uralten Volksst?ckes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie eines gro?en Dichters aufgestapelt wurde und auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um Erl?sung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich h?rte, ich f?hlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals wohl kaum neun Jahre alt. Der G?thesche Faust h?tte mir, dem Kinde, gar nichts sagen k?nnen; er sagt mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese Puppen sprachen laut, fast ?berlaut, und was sie sagten, das war gro?, unendlich gro?, weil es so einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott zur?ckkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und die F?den, diese F?den; die alle nach oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten bewegt, das h?ngt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze h?ngt, ist ?berfl?ssig, ist bewegungslos, ist f?r den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber Gro?mutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich mu?te als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals einen dieser Gottesdienste vers?umt zu haben. Aber ich bin aufrichtig genug, zu sagen, da? ich trotz aller Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als eine St?tte erschienen, durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber, h??lich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterst?ck ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein gro?er, ber?hmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe gehei?en, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht, welches nicht f?r Puppen, sondern f?r lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: »Herr Kantor, ich will auch so ein gro?er Dichter werden, der nicht f?r Puppen, sondern nur f?r lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?« Da sah er mich sehr lange und unter einem fast mitleidigen L?cheln an und antwortete: »Fange es an, wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.« Diesen Bescheid habe ich freilich erst sp?ter verstehen lernen; aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, da? die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein Mensch, ein F?rst des Geistes oder ein F?rst der Waffen, das Kreuz, von dem die F?den herunterh?ngen, in den H?nden h?lt, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst sp?ter an den Folgen zu ersehen.

Kurze Zeit darauf lernte ich auch St?cke kennen, die nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern f?r das Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem ich auf meine Trommel zur?ckzukommen habe. Es lie? sich eine Schauspielertruppe f?r einige Zeit in Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als m??ig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb t?glich ?ber die H?lfte der Sitze leer. Die »K?nstler« fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war – — – ich. Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, da? Vater schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: »Karl, hole deine Trommel herunter; wir m?ssen sie putzen!« »Wozu?« fragte ich. »Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal ?ber die ganze B?hne herumzutrommeln«. »Wer ist die Preziosa?« »Eine junge, sch?ne Zigeunerin, die eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zur?ck und findet ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke Kn?pfe und einen Hut mit wei?er Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das »Haus« voll, so gibt der Herr Direktor dir f?nf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts. Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe.«

Es versteht sich ganz von selbst, da? ich in Wonne schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Kn?pfe! Wei?e Feder! Dreimal um die ganze B?hne herum! F?nf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr p?nktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich gefiel s?mtlichen K?nstlerinnen und K?nstlern. Die Frau Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles Begriffsverm?gen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht. Vielleicht t?te ich es f?r vierzig Pfennige; schon mit drei?ig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter, denn er hatte meinen k?nstlerischen Wert erkannt und lie? nicht mit sich handeln. Ich hatte f?r die f?nfzig Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem gro?en Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegen?ber in der jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schlo?vogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das Zeichen f?r mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren. Die blanken Kn?pfe bekam ich gleich nach der Probe mit. Mutter mu?te sie mir anflicken. Es waren ?ber drei?ig St?ck; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste. Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut mit der wei?en Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster hinausgeh?ngt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart gef?llt, da? schnell ganz vorn noch einige »Logen« eingerichtet wurden mit dem Preise von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und Gro?mutter hatten Freipl?tze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein h?chst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, da? die Frau Direktorin sich bewogen f?hlte, mir meine f?nf Neugroschen schon ehe der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche zu stecken. Das erh?hte meine Sicherheit und meine k?nstlerische Begeisterung bedeutend.

Und nun waren sie da, die gro?en, erhabenen Augenblicke meines ersten B?hnendeb?ts. Der erste Akt spielte in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich sa? in der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der B?hne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara und noch irgend wer standen auf der B?hne. In der gegen?berliegenden Kulisse lehnte der Schlo?vogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, da? er glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber nahm das ganz selbstverst?ndlich f?r das verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um die B?hne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz starr. »Lausbub!« schrie mir der Schlo?vogt zu, als ich an ihm vor?berschritt. Er griff aus der Kulisse heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon war ich an ihm vor?ber. Aus allen Kulissen winkte man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem, was ausgemacht worden war, n?mlich dreimal rund um die B?hne herum. »Lausbub!« br?llte der Schlo?vogt, als ich zum zweiten Mal an ihm vor?berkam, und zwar tat er das so laut, da? es trotz des Trommelwirbels auch hinaus- und ?ber den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes Gel?chter antwortete von dorther; ich aber begann meine dritte Runde. »Bravo, bravo!« erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, fa?te meine beiden Arme, so da? ich stehenbleiben und die Trommelschlegel ruhen lassen mu?te und donnerte mich an:

»Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch auf!

»Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!« rief man im Zuschauerraum lachend.

»Ja, weiter, immer weiter!« antwortete auch ich, indem ich mich von ihm losri?. »Die Zigeuner haben zu kommen! Raus mit der Bande, raus mit der Bande!«

»Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!« schrie, br?llte und johlte das Publikum.

Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das Publikum nicht zufrieden. Es rief: »Heraus mit der Bande, heraus!« und wir mu?ten den Umzug von neuem beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schlu? des Aktes mu?te ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor lie? mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der Vorstellung halten sollte. F?r den Fall, da? ich meine Sache gut machen w?rde, versprach er mir noch weitere f?nfzig Pfennige. Das wirkte ?u?erst anregend auf mein Ged?chtnis. Als das St?ck zu Ende war und der Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die »hohen Herrschaften« zu bitten, sich noch nicht gleich zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, ?bermorgen und auch fernerhin unm?glich abgegeben werden k?nnten. Als Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: »Also rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!«

Das wurde nicht etwa ?bel-, sondern mit gutwilligem Lachen entgegengenommen und hatte den gew?nschten Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion als auch diejenigen aller ?brigen K?nstlerinnen und K?nstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam nicht nur meine weiteren f?nf Neugroschen, sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches f?r den ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar f?r St?cke, in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche Gefahr f?r die Zuh?rerschaft, denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle z?rtlichen Liebesszenen so ?ngstlich aus seinen St?cken streiche, antwortete er: »Teils aus moralischem Pflichtgef?hl und teils aus kluger Erw?gung. Unsere erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu h??lich f?r solche Rollen.«

In den St?cken, die ich da besuchte, forschte ich nach dem Kreuz und nach den F?den, an denen die Puppen hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer sp?teren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr h?ufig, obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon und lie? mir von der leeren, hohlen Oberfl?chlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere gr??ere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche St?cke schrieben, die auf die B?hne gegeben wurden, kamen mir wie G?tter vor. W?re ich ein so bevorzugter Mensch, so w?rde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen erz?hlen, sondern von meinem herrlichen Sitara-M?rchen, von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der Erl?sung aus der Erdenqual und allen anderen, ?hnlichen Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch mir so n?tig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in die ich nicht geh?rte, weil sie nur von auserw?hlten M?nnern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch Anderes kam hinzu.

Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgem?? war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, geno? evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen Andersgl?ubige f?hrte das keineswegs. Wir hielten uns weder f?r besser noch f?r berufener als sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche seines Kirchenamtes religi?sen Ha? zu s?en. Unsere Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, n?mlich Vater, Mutter und Gro?mutter, die waren alle drei urspr?nglich tief religi?s aber von jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosit?t, die sich in keinen Streit einl??t und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich h?rte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor ?ber religi?se Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: »Ein Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.« Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits gesagt, da? ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe t?glich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch unersch?tterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.

Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und zwar nicht nur zum religi?sen. Eine jede Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige religi?se Gebr?uche, an denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebr?uche war folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren, beteiligten sich am darauf folgenden gr?nen Donnerstag zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen Kommunion. Nur w?hrend dieser einen Abendmalsdarreichung, sonst w?hrend des ganzen Jahres nicht, standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock, B?ffchen [sic] und wei?es Halstuch. Sie standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten und hielten schwarze, goldger?nderte Schutzt?cher empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen, gottesgl?ubigen Augenblicke vor dem Altare wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.

Ein anderer dieser Gebr?uche war der, da? am ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres w?hrend des Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es geh?rte Mut dazu, und es kam nicht selten vor, da? der Organist dem kleinen S?nger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde sie von mir h?rte, so wirkt sie noch heute in mir fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner B?cher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden und mit fr?hlich erhobener Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat, da? ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich nicht absolut dagegen str?ubt, jener Stern von Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn alle andern Sterne verl?schen.

Wer nicht gew?hnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt wahrscheinlich sagen, da? ich auch hier wieder auf einen der Punkte gesto?en sei, an denen mir ein fester Halt nach dem andern unter den F??en hinweggenommen wurde, so da? ich schlie?lich seelisch ganz nur in der Luft zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu, daf?r aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich ?ffnen sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten w?rden, von allem Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten Jugend, in welcher die S?mpfe lagen und heut noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen Qual geworden ist.

Dieser Abgrund hei?t, damit ich ihn gleich beim richtigen Namen nenne – — Lekt?re. Ich bin ihn nicht etwa hinabgest?rzt, pl?tzlich, j?hlings und unerwartet, sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns f?hrte. Meine erste Lekt?re bildeten die M?rchen, das Kr?uterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen Schulb?cher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im St?dtchen gab. Dann alle m?glichen anderen B?cher, die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt das f?r gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, da? ich, wenn auch nur scheinbar, m??ig stand. Und er war gegen alle Beteiligung an den »Unarten« anderer Knaben. Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich mu?te stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu »lernen«! Von dem Handschuhn?hen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine Erl?sung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun zu d?rfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, war dies h?chst gef?hrlich. Sa? ich dann betr?bt oder gar mit heimlichen Tr?nen bei meinem Buche, so kam es vor, da? Mutter mich leise zur T?r hinaussteckte und erbarmend sagte: »So geh schnell ein bi?chen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schl?gt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!« O, diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da wissen will, wie und was ich noch heut ?ber sie denke, der schlage in meinen »Himmelsgedanken« das Gedicht auf Seite 105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine Gro?mutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen K?nigstochter, die f?r mich und meine Leser als »Menschheitsseele« gilt.

Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von B?chern jeden Genres in Privath?nden befand, zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab deren drei, n?mlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier als der Vern?nftigste von allen. Er sagte, B?cher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur B?cher zum Lernen, und f?r diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er meinte, f?r mich als Kurrendaner sei es sehr n?tzlich, den lateinischen Text unserer Kirchenges?nge in die deutsche Sprache ?bersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte, doch auf dem n?chsten Blatte stand zu lesen:

»Ein buer [sic] lernen mu?,
Wenn er will werden dominus,
Lernt er aber mit Verdru?,
So wird er ein asinus!«

Vater war ganz entz?ckt ?ber diesen Vierzeiler und meinte, ich solle nur ja daf?r sorgen, da? ich kein asinus, sondern ein dominus werde. Also nun schnell und flei?ig lateinisch lernen!

Bald darauf fa?ten einige Ernsttaler Familien den Entschlu?, im n?chsten Jahre nach Amerika auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder w?hrend dieser Frist so viel wie m?glich englisch lernen. Da verstand es sich ganz von selbst, da? ich mitzutun hatte! Und sodann geriet auf irgend eine, ich wei? nicht mehr, welche Weise ein Buch in unsern Besitz, welches franz?sische Freimaurerlieder mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin gedruckt und »Seiner K?niglichen Hoheit, Friedrich Wilhelm, Prinz von Preu?en« gewidmet. Darum mu?te es gut und von sehr hohem Werte sein! Der Titel lautete: »Chansons ma?onniques«, und zu der Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:

»Nons vеnеrous de l‘Arabie
La sage et noble antiquitе,
Et la cеl?bre Confrairie [sic]
Transmise ? la postеritе«.

Das Wort »Freimaurerlieder« reizte ganz besonders. Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu k?nnen! Gl?cklicherweise erteilte der Herr Rektor f?r Privatsch?ler auch franz?sischen Unterricht. Er gestattete mir, in diesem »Zirkle« einzutreten, und so kam es, da? ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und Franz?sischen zugleich zu befassen hatte.

Der Herr Rektor war in Beziehung auf das B?cherverleihen weniger zur?ckhaltend als der Herr Kantor. Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besa? hunderte von geographischen und ethnographischen Werken, die er meinem Vater alle f?r mich zur Verf?gung stellte. Ich fiel ?ber diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr freute sich dar?ber, ohne irgendein doch so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten, als vielmehr in den B?chern aus, die er besa?. Zu derselben Zeit ?ffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zun?chst alle seine Trakt?tchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und andern guten Menschen f?gte. So kam es, da? ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen Wohlt?tigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht, in welchem ?ber das offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit bittere Klage gef?hrt wurde. In der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene »Gro?en« kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek des zweiten alle jene andern »Gro?en«, denen die religi?se Offenbarung himmelhoch ?ber jedem wissenschaftlichen Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge; aber noch viel t?richter als ich waren die, welche mich in diese Konflikte fallen und sinken lie?en, ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen B?chern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein; mir aber mu?te es zum Gifte werden.

Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mu?te bezahlt werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. F?r eine Hohensteiner Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Uebung besa?, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch au?erdem daf?r geopfert! Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und heizbarer, so da? er zur Sommer- und zur Winterszeit und bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde t?glich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis zur sp?ten Abendstunde. Der Haupttag aber war der Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen, ihre Eink?ufe zu machen und – last not least – eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden f?nf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, da? ich mich von Mittags zw?lf Uhr an bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur f?nf Minuten ausruhen zu k?nnen. Zur St?rkung bekam ich des Nachmittags und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes, zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, da? ein mitleidiger Kegler, welcher sah, da? ich kaum mehr konnte, mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister anzuregen. Ich habe mich ob dieser ?berm??igen Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da w?chentlich zusammenbrachte, war gar nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum und au?erdem f?r jedes Honneur, welches geschoben wurde, einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache H?he. Es hat Montage gegeben, an denen ich ?ber zwanzig Groschen nach Hause brachte, daf?r aber vor M?digkeit die Treppe zu unserer Wohnung mehr hinaufst?rzte als hinaufstieg.

Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen, da? es sich hier nicht um Leute handelte, welche das kannten, was man unter R?cksicht oder gar Zartgef?hl versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich da alles zu h?ren bekam! Der langgestreckte, zugebaute Kegelschub wirkte wie ein H?rrohr. Jedes Wort, welches da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu mir. Alles, was Gro?mutter und Mutter in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das emp?rte sich gegen das, was ich hier zu h?ren bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene kr?ftige, kerngesunde Fr?hlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute, welche aus der brustt?tenden Atmosph?re ihres Webstuhles direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich f?r einige Stunden ein Vergn?gen vorzut?uschen, welches aber nichts weniger als ein Vergn?gen war, f?r mich jedenfalls eine Qual, k?rperlich sowohl als auch seelisch.

Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ?hnliche b?se Sachen, n?mlich eine Leihbibliothek, und zwar was f?r eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und ?u?erlich geradezu ruppige, ?u?erst gef?hrliche B?chersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte sich au?erordentlich, denn sie war die einzige, die es in den beiden St?dtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Ver?nderung, die sie erlitt, war die, da? die Einb?nde immer schmutziger und die Bl?tter immer schmieriger und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen, und ich mu? der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner Schande gestehen, da? auch ich, nachdem ich einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen B?nden steckte, g?nzlich verfiel. Was f?r ein Teufel das war, m?gen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der R?uberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo Sallini, der edle R?uberhauptmann. Himlo Himlini, der wohlt?tige R?uberhauptmann. Die R?uberh?hle auf dem Monte Viso. Bellini, der bewundersw?rdige [sic] Bandit. Die sch?ne R?uberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von L?weneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsr?ck oder der Raubritter als Besch?tzer der Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der K?nig als M?rder. Die S?nden des Erzbischofs u. s. w. u. s. w.

Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser B?cher, einstweilen darin zu lesen. Sp?ter sagte er mir, ich k?nne sie alle lesen, ohne daf?r bezahlen zu m?ssen. Und ich las sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm sie mit nach Haus. Ich sa? ganze N?chte lang, gl?henden Auges ?ber sie gebeugt. Vater hatte nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl verpflichtet gewesen w?ren, mich zu warnen. Sie wu?ten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir zusammenbrach. Da? die wenigen St?tzen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, n?mlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.

Die Psychologie ist gegenw?rtig in einer Umwandlung begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man behauptet, da? der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem anschlie?en, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was f?r eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monstr?s dicken, wasserk?pfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja vielleicht au?ergew?hnlich veranlagte Knabe hatte sich zu einer unartikulierten geistigen Mi?gestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besa? als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erw?hnten starken, unzerrei?baren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der Erde festgehalten, da? ich f?r K?nig und Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet hatten, den schwer bedr?ngten Monarchen Sachsens und seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar durch die Lekt?re dieser sch?ndlichen Leihbibliothek. Alle die R?uberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden. Sie besa?en wahre Fr?mmigkeit, gl?hende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose Wohlt?tigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedr?ckten und Bedr?ngten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen M?nner aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor allen Dingen die F?lle des Lebens, der T?tigkeit, der Bewegung, die in diesen B?chern herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend eine gro?e, schwere, k?hne Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den B?chern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Trakt?tchen des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz guten und brauchbaren B?chern des Herrn Rektors? Da waren gro?e, weite und ferne L?nder beschrieben, aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und V?lker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie, nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch kein Teufel da, das Kreuz mit den F?den in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt, n?mlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er allein es ist, f?r den die B?cher geschrieben werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet f?r sie den Tod. Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten und Bed?rfnisse dessen, der so ein Buch in die H?nde nimmt! Kaum f?hlt er w?hrend des Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erf?llt. Und welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal R?uberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder b?se Mensch, jeder S?nder, mag er zehnmal K?nig, Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist g?ttliche Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel ?ber die Herrlichkeit und Unumst??lichkeit der g?ttlichen und der menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den Rinaldo Rinaldini geschrieben!

Das Schlimmste an dieser Lekt?re war, da? sie in meine sp?tere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner Seele festsetzte, f?r immer festgehalten wurde. Hierzu kam die mir angeborene Naivit?t, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur Gro?mutter sch?ttelte den Kopf, und zwar je l?nger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern ?berstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenu?, von »edlen« Menschen zu lesen, die immerfort Reicht?mer verschenkten. Da? sie diese Reicht?mer vorher andern abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bed?rftige Menschen durch so einen R?uberhauptmann unterst?tzt und gerettet worden seien, so freuten wir uns dar?ber und bildeten uns ein, wie sch?n es w?re, wenn so ein Himlo Himlini pl?tzlich hier bei uns zur T?r hereintr?te, zehntausend blanke Taler auf den Tisch z?hlte und dabei sagte; »Das ist f?r euren Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterst?cke schreibt!« Das letztere war mir n?mlich, seit ich den »Faust« gesehen hatte, zum Ideal geworden.

Ich mu? bekennen, da? ich diese verderblichen B?cher nicht nur las, sondern auch vorlas, n?mlich zun?chst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche Scharteke herbeif?hren kann. Alles Positive geht verloren, und schlie?lich bleibt nur die traurige Negation zur?ck. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen ver?ndern sich; die L?ge wird zur Wahrheit, die Wahrheit zur L?ge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung zwischen gut und b?s wird immer unzuverl?ssiger! das f?hrt schlie?lich zur Bewunderung der verbotenen Tat, die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum ?u?ersten Verbrechertum.

Das war zur Zeit, als bestimmt werden mu?te, was nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf die Universit?t. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mu?te mit meinen W?nschen weit herunter und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen k?nnen, aber er vers?umte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanit?t und N?chstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar keinen Pfennig unn?tz ausgab, so bedurften wir nur eines Zuschusses von f?nf bis zehn Talern pro Jahr. Das hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir glaubten, da? es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete die H?nde und lie? sich ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns f?nf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmepr?fung bestanden haben w?rde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: »Meine liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und mu? f?r sie sorgen. Ich kann Ihnen also die f?nf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht flei?ig, so wird sich ganz gewi? zur rechten Zeit jemand finden, der sie ?brig hat und sie Ihnen gibt!«


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