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Märchen
Jacob und Wilhelm Grimm
Folio World’s Classics
Brüder Grimm – Jacob (1785—1863) und Wilhelm (1786—1859) – deutsche Linguisten und weltberühmte Geschichtenerzähler. Seit ihrer Studienzeit sammeln sie Volksgeschichten, Legenden und verarbeiten sie für ihre Zeitgenossen. Die Märchen der Brüder Grimm sind so realistisch und höchst moralisch, dass selbst Erwachsene sie mit großer Freude lesen.
Братья Гримм
Märchen
© O. Huhalova-Mieshkova, grafiker, 2021
© Folio Verlag, serienmarke, 2020
Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen. Wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens – und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf, und das war ihr liebstes Spielwerk.
Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, daß man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten.
Und als sie so klagte, rief ihr jemand zu: “Was hast du vor, Königstochter, du schreist ja, daß sich ein Stein erbarmen möchte.” Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken, häßlichen Kopf aus dem Wasser streckte. “Ach, du bist‘s, alter Wasserpatscher,” sagte sie, “ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.” – “Sei still und weine nicht,” antwortete der Frosch, “ich kann wohl Rat schaffen, aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?” – “Was du haben willst, lieber Frosch,” sagte sie, “meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, auch noch die goldene Krone, die ich trage.”
Der Frosch antwortete: “Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und deine goldene Krone, die mag ich nicht. Aber wenn du mich lieb haben willst, und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein darf, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen darf: wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel wieder heraufholen.” – “Ach ja,” sagte sie, “ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel wieder bringst.” Sie dachte aber: “Was der einfältige Frosch schwätzt! Der sitzt im Wasser bei Seinesgleichen und quakt und kann keines Menschen Geselle sein.”
Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab, und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert, hatte die Kugel im Maul und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf und sprang damit fort. “Warte, warte,” rief der Frosch, “nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie du!”. Aber was half es ihm, daß er ihr sein “quak, quak” so laut nachschrie, wie er nur konnte! Sie hörte nicht darauf, eilte nach Hause und hatte bald den armen Frosch vergessen, der wieder in seinen Brunnen hinabsteigen mußte.
Am andern Tage, als sie mit dem König und allen Hofleuten sich zur Tafel gesetzt hatte und von ihrem goldenen Tellerlein aß, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas die Marmortreppe heraufgekrochen. Und als es oben angelangt war, klopfte es an die Tür und rief: “Königstochter, jüngste, mach mir auf!”. Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und es war ihr ganz ängstlich zumute.
Der König sah wohl, daß ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach: “Mein Kind, was fürchtest du dich? Steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?” – “Ach, nein,” antwortete sie, “es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch.” – “Was will der Frosch von dir?” – “Ach, lieber Vater, als ich gestern im Wald bei dem Brunnen saß und spielte, da fiel meine goldene Kugel ins Wasser. Und weil ich so weinte, hat sie der Frosch wieder heraufgeholt, und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm, er sollte mein Geselle werden. Ich dachte aber nimmermehr, daß er aus seinem Wasser herauskönnte. Nun ist er draußen und will zu mir herein.”
Und schon klopfte es zum zweitenmal und rief:
“Königstochter, jüngste,
Mach mir auf!
Weißt du nicht, was gestern
Du zu mir gesagt
Bei dem kühlen Wasserbrunnen?
Königstochter, jüngste,
Mach mir auf!”
Da sagte der König: “Was du versprochen hast, das mußt du auch halten. Geh nur und mach ihm auf.”
Sie ging und öffnete die Türe, da hüpfte der Frosch herein, ihr immer auf dem Fuße nach, bis zu ihrem Stuhl. Da blieb er sitzen und rief: “Heb mich herauf zu dir!”. Sie zauderte, bis es endlich der König befahl. Als der Frosch erst auf dem Stuhl war, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er: “Nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen können.” Das tat sie zwar, aber man sah wohl, daß sie‘s nicht gerne tat. Der Frosch ließ sich‘s gut schmecken, aber ihr blieb fast jedes Bißlein im Halse stecken.
Endlich sprach er: “Ich habe mich sattgegessen und bin müde, nun trag mich in dein Kämmerlein und mach dein seidenes Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.” Die Königstochter fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie sich nicht anzurühren getraute und der nun in ihrem schönen, reinen Bettlein schlafen sollte!
Der König aber war zornig und sprach: “Wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.”
Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauf und setzte ihn in eine Ecke. Als sie aber im Bett lag, kam er gekrochen und sprach: “Ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du. Heb mich herauf, oder ich sag‘s deinem Vater!” Da wurde sie erst bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften wider die Wand: “Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch.”
Als er aber herabfiel, war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. Dann schliefen sie ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren, mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich.
Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr in einen Frosch verwandelt worden war, daß er drei eiserne Bande um sein Herz hatte legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen. Der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich wieder hinten hinauf und war voller Freude über die Erlösung.Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, daß es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief:
“Heinrich, der Wagen bricht!”
”Nein, Herr, der Wagen nicht,
Es ist ein Band von meinem Herzen,
Das da lag in großen Schmerzen,
Als Ihr in dem Brunnen saßt,
Als Ihr eine Fretsche (ein Frosch) wast (wart).”
Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.
Der Wolf und die sieben jungen Geißlein
Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein, und hatte sie lieb, wie eben eine Mutter ihre Kinder lieb hat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehen und Futter holen. Da rief sie alle sieben herbei und sprach: “Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf, wenn er hereinkommt, so frißt er euch mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn gleich erkennen.”
Die Geißlein sagten: “Liebe Mutter, wir wollen uns schon in Acht nehmen, Ihr könnt ohne Sorge fortgehen.” Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg.
Es dauerte nicht lange, da klopfte jemand an die Haustür und rief: “Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!”. Aber die Geißlein hörten an der rauhen Stimme, daß es der Wolf war. “Wir machen nicht auf,” riefen sie, “du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme, aber deine Stimme ist rau. Du bist der Wolf!”.
Da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide. Er aß es auf und machte damit seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief: “Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!”. Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote in das Fenster gelegt, das sahen die Kinder und riefen: “Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß, wie du. Du bist der Wolf!”.
Da lief der Wolf zu einem Bäcker und sprach: “Ich habe mich an den Fuß gestoßen, streich mir Teig darüber.” Als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, so lief er zum Müller und sprach: “Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote.” Der Müller dachte, der Wolf will einen betrügen, und weigerte sich. Aber der Wolf sprach: “Wenn du es nicht tust, fresse ich dich!”. Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß. Ja, so sind die Menschen.
Nun ging der Bösewicht zum dritten Mal zu der Haustür, klopfte an und sprach: “Macht auf, Kinder, euer liebes Mütterchen ist heimgekommen und hat jedem von euch etwas aus dem Walde mitgebracht!”. Die Geißlein riefen: “Zeig uns zuerst deine Pfote, damit wir wissen, daß du unser liebes Mütterchen bist.” Da legte der Wolf die Pfote ins Fenster, und als sie sahen, daß sie weiß war, so glaubten sie, es wäre alles wahr, was er sagte, und machten die Türe auf. Wer aber hereinkam, war der Wolf.
Die Geißlein erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das siebente in den Kasten der Wanduhr. Aber der Wolf fand sie alle und machte nicht langes Federlesen: eins nach dem andern schluckte er in seinen Rachen, nur das jüngste in dem Uhrkasten fand er nicht. Als der Wolf seine Lust gebüßt hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf der grünen Wiese unter einen Baum und fing an zu schlafen.
Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Haustür stand sperrweit auf, Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber niemand antwortete. Endlich, als sie das jüngste rief, da antwortete eine feine Stimme: “Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten.” Sie holte es heraus, und es erzählte ihr, daß der Wolf gekommen wäre und die anderen alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken, wie sie über ihre armen Kinder geweint hat!
Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baum und schnarchte, daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und sah, daß in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. “Ach, Gott,” dachte sie, “sollten meine armen Kinder, die er zum Nachtmahl hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?”
Da mußte das Geißlein nach Hause laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungetüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt getan, so streckte schon ein Geißlein den Kopf heraus. Und als sie weiter schnitt, so sprangen nacheinander alle sechse heraus, und waren noch alle am Leben, und hatten nicht einmal Schaden erlitten, denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Das war eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter, und hüpften wie Schneider, der Hochzeit hält.
Die Alte aber sagte: “Jetzt geht und sucht Wackersteine, damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch füllen, solange es noch im Schlafe liegt.” Da schleppten die sieben Geißerchen in aller Eile die Steine herbei und steckten sie ihm in den Bauch, so viel als sie hineinbringen konnten. Dann nähte ihn die Alte in aller Geschwindigkeit wieder zu, daß er nichts merkte und sich nicht einmal regte.
Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Beine, und weil ihm die Steine im Magen so großen Durst erregten, so wollte er zu einem Brunnen gehen und trinken. Als er aber anfing zu gehen und sich hin und her zu bewegen, so stießen die Steine in seinem Bauch aneinander und rappelten. Da rief er:
“Was rumpelt und pumpelt
In meinem Bauch herum?
Ich meinte, es wären sechs Geißelein,
Doch sind‘s lauter Wackerstein.”
Und als er an den Brunnen kam und sich über das Wasser bückte und trinken wollte, da zogen ihn die schweren Steine hinein, und er mußte jämmerlich ersaufen.
Als die sieben Geißlein das sahen, kamen sie eilig herbeigelaufen und riefen laut: “Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!” und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den Brunnen herum.
Die zwölf Brüder
Es war einmal ein König und eine Königin, die lebten in Frieden miteinander und hatten zwölf Kinder, das waren aber lauter Buben.
Nun sprach der König zu seiner Frau: “Wenn das dreizehnte Kind, was du zur Welt bringst, ein Mädchen ist, so sollen die zwölf Buben sterben, damit sein Reichtum groß wird und das Königreich ihm allein zufällt.” Er ließ auch zwölf Särge machen, die waren schon mit Hobelspänen gefüllt, und in jedem lag das Totenkißchen, und ließ sie in eine verschlossene Stube bringen, dann gab er der Königin den Schlüssel und gebot ihr, niemand etwas davon zu sagen.
Die Mutter aber saß nun den ganzen Tag und trauerte, so daß der kleinste Sohn, der immer bei ihr war und den sie nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach: “Liebe Mutter, warum bist du so traurig?”. “Liebstes Kind,” antwortete sie, “ich darf dir’s nicht sagen.” Er ließ ihr aber keine Ruhe, bis sie ging und die Stube aufschloß und ihm die zwölf mit Hobelspänen gefüllten Totenladen zeigte. Darauf sprach sie: “Mein liebster Benjamin, diese Särge hat dein Vater für dich und deine elf Brüder machen lassen, denn wenn ich ein Mädchen zur Welt bringe, so sollt ihr allesamt getötet und darin begraben werden.” Und als sie weinte, während sie das sprach, so tröstete sie der Sohn und sagte: “Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns schon helfen und wollen fortgehen.”
Sie aber sprach: “Geh mit deinen elf Brüdern hinaus in den Wald, und einer setze sich immer auf den höchsten Baum, der zu finden ist, und halte Wacht und schaue nach dem Turm hier im Schloß. Gebäre ich ein Söhnlein, so will ich eine weiße Fahne aufstecken, und dann dürft ihr wiederkommen; gebäre ich ein Töchterlein, so will ich eine rote Fahne aufstecken, und dann flieht fort, so schnell ihr könnt, und der liebe Gott behüte euch. Alle Nacht will ich aufstehen und für euch beten, im Winter, daß ihr an einem Feuer euch wärmen könnt, im Sommer, daß ihr nicht in der Hitze schmachtet.”
Nachdem sie also ihre Söhne gesegnet hatte, gingen sie hinaus in den Wald. Einer hielt um den andern Wacht, saß auf der höchsten Eiche und schaute nach dem Turm. Als elf Tage herum waren und die Reihe an Benjamin kam, da sah er, wie eine Fahne aufgesteckt wurde; es war aber nicht die weiße, sondern die rote Blutfahne, die verkündigte, daß sie alle sterben sollten. Wie die Brüder das hörten, wurden sie zornig und sprachen: “Sollten wir um eines Mädchens willen den Tod leiden! Wir schwören, daß wir uns rächen wollen; wo wir ein Mädchen finden, soll sein rotes Blut fließen.”
Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mitten drin, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines verwünschtes Häuschen, das leer stand. Da sprachen sie: “Hier wollen wir wohnen, und du, Benjamin, du bist der jüngste und schwächste, du sollst daheim bleiben und haushalten, wir andern wollen ausgehen und Essen holen.” Nun zogen sie in den Wald und schossen Hasen, wilde Rehe, Vögel und Täuberchen, und was zu essen stand, das brachten sie dem Benjamin, der mußte es ihnen zurechtmachen, damit sie ihren Hunger stillen konnten. Indem Häuschen lebten sie zehn Jahre zusammen, und die Zeit ward ihnen nicht lang.
Das Töchterchen, das ihre Mutter, die Königin, geboren hatte, war nun herangewachsen, war gut von Herzen und schön von Angesicht und hatte einen goldenen Stern auf der Stirne. Einmal, als große Wäsche war, sah es darunter zwölf Mannshemden und fragte seine Mutter: “Wem gehören diese zwölf Hemden, für den Vater sind sie doch viel zu klein?”. Da antwortete sie mit schwerem Herzen: “Liebes Kind, die gehören deinen zwölf Brüdern.” Sprach das Mädchen: “Wo sind meine zwölf Brüder, ich habe noch niemals von ihnen gehört.” Sie antwortete: “Das weiß Gott, wo sie sind; sie irren in der Welt herum.” Da nahm sie das Mädchen und schloß ihm das Zimmer auf und zeigte ihm die zwölf Särge mit den Hobelspänen und den Totenkißchen. “Diese Särge,” sprach sie, “waren für deine Brüder bestimmt, aber sie sind heimlich fortgegangen, eh du geboren warst,” und erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Da sagte das Mädchen: “Liebe Mutter, weine nicht, ich will gehen und meine Brüder suchen.”
Nun nahm es die zwölf Hemden und ging fort und geradezu in den großen Wald hinein. Es ging den ganzen Tag, und am Abend kam es zu dem verwünschten Häuschen. Da trat es hinein und fand einen jungen Knaben, der fragte: “Wo kommst du her, und wo willst du hin?” und erstaunte, daß sie so schön war, königliche Kleider trug und einen Stern auf der Stirne hatte.
Da antwortete sie: “Ich bin eine Königstochter und suche meine zwölf Brüder und will gehen, so weit der Himmel blau ist, bis ich sie finde.” Sie zeigte ihm auch die zwölf Hemden, die ihnen gehörten. Da sah Benjamin, daß es seine Schwester war, und sprach: “Ich bin Benjamin, dein jüngster Bruder.” Und sie fing an zu weinen vor Freude und Benjamin auch, und sie küßten und herzten einander vor großer Liebe.
Hernach sprach er: “Liebe Schwester, es ist noch ein Vorbehalt da, wir hatten verabredet, daß ein jedes Mädchen, das uns begegnete, sterben sollte, weil wir um ein Mädchen unser Königreich verlassen mußten.” Da sagte sie: “Ich will gerne sterben, wenn ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann.” “Nein,” antwortete er, “du sollst nicht sterben, setze dich unter diese Bütte, bis die elf Brüder kommen, dann will ich schon einig mit ihnen werden.” Also tat sie, und wie es Nacht ward, kamen die andern von der Jagd, und die Mahlzeit war bereit.
Und als sie am Tische saßen und aßen, fragten sie: “Was gib’s Neues?”. Sprach Benjamin: “Wißt ihr nichts?”. “Nein,” antworteten sie. Sprach er weiter: “Ihr seid im Walde gewesen, und ich bin daheim geblieben und weiß doch mehr als ihr.” “So erzähle uns,” riefen sie. Antwortete er: “Versprecht ihr mir auch, daß das erste Mädchen, das uns begegnet, nicht soll getötet werden?”. “Ja,” riefen sie alle, “das soll Gnade haben, erzähl uns nur.” Da sprach er: “Unsere Schwester ist da,” und hub die Bütte auf, und die Königstochter kam hervor in ihren königlichen Kleidern mit dem goldenen Stern auf der Stirne und war so schön, zart und fein. Da freueten sie sich alle, fielen ihr um den Hals und küßten sie und hatten sie vom Herzen lieb.
Nun blieb sie bei Benjamin zu Haus und half ihm in der Arbeit. Die Elfe zogen in den Wald, fingen Gewild, Rehe, Vögel und Täuberchen, damit sie zu essen hatten, und die Schwester und Benjamin sorgten, daß es zubereitet wurde. Sie suchte das Holz zum Kochen und die Kräuter zum Gemüs und stellte die Töpfe ans Feuer, also daß die Mahlzeit immer fertig war, wenn die Elfe kamen. Sie hielt auch sonst Ordnung im Häuschen und deckte die Bettlein hübsch weiß und rein, und die Brüder waren immer zufrieden und lebten in großer Einigkeit mit ihr.
Auf eine Zeit hatten die beiden daheim eine schöne Kost zurechtgemacht, und wie sie nun alle beisammen waren, setzten sie sich, aßen und tranken und waren voller Freude. Es war aber ein kleines Gärtchen an dem verwünschten Häuschen, darin standen zwölf Lilienblumen, die man auch Studenten heißt, nun wollte sie ihren Brüdern ein Vergnügen machen, brach die zwölf Blumen ab und dachte jedem aufs Essen eine zu schenken. Wie sie aber die Blumen abgebrochen hatte, in demselben Augenblick waren die zwölf Brüder in zwölf Raben verwandelt und flogen über den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten war auch verschwunden.
Da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umsah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach: “Mein Kind, was hast du angefangen? Warum hast du die zwölf weißen Blumen nicht stehenlassen? Das waren deine Brüder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt.” Das Mädchen sprach weinend: “Ist denn kein Mittel, sie zu erlösen?”. “Nein,” sagte die Alte, “es ist keins auf der ganzen Welt als eins, das ist aber so schwer, daß du sie damit nicht befreien wirst, denn du mußt sieben Jahre stumm sein, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Brüder werden von dem einen Wort getötet.”
Da sprach das Mädchen in seinem Herzen: Ich weiß gewiß, daß ich meine Brüder erlöse, und ging und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf und spann und sprach nicht und lachte nicht. Nun trug’s sich zu, daß ein Königin dem Walde jagte, der hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Mädchen drauf saß, sprang herum, schrie und bellte hinauf.
Da kam der König herbei und sah die schöne Königstochter mit dem goldenen Stern auf der Stirne und war so entzückt über ihre Schönheit, daß er ihr zurief, ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie herab, setzte sie auf sein Pferd und führte sie heim. Da ward die Hochzeit mit großer Pracht und Freude gefeiert, aber die Braut sprach nicht und lachte nicht.
Als sie ein paar Jahre miteinander vergnügt gelebt hatten, fing die Mutter des Königs, die eine böse Frau war, an, die junge Königin zu verleumden, und sprach zum König: “Es ist ein gemeines Bettelmädchen, das du dir mitgebracht hast, wer weiß, was für gottlose Streiche sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so könnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein böses Gewissen.” Der König wollte zuerst nicht daran glauben, aber die Alte trieb es so lange und beschuldigte sie so viel böser Dinge, daß der König sich endlich überreden ließ und sie zum Tod verurteilte.
Nun wurde im Hof ein großes Feuer angezündet, darin sollte sie verbrannt werden. Und der König stand oben am Fenster und sah mit weinenden Augen zu, weil er sie noch immer so lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war und das Feuer an ihren Kleidern mit roten Zungen leckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren verflossen. Da ließ sich in der Luft ein Geschwirr hören, und zwölf Raben kamen hergezogen und senkten sich nieder. Und wie sie die Erde berührten, waren es ihre zwölf Brüder, die sie erlöst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, löschten die Flammen, machten ihre liebe Schwester frei und küßten und herzten sie.
Nun aber, da sie ihren Mund auftun und reden durfte, erzählte sie dem Könige, warum sie stumm gewesen wäre und niemals gelacht hätte. Der König freute sich, als er hörte, daß sie unschuldig war, und sie lebten nun alle zusammen in Einigkeit bis an ihren Tod.
Die böse Stiefmutter wurde vor Gericht gestellt und in ein Faß gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllt war, und starb eines bösen Todes.
Hänsel und Gretel
Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen.
Wie er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: “Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren da wir für uns selbst nichts mehr haben?” – “Weißt du was, Mann,” antwortete die Frau, “wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.” – “Nein, Frau,” sagte der Mann, “das tue ich nicht. Wie sollt ich‘s übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen! Die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen.” – “Oh, du Narr,” sagte sie, “dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln,” und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte. “Aber die armen Kinder dauern mich doch,” sagte der Mann.
Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht einschlafen können und hatten gehört, was die Stiefmutter zum Vater gesagt hatte. Gretel weinte bittere Tränen und sprach zu Hänsel: “Nun ist‘s um uns geschehen.” – “Still, Gretel,” sprach Hänsel, “gräme dich nicht, ich will uns schon helfen.” Und als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog sein Röcklein an, machte die Untertüre auf und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz hell, und die weißen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und steckte so viele in sein Rocktäschlein, als nur hinein wollten. Dann ging er wieder zurück, sprach zu Gretel: “Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen,” und legte sich wieder in sein Bett.
Als der Tag anbrach, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die beiden Kinder: “Steht auf, ihr Faulenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz holen.” Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach: “Da habt ihr etwas für den Mittag, aber eßt‘s nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts.” Gretel nahm das Brot unter die Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte. Danach machten sie sich alle zusammen auf den Weg nach dem Wald.
Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und tat das wieder und immer wieder. Der Vater sprach: “Hänsel, was guckst du da und bleibst zurück, hab acht und vergiß deine Beine nicht!” – “Ach, Vater,” sagte Hänsel, “ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen.” Die Frau sprach: “Narr, das ist dein Kätzchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint.” Hänsel aber hatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einen von den blanken Kieselsteinen aus seiner Tasche auf den Weg geworfen.
Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: “Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, damit ihr nicht friert.” Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Das Reisig wurde angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte die Frau: “Nun legt euch ans Feuer, ihr Kinder, und ruht euch aus, wir gehen in den Wald und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab.”
Hänsel und Gretel saßen um das Feuer, und als der Mittag kam, aß jedes sein Stücklein Brot. Und weil sie die Schläge der Holzaxt hörten, so glaubten sie, ihr Vater wäre in der Nähe. Es war aber nicht die Holzaxt, es war ein Ast, den er an einen dürren Baum gebunden hatte und den der Wind hin und her schlug. Und als sie so lange gesessen hatten, fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und sie schliefen fest ein. Als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht. Gretel fing an zu weinen und sprach: “Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen?”. Hänsel aber tröstete sie: “Wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden.”
Und als der volle Mond aufgestiegen war, so nahm Hänsel sein Schwesterchern an der Hand und ging den Kieselsteinen nach, die schimmerten wie neugeschlagene Batzen und zeigten ihnen den Weg. Sie gingen die ganze Nacht hindurch und kamen bei anbrechendem Tag wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Tür, und als die Frau aufmachte und sah, daß es Hänsel und Gretel waren, sprach sie: “Ihr bösen Kinder, was habt ihr so lange im Walde geschlafen, wir haben geglaubt, ihr wollt gar nicht wiederkommen.” Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen, daß er sie so allein zurückgelassen hatte.
Nicht lange danach war wieder Not in allen Ecken, und die Kinder hörten, wie die Mutter nachts im Bette zu dem Vater sprach: “Alles ist wieder aufgezehrt, wir haben noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden. Es ist sonst keine Rettung für uns.” Dem Mann fiel‘s schwer aufs Herz, und er dachte: “Es wäre besser, daß du den letzten Bissen mit deinen Kindern teiltest.” Aber die Frau hörte auf nichts, was er sagte, schalt ihn und machte ihm Vorwürfe. Wer A sagt, muß B sagen, und weil er das erstemal nachgegeben hatte, so mußte er es auch zum zweitenmal.
Die Kinder waren aber noch wach gewesen und hatten das Gespräch mitangehört. Als die Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf, wollte hinaus und die Kieselsteine auflesen, wie das vorigemal, aber die Frau hatte die Tür verschlossen, und Hänsel konnte nicht heraus. Aber er tröstete sein Schwesterchen und sprach: “Weine nicht, Gretel, und schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.”
Am frühen Morgen kam die Frau und holte die Kinder aus dem Bette. Sie erhielten ihr Stückchen Brot, das war aber noch kleiner als das vorigemal. Auf dem Wege nach dem Wald bröckelte es Hänsel in der Tasche, stand oft still und warf ein Bröcklein auf die Erde.
“Hänsel, was stehst du und guckst dich um?” sagte der Vater, “geh deiner Wege!” – “Ich sehe nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dache und will mir Ade sagen,” antwortete Hänsel. “Narr,” sagte die Frau, “das ist dein Täubchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein oben scheint.” Hänsel aber warf nach und nach alle Bröcklein auf den Weg.
Die Frau führte die Kinder noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen waren. Da ward wieder ein großes Feuer angemacht, und die Mutter sagte: “Bleibt nur da sitzen, ihr Kinder, und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen. Wir gehen in den Wald und hauen Holz, und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab.” Als es Mittag war, teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auf den Weg gestreut hatte. Dann schliefen sie ein, und der Abend verging, aber niemand kam zu den armen Kindern. Sie erwachten erst in der finstern Nacht, und Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sagte: “Wart nur, Gretel, bis der Mond aufgeht, dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus.” Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröcklein mehr, denn die viel tausend Vögel, die im Walde und im Felde umherfliegen, die hatten sie weggepickt. Hänsel sagte zu Gretel: “Wir werden den Weg schon finden.” Aber sie fanden ihn nicht.
Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen. Und weil sie so müde waren, daß die Beine sie nicht mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.
Nun war‘s schon der dritte Morgen, daß sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Sie fingen wieder an zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald, und wenn nicht bald Hilfe kam, mußten sie verschmachten. Als es Mittag war, sahen sie ein schönes, schneeweißes Vögelein auf einem Ast sitzen, das sang so schön, daß sie stehen blieben und ihm zuhörten. Und als es fertig war, schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her, und sie gingen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen gelangten, auf dessen Dach es sich setzte, und als sie ganz nahe herankamen, so sahen sie, daß das Häuslein aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt, aber die Fenster waren von hellem Zucker. “Da wollen wir uns dranmachen,” sprach Hänsel, “und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen, Gretel, du kannst vom Fenster essen, das schmeckt süß.” Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an die Scheiben und knupperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube heraus:
“Knupper, knupper, Kneischen,
Wer knuppert an meinem Häuschen?”
Die Kinder antworteten:
“Der Wind, der Wind,
Das himmlische Kind,”
und aßen weiter, ohne sich irre machen zu lassen.
Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riß sich ein großes Stück davon herunter, und Gretel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich nieder und tat sich wohl damit. Da ging auf einmal die Türe auf, und eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam herausgeschlichen. Hänsel und Gretel erschraken so gewaltig, daß sie fallen ließen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und sprach: “Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.” Sie faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward ein gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein weiß gedeckt, und Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten, sie wären im Himmel.
Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken‘s, wenn Menschen herankommen. Als Hänsel und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch: “Die habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen!”.
Früh morgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf, und als sie beide so lieblich ruhen sah, mit den vollen roten Backen, so murmelte sie vor sich hin: “Das wird ein guter Bissen werden.” Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein. Er mochte schrein, wie er wollte, es half ihm nichts. Dann ging sie zur Gretel, rüttelte sie wach und rief: “Steh auf, Faulenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas Gutes, der sitzt draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen.” Gretel fing an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie mußte tun, was die böse Hexe verlangte.
Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: “Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist.” Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen und meinte, es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich, daß er gar nicht fett werden wollte.
Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da überkam sie die Ungeduld, und sie wollte nicht länger warten. “Heda, Gretel,” rief sie dem Mädchen zu, “sei flink und trag Wasser! Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen.” Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen mußte, und wie flossen ihm die Tränen über die Backen herunter! “Lieber Gott, hilf uns doch,” rief sie aus, “hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben!” – “Spar nur dein Geplärre,” sagte die Alte, “es hilft dir alles nichts.”
Frühmorgens mußte Gretel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden. “Erst wollen wir backen,” sagte die Alte, “ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet.” Sie stieß das arme Gretel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Feuerflammen schon herausschlugen. “Kriech hinein,” sagte die Hexe, “und sieh zu, ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschieben können.” Und wenn Gretel darin war, wollte sie den Ofen zumachen und Gretel sollte darin braten, und dann wollte sie‘s aufessen.
Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte, und sprach: “Ich weiß nicht, wie ich‘s machen soll. Wie komm ich da hinein?” – “Dumme Gans,” sagte die Alte, “die Öffnung ist groß genug, siehst du wohl, ich könnte selbst hinein,” krabbelte heran und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoß, daß sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich, aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe mußte elendiglich verbrennen.
Gretel aber lief schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein Ställchen und rief: “Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot.” Da sprang Hänsel heraus wie ein Vogel aus dem Käfig, wenn ihm die Türe aufgemacht wird. Wie haben sie sich gefreut, sind sich um den Hals gefallen, sind herumgesprungen und haben sich geküßt! Und weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, so gingen sie in das Haus der Hexe hinein. Da standen in allen Ecken Kästen mit Perlen und Edelsteinen. “Die sind noch besser als Kieselsteine,” sagte Hänsel und steckte in seine Taschen, was hinein wollte. Und Gretel sagte:” Ich will auch etwas mit nach Haus bringen,” und füllte sein Schürzchen voll. “Aber jetzt wollen wir fort,” sagte Hänsel, “damit wir aus dem Hexenwald herauskommen.”
Als sie aber ein paar Stunden gegangen waren, gelangten sie an ein großes Wasser. “Wir können nicht hinüber,” sprach Hänsel, “ich seh keinen Steg und keine Brücke.” – “Hier fährt auch kein Schiffchen,” antwortete Gretel, “aber da schwimmt eine weiße Ente, wenn ich die bitte, so hilft sie uns hinüber.” Da rief sie: