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Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке
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Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке

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7

Ein Kauz, ein ganz wunderlicher Kauz! Herrn Klöterjahns Gattin dachte zuweilen nach über ihn, denn sie hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. Sei es, dass der Luftwechsel anfing, die Wirkung zu versagen, oder dass irgendein positiv schädlicher Einfluss sie berührt hatte: ihr Befinden war schlechter geworden, der Zustand ihrer Luftröhre schien zu wünschen übrigzulassen, sie fühlte sich schwach, müde, appetitlos, fieberte nicht selten; und Doktor Leander hatte ihr aufs entschiedenste Ruhe, Stillverhalten und Vorsicht empfohlen. So saß sie, wenn sie nicht liegen musste, in Gesellschaft der Rätin Spatz, verhielt sich still und hing, eine Handarbeit im Schoße, an der sie nicht arbeitete, diesem oder jenem Gedanken nach.

Ja, er machte ihr Gedanken, dieser absonderliche Herr Spinell, und, was das Merkwürdige war, nicht sowohl über seine als über ihre eigene Person; auf irgendeine Weise rief er in ihr eine seltsame Neugier, ein nie gekanntes Interesse für ihr eigenes Sein hervor. Eines Tages hatte er beim Gespräch geäußert:

„Nein, es sind rätselvolle Tatsachen, die Frauen… sowenig neu ist es, sowenig kann man ablassen, davor zu stehen und zu staunen. Da ist ein wunderbares Geschöpf, eine Sylphe[34 - Sylphe, f – сильфида, воздушное создание – weiblicher Luftgeist], ein Duftgebild, ein Märchentraum von einem Wesen. Was tut sie? Sie geht hin und ergibt sich einem Jahrmarktsherkules[35 - Jahrmarktsherkules – ярмарочный силач]oder Schlächterburschen[36 - Schlächterbursche – мясник]. Sie kommt an seinem Arme daher, lehnt vielleicht sogar ihren Kopf an seine Schulter und blickt dabei verschlagen lächelnd um sich her, als wollte sie sagen: Ja, nun zerbrecht euch die Köpfe über diese Entscheidung! – Und wir zerbrechen sie uns.“ -

Hiermit hatte Herrn Klöterjahns Gattin sich wiederholt beschäftigt.

Eines anderen Tages fand zum Erstaunen der Rätin Spatz folgendes Zwiegespräch zwischen ihnen statt.

„Darf ich einmal fragen, gnädige Frau (aber es ist wohl naseweis), wie Sie heißen, wie eigentlich Ihr Name ist?“

„Ich heiße doch Klöterjahn, Herr Spinell!“

„Hm. – Das weiß ich. Oder vielmehr: ich leugne es. Ich meine natürlich Ihren eigenen Namen, Ihren Mädchennamen. Sie werden gerecht sein und einräumen, gnädige Frau, dass, wer Sie,Frau Klöterjahn’nennen wollte, die Peitsche verdiente.“

Sie lachte so herzlich, dass das blaue Äderchen über ihrer Braue beängstigend deutlich hervortrat und ihrem zarten, süßen Gesicht einen Ausdruck von Anstrengung und Bedrängnis verlieh, der tief beunruhigte.

„Nein! Bewahre[37 - Bewahre! – Боже сохрани!], Herr Spinell! Die Peitsche? Ist,Klöterjahn’ Ihnen so fürchterlich?“

„Ja, gnädige Frau, ich hasse diesen Namen aus Herzensgrund, seit ich ihn zum ersten Mal vernahm. Er ist komisch und zum Verzweifeln unschön, und es ist Barbarei und Niedertracht, wenn man die Sitte so weit treibt, auf Sie den Namen Ihres Herrn Gemahls zu übertragen.“

„Nun, und,Eckhof[38 - Eckhof = Ekhof, Conrad – Экгоф Конрад (1720–1778), немецкий актер, друживший с Лессингом]’? Ist Eckhof schöner? Mein Vater heißt Eckhof.“

„Oh, sehen Sie!Eckhof’ ist etwas ganz anderes! Eckhof hieß sogar ein großer Schauspieler. Eckhof passiert[39 - Eckhof passiert. – Экгоф подойдет.]. – Sie erwähnten nun Ihres Vaters[40 - Des Vaters erwähnen – старое употребление глагола с Genitiv вместо современного употребления с Akkusativ]. Ist Ihre Frau Mutter…“

„Ja, meine Mutter starb, als ich noch klein war.“

„Ah. – Sprechen Sie mir doch ein wenig mehr von Ihnen, darf ich Sie bitten? Wenn es Sie ermüdet, dann nicht. Dann ruhen Sie, und ich fahre fort, Ihnen von Paris zu erzählen, wie neulich. Aber Sie könnten ja ganz leise reden, ja, wenn Sie flüstern, so wird das alles noch schöner machen. Sie wurden in Bremen geboren?“

Und diese Frage tat er beinahe tonlos, mit einem ehrfurchtsvollen und inhaltsschweren Ausdruck, als sei Bremen eine Stadt ohnegleichen, eine Stadt voller unnennbarer Abenteuer und verschwiegener Schönheiten, in der geboren zu sein eine geheimnisvolle Hoheit verleihe.

„Ja, denken Sie!“ sagte sie unwillkürlich. „Ich bin aus Bremen.“

„Ich war einmal dort“, bemerkte er nachdenklich. -

„Mein Gott, Sie waren auch dort? Nein, hören Sie, Herr Spinell, zwischen Tunis und Spitzbergen haben Sie, glaube ich, alles gesehen!“

„Ja, ich war einmal dort“, wiederholte er. „Ein paar schmalen Straßen, über deren Giebeln schief und seltsam der Mond stand. Dann war ich in einem Keller, in dem es nach Wein und Moder roch. Das ist eine durchdringende Erinnerung…“

„Wirklich? Wo mag das gewesen sein? – Ja, in solchem grauen Giebelhause[41 - Giebelhaus, n – фронтонное здание, здание с остроконечной двускатной крышей], einem alten Kaufmannshause mit hallender Diele und weißlackierter Galerie, bin ich geboren.“

„Ihr Herr Vater ist also Kaufmann?“ fragte er ein wenig zögernd.

„Ja. Aber außerdem und eigentlich wohl in erster Linie ist er ein Künstler.“

„Ah! Ah! Inwiefern?“

„Er spielt die Geige… Aber das sagt nicht viel. Wie er sie spielt, Herr Spinell, das ist die Sache! Einige Töne habe ich niemals hören können, ohne dass mir die Tränen so merkwürdig brennend in die Augen stiegen, wie sonst bei keinem Erlebnis. Sie glauben es nicht.“

„Ich glaube es! Ah, ob ich es glaube!.. Sagen Sie mir, gnädige Frau: Ihre Familie ist wohl alt? Es haben wohl schon viele Generationen in dem grauen Giebelhaus gelebt, gearbeitet und das Zeitliche gesegnet[42 - das Zeitliche segnen – образное выражение для «умереть»]?“

„Ja. – Warum fragen Sie übrigens?“

„Weil es nicht selten geschieht, dass ein Geschlecht mit praktischen, bürgerlichen und trockenen Traditionen sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kunst verklärt.“

„Ist dem so? – Ja, was meinen Vater betrifft, so ist er sicherlich mehr ein Künstler als mancher, der sich so nennt und vom Ruhme lebt. Ich spiele nur ein bisschen Klavier. Jetzt haben sie es mir ja verboten; aber damals, zu Hause, spielte ich noch. Mein Vater und ich, wir spielten zusammen. Ja, ich habe all die Jahre in lieber Erinnerung; besonders den Garten, unseren Garten, hinterm Hause. Er war jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelten, bemoosten Mauern eingeschlossen; aber gerade das gab ihm viel Reiz. In der Mitte war ein Springbrunnen, mit einem dichten Kranz von Schwertlilien umgeben. Im Sommer verbrachte ich dort lange Stunden mit meinen Freundinnen. Wir saßen alle auf kleinen Feldsesseln rund um den Springbrunnen herum…“

„Wie schön!“ sagte Herr Spinell und zog die Schultern empor. „Saßen Sie und sangen?“

„Nein, wir häkelten meistens.“

„Immerhin. Immerhin.“

„Ja, wir häkelten und schwatzten, meine sechs Freundinnen und ich.“

„Wie schön! Gott, hören Sie, wie schön!“ rief Herr Spinell, und sein Gesicht war gänzlich verzerrt.

„Was finden Sie nun hieran so besonders schön, Herr Spinell!“

„Oh, dies, dass es sechs außer Ihnen waren, dass Sie nicht in diese Zahl eingeschlossen waren, sondern dass Sie gleichsam als Königin daraus hervortraten. Sie waren ausgezeichnet vor Ihren sechs Freundinnen. Eine kleine goldene Krone, ganz unscheinbar, aber bedeutungsvoll, saß in Ihrem Haar und blinkte.“

„Nein, Unsinn, nichts von einer Krone.“

„Doch, sie blinkte heimlich. Ich hätte sie gesehen, hätte sie deutlich in Ihrem Haar gesehen, wenn ich in einer dieser Stunden unvermerkt im Gestrüpp gestanden hätte.“

„Gott weiß, was Sie gesehen hätten. Sie standen aber nicht dort, sondern eines Tages war es mein jetziger Mann, der zusammen mit meinem Vater aus dem Gebüsch hervortrat. Ich fürchte, sie hatten sogar allerhand von unserem Geschwätz belauscht.“

„Dort war es also, wo Sie Ihren Herrn Gemahl kennenlernten, gnädige Frau?“

„Ja, dort lernte ich ihn kennen!“ sagte sie laut und fröhlich, und indem sie lächelte, trat das zartblaue Äderchen angestrengt und seltsam über ihrer Braue hervor. „Er besuchte meinen Vater in Geschäften, wissen Sie. Am nächsten Tag war er zum Diner geladen, und noch drei Tage später hielt er um meine Hand an.“

„Wirklich! Ging das alles so außerordentlich schnell?“

,Ja… Das heißt, von nun an ging es ein wenig langsamer. Denn mein Vater war der Sache eigentlich gar nicht geneigt, müssen Sie wissen, und machte eine längere Bedenkzeit zur Bedingung. Erstens wollte er mich lieber bei sich behalten, und dann hatte er noch andere Skrupel. Aber.“

„Aber?“

„Aber ich wollte es eben“, sagte sie lächelnd, und wieder beherrschte das blaßblaue Äderchen mit einem bedrängten und kränklichen Ausdruck ihr ganzes liebliches Gesicht.

„Ah, Sie wollten es.“

„Ja, und ich habe einen ganz festen und respektablen Willen gezeigt, wie Sie sehen.“

„Wie ich es sehe. Ja.“

„. so dass mein Vater sich schließlich darein ergeben musste.“

„Und so verließen Sie ihn denn und seine Geige, verließen das alte Haus, den verwucherten Garten, den Springbrunnen und Ihre sechs Freundinnen und zogen mit Herrn Klöterjahn.“

„Und zog mit… Sie haben eine Ausdrucksweise, Herr Spinell! Beinahe biblisch! – Ja, ich verließ das alles, denn so will es ja die Natur.“

„Ja, so will sie es wohl.“

„Und dann handelte es sich ja um mein Glück.“

„Gewiss. Und es kam, das Glück.“

„Das kam in der Stunde, Herr Spinell, als man mir zuerst den kleinen Anton brachte, unseren kleinen Anton, und als er so kräftig mit seinen kleinen gesunden Lungen schrie, stark und gesund wie er ist.“

„Es ist nicht das erstemal, dass ich Sie von der Gesundheit Ihres kleinen Anton sprechen höre, gnädige Frau. Er muss ganz ungewöhnlich gesund sein?“

„Das ist er. Und er sieht meinem Mann so lächerlich ähnlich!“

„Ah! – Ja, so begab es sich also. Und nun heißen Sie nicht mehr Eckhof, sondern anders, und haben den kleinen gesunden Anton und leiden ein wenig an der Luftröhre.“

„Ja. – Und Sie sind ein durch und durch rätselhafter Mensch, Herr Spinell, dessen versichere ich Sie.“

„Ja, straf’ mich Gott[43 - straf’ mich Gott – покарай меня Господь!], das sind Sie!“ sagte die Rätin Spatz, die übrigens auch noch vorhanden war.

Aber auch mit diesem Gespräch beschäftigte Herrn Klöterjahns Gattin sich mehrere Male in ihrem Innern. So nichtssagend es war, barg es doch einiges auf seinem Grunde, was ihren Gedanken über sich selbst Nahrung gab. War dies der schädliche Einfluss, der sie berührte? Ihre Schwäche nahm zu, und oft stellte Fieber sich ein, eine stille Glut, in der sie mit einem Gefühle sanfter Gehobenheit ruhte, der sie sich in einer nachdenklichen, preziösen, selbstgefälligen und ein wenig beleidigten Stimmung überließ. Wenn sie nicht das Bett hütete und Herr Spinell auf den Spitzen seiner großen Füße mit ungeheurer Behutsamkeit zu ihr trat, in einer Entfernung von zwei Schritten stehenblieb und, das eine Bein zurückgestellt und den Oberkörper vorgebeugt, mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme zu ihr sprach, wie als höbe er sie in scheuer Andacht sanft und hoch empor und bettete sie auf Wolkenpfühle, wo kein schriller Laut und keine irdische Berührung sie erreichen solle…, so erinnerte sie sich der Art, in der Herr Klöterjahn zu sagen pflegte: “Vorsicht, Gabriele, take care, mein Engel, und halte den Mund zu!“, eine Art, die wirkte, als schlüge er einem hart und wohlmeinend auf die Schulter. Dann aber wandte sie sich rasch von dieser Erinnerung ab, um in Schwäche und Gehobenheit auf den Wolkenpfühlen zu ruhen, die Herr Spinell ihr dienend bereitete.

Eines Tages kam sie unvermittelt auf das kleine Gespräch zurück, das sie mit ihm über ihre Herkunft und Jugend geführt hatte.

„Es ist also wahr“, fragte sie, „Herr Spinell, dass Sie die Krone gesehen hätten?“

Und obgleich jene Plauderei schon vierzehn Tage zurücklag, wusste er sofort, um was es sich handelte, und versicherte ihr mit bewegten Worten, dass er damals am Springbrunnen, als sie unter Ihren sechs Freundinnen saß, die kleine Krone hätte blinken – sie heimlich in ihrem Haar hätte blinken sehen.

Einige Tage später erkundigte sich ein Kurgast aus Artigkeit bei ihr nach dem Wohlergehen ihres kleinen Anton daheim. Sie ließ zu Herrn Spinell, der sich in der Nähe befand, einen hurtigen Blick hinübergleiten und antwortete ein wenig gelangweilt:

„Danke; wie soll es dem wohl gehen? – Ihm und meinem Mann geht es gut.“

8

Ende Februar, an einem Frosttage, reiner und leuchtender als alle, die vorhergegangen waren, herrschte in „Einfried“ nichts als Übermut. Die Herrschaften mit den Herzfehlern besprachen sich untereinander mit geröteten Wangen, der diabetische General trällerte wie ein Jungling, und die Herren mit den unbeherrschten Beinen waren ganz außer Rand und Band. Was ging vor? Nichts Geringeres, als dass eine gemeinsame Ausfahrt unternommen werden sollte, eine Schlittenpartie in mehreren Fuhrwerken mit Schellenklang und Peitschenknall ins Gebirge hinein: Doktor Leander hatte zur Zerstreuung seiner Patienten diesen Beschluss gefasst.

Natürlich mussten die „Schweren“ zu Hause bleiben. Die armen „Schweren“! Man nickte sich zu und verabredete sich, sie nichts von dem Ganzen wissen zu lassen; es tat allgemein wohl, ein wenig Mitleid üben und Rücksicht nehmen zu können. Aber auch von denen, die sich an dem Vergnügen sehr wohl hätten beteiligen können, schlossen sich einige aus. Was Fräulein von Osterloh anging, so war sie ohne weiteres entschuldigt. Wer wie sie mit Pflichten überhäuft war, durfte an Schlittenpartien nicht ernstlich denken. Der Hausstand verlangte gebieterisch ihre Anwesenheit, und kurzum: sie blieb in „Einfried“. Dass aber auch Herrn Klöterjahns Gattin erklärte, daheim bleiben zu wollen, verstimmte allseitig. Vergebens redete Doktor Leander ihr zu, die frische Fahrt auf sich wirken zu lassen; sie behauptete, nicht aufgelegt zu sein, Migräne zu haben, sich matt zu fühlen, und so musste man sich fügen. Der Zyniker und Witzbold aber nahm Anlass zu der Bemerkung:

“Geben Sie acht, nun fährt auch der verweste Säugling nicht mit.“

Und er bekam recht, denn Herr Spinell ließ wissen, dass er heute nachmittag arbeiten wolle; er gebrauchte sehr gern das Wort „arbeiten“ für seine zweifelhafte Tätigkeit. Übrigens beklagte sich keine Seele über sein Fortbleiben, und ebenso leicht verschmerzte man es, dass die Rätin Spatz sich entschloss, ihrer jüngeren Freundin Gesellschaft zu leisten, da das Fahren sie seekrank mache.

Gleich nach dem Mittagessen, das heute schon gegen zwölf Uhr stattgefunden hatte, hielten die Schlitten vor „Einfried“, und in lebhaften Gruppen, warm vermummt, neugierig und angeregt, bewegten sich die Gäste durch den Garten. Herrn Klöterjahns Gattin stand mit der Rätin Spatz an der Glastür, die zur Terrasse führte, und Herr Spinell am Fenster seines Zimmers, um der Abfahrt zuzusehen. Sie beobachteten, wie unter Scherzen und Gelächter kleine Kämpfe um die besten Plätze entstanden, wie Fräulein von Osterloh, eine Pelzboa um den Hals, von einem Gespann zum anderen lief, um Körbe mit Esswaren unter die Sitze zu schieben, wie Doktor Leander, die Pelzmütze in der Stirn, mit seinen funkelnden Brillengläsern noch einmal das Ganze überschaute, dann ebenfalls Platz nahm und das Zeichen zum Aufbruch gab… Die Pferde zogen an, ein paar Damen kreischten und fielen hintüber, die Schellen klapperten, die kurzstieligen Peitschen knallten und ließen ihre langen Schnüre im Schnee hinter den Kufen dreinschleppen, und Fräulein von Osterloh stand an der Gartenpforte und winkte mit ihrem Schnupftuch, bis an einer Biegung der Landstraße die gleitenden Gefährte verschwanden, das frohe Geräusch sich verlor. Dann kehrte sie durch den Garten zurück, um ihren Pflichten nachzueilen, die beiden Damen verließen die Glastür, und fast gleichzeitig trat auch Herr Spinell von seinem Aussichtspunkte ab.

Ruhe herrschte in „Einfried“. Die Expedition war vor dem Abend nicht zurückzuerwarten. Die „Schweren“ lagen in ihren Zimmern und litten. Herrn Klöterjahns Gattin und ihre ältere Freundin unternahmen einen kurzen Spaziergang, worauf sie in ihre Gemächer zurückkehrten. Auch Herr Spinell befand sich in dem seinen und beschäftigte sich auf seine Art. Gegen vier Uhr brachte man den Damen je einen halben Liter Milch, während Herr Spinell seinen leichten Tee erhielt. Kurze Zeit darauf pochte Herrn Klöterjahns Gattin an die Wand, die ihr Zimmer von dem der Magistraträtin Spatz trennte, und sagte: „Wollen wir nicht ins Konversationszimmer hinuntergehen, Frau Rätin? Ich weiß nicht mehr, was ich hier anfangen soll.“

„Sogleich, meine Liebe!“ antwortete die Rätin. „Ich ziehe nur meine Stiefel an, wenn Sie erlauben. Ich habe nämlich auf dem Bette gelegen, müssen Sie wissen.“

Wie zu erwarten stand,war das Konversationszimmer leer. Die Damen nahmen am Kamin Platz. Die Rätin Spatz stickte Blumen auf ein Stück Stramin, und auch Herrn Klöterjahns Gattin tat ein paar Stiche, worauf sie die Handarbeit in den Schoß sinken ließ und über die Armlehne ihres Sessels hinweg ins Leere träumte. Schließlich machte sie eine Bemerkung, die nicht lohnte, dass man sich ihretwegen die Zähne voneinander tat[44 - Man tat sich ihretwegen die Zähne nicht voneinander – ради этого даже рот было лень открыть] da aber die Rätin Spatz trotzdem „Wie?“ fragte, so musste sie zu ihrer Demütigung den ganzen Satz wiederholen. Die Rätin Spatz fragte nochmals „Wie?“ In diesem Augenblick aber wurden auf dem Vorplatze Schritte laut, die Tür öffnete sich, und Herr Spinell trat ein.

„Störe ich?“ fragte er noch an der Schwelle mit sanfter Stimme, während er ausschließlich Herrn Klöterjahns Gattin anblickte und den Oberkörper auf eine gewisse und schwebende Art nach vorne beugte… Die junge Frau antwortete:

„Ei, warum nicht gar? Erstens ist dieses Zimmer doch als Freihafen gedacht, Herr Spinell, und dann: worin sollten Sie und stören? Ich habe das entschiedene Gefühl, die Rätin zu langweilen.“

Hierauf wusste er nichts mehr zu erwidern, sondern ließ nur lächelnd seine kariösen Zähne sehen und ging unter den Augen der Damen mit ziemlich unfreien Schritten bis zur Glastür, wo er stehenblieb und hinausschaute, indem er in etwas unerzogener Weise den Damen den Rücken zuwandte. Dann machte er eine halbe Wendung rückwärts, fuhr aber fort, in den Garten hinauszublicken, indes er sagte:

“Die Sonne ist fort. Unvermerkt hat der Himmel sich bezogen. Es fängt schon an, dunkel zu werden.“

„Wahrhaftig, ja, alles liegt in Schatten“, antwortete Herrn Klöterjahns Gattin. „Unsere Ausflügler werden doch noch Schnee bekommen, wie es scheint. Gestern war es um diese Zeit noch voller Tag; nun dämmert es schon.“

„Ach“, sagte er, „nach allen diesen überhellen Wochen tut das Dunkel den Augen wohl. Ich bin dieser Sonne, die Schönes und Gemeines mit gleich aufdringlicher Deutlichkeit bestrahlt, geradezu dankbar, dass sie sich endlich ein wenig verhüllt.“

„Lieben Sie die Sonne nicht, Herr Spinell?“

„Da ich kein Maler bin… Man wird innerlicher ohne Sonne. – Es ist eine dicke, weißgraue Wolkenschicht. Vielleicht bedeutet es Tauwetter für morgen. Übrigens würde ich Ihnen nicht raten, dort hinten noch auf die Handarbeit zu blicken, gnädige Frau.“

„Ach, seien Sie unbesorgt, das tue ich ohnehin nicht. Aber was soll man beginnen?“

Er hatte sich auf den Drehsessel vorm Piano niedergelassen, indem er einen Arm auf den Deckel des Instrumentes stützte.

„Musik.“, sagte er. „Wer jetzt ein bisschen Musik zu hören bekäme! Manchmal singen die englischen Kinder kleine niggersongs[45 - niggersongs – Negerlieder; имеет пренебрежительный оттенок], das ist alles.“

„Und gestern nachmittag hat Fräulein von Osterloh in aller Eile die,Klosterglocken’ gespielt“, bemerkte Herrn Klöterjahns Gattin.

„Aber Sie spielen ja, gnädige Frau“, sagte er bittend und stand auf. „Sie haben einmal täglich mit Ihrem Herrn Vater musiziert.“

„Ja, Herr Spinell, das war damals! Zur Zeit des Springbrunnens, wissen Sie.“

„Tun Sie es heute!“ bat er. „Lassen Sie dies eine mal ein paar Takte hören! Wenn Sie wüssten, wie ich dürste.“

„Unser Hausarzt sowohl wie Doktor Leander haben es mir ausdrücklich verboten, Herr Spinell.“

„Sie sind nicht da, weder der eine noch der andere! Wir sind frei… Sie sind frei, gnädige Frau! Ein paar armselige Akkorde.“

„Nein, Herr Spinell, daraus wird nichts. Wer weiß, was für Wunderdinge Sie von mir erwarten! Und ich habe alles verlernt, glauben Sie mir. Auswendig kann ich beinahe nichts.“

„Oh, dann spielen Sie dieses Beinahe-nichts! Und zum Überfluss sind hier Noten, hier liegen sie, oben auf dem Klavier. Nein, dies hier ist nichts. Aber hier ist Chopin[46 - Chopin, Frederic – Фридерик Шопен (1810–1849), польский композитор и пианист].“

„Chopin?“

„Ja, die Nocturnes[47 - Nocturne, n = Notturno, n – ноктюрн]. Und nun fehlt nur, dass ich die Kerzen anzünde…“

„Glauben Sie nicht, dass ich spiele, Herr Spinell! Ich darf nicht. Wenn es mir nun schadet?!“

Er verstummte. Er stand, mit seinen großen Füßen, seinem langen, schwarzen Rock und seinem grauhaarigen, verwischten, bartlosen Kopf, im Lichte der beiden Klavierkerzen und ließ die Hände hinunterhängen.

„Nun bitte ich nicht mehr“, sagte er endlich leise. „Wenn Sie fürchten, sich zu schaden, gnädige Frau, so lassen Sie die Schönheit tot und stumm, die unter Ihren Fingern laut werden möchte. Sie waren nicht immer so sehr verständig; wenigstes nicht, als es im Gegenteil galt, sich der Schönheit zu begeben. Sie waren nicht besorgt um Ihren Körper und zeigten einen unbedenklicheren und festeren Willen, als Sie den Springbrunnen verließen und die kleine goldene Krone ablegten… Hören Sie“, sagte er nach einer Pause und seine Stimme senkte sich noch mehr, „wenn Sie jetzt hier niedersitzen und spielen wie einst, als noch Ihr Vater neben Ihnen stand und seine Geige jene Töne singen ließ, die Sie weinen machten., dann kann es geschehen, dass man sie weider heimlich in Ihrem Haare blinken sieht, die kleine, goldene Krone.“