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Da hatte er schon geklopft und die Tür geöffnet. „…Anna!“
Sie ging vom Fenster in die Zimmermitte, nahm einen Teller vom Tisch.
Und er erlebte, dass auch die brennendste Vorstellung noch übertroffen wird von der atmenden, plastischen Wirklichkeit eines Menschen, dessen wechselnde Gesichtszüge durch das Blut mit dem Leben verbunden und selbst das Leben sind; dessen Gestalt sich vom Hintergrunde abhebt; dessen Bewegungen in den umgebenden Raum schneiden.
Karl wurde von Hautschauern überrieselt. Aus seinen Augen brach die Freude. „Anna! Anna! Erkennst du mich?“ Das war keine Lüge.
Angesichts dieser Freude verging ihre Angst. Im Gefühl dieser Erleichterung fragte sie neugierig und frei:“Wer sind Sie?“
Anna trug ein ausgewaschenes, blaues Grobleinenkleid, das über den Hüften und hohen Brüsten von der Sonne heller gebleicht war. Ihr einfaches, solide gefügtes Gesicht hätte der Natur als Vorbild dienen können für die Frauen mit Kraft, Wärme und unverstelltem Gemüt.
Wie beim Friseur legte er sein Bündel auf den abgenutzten Stuhl und den Hut darauf. „Die Stühle muss ich ablaugen und frisch streichen. Ich hab’s dir schon damals gesagt, dass die Farbe nicht lange halten wird.“
Anna erinnerte sich sofort an diesen Ausspruch ihres Mannes. Verwirrung flog über sie hin.
„Hast mich also nicht erkannt!“
„Wer sind Sie denn?“
Seine Wangen wurden weiß, auch die Lippen. „Richard.“
Da trat sie zurück, Hand auf den Tisch gestützt. „Mein Mann? … Sie sind doch nicht mein Mann!“
„Anna! Er machte, vor Erregung plötzlich knieschwach, zwei Schritte und setzte sich. „Anna!“
Sein Ton berührte sie.
Gleich einer Frau, die selbst in der Stunde, da ihr der schwerste Schicksalsschlag widerfahren ist, die kleinen Täglichkeiten weiter verrichtet, ging sie zum Gaskocher, hängte das Salzgefäß auf, sammelte die drei gebrauchten Streichhölzer und stand sekundenlang reglos, Kopf gesenkt, in genau derselben Haltung, wie Karl sie kurz vorher mit dem inneren Blick hatte stehen sehen.
Sie wandte sich in einer Art um, als ob sie in einem anderen Zimmer gewesen und wieder in die Wohnküche zurückgekehrt wäre. Rote Flecke waren entstanden auf den milchigen Schläfen.
Ihr reines, unverstelltes Wesen erlaubte ihr nicht, selbst gegen besseres Wissen einem Menschen, der in solchem Tone sprach, ohne weiteres den Glauben ganz und gar zu versagen. Sie blickte wie eine schwer angegriffene Frau, die sich nicht wehren kann.
„Nun“, sagte er, „nun, Anna, glaubst mir nicht? … Und ich seh’ doch auf der Welt nur dich.“ Durch sein Lächeln zog der warme Strom des Lebens mit allem Ungemach und allem Glück des Lebens, und die Lüge wurde ihm zur Wahrheit, als er sagte:“Bist meine Frau.“
Anna wusste, dass er nicht die Wahrheit sprach, und empfand zugleich in seinen Worten die Wahrhaftigkeit seines Gefühls. Hände auf der Brust übereinandergelegt, stand sie da, fassungslos, weil der fremde Mann, der dort vorgebeugt auf dem Stuhle saß, ihrem Gefühl nicht unbedingt fremd war.
Sie ging zum Schrank. „Heiliger Himmel! Warum sagen Sie das!“
Sie wühlte in der Schublade und reichte Karl eine vergilbte Postkarte. „So lang schon! Vier Jahre schon!“ Sie legte die Hände sofort wieder auf der Brust übereinander.
Karl las die Mitteilung der Militärbehörde, dass Richard am 4. September 1914 gefallen sei, wandte die Karte um und wieder um, las noch einmal und lächelte. „Das stimmt doch nicht. Also, Anna, das stimmt nicht.“
Er griff nach ihrer Hand. „Was die da schreiben! … Kannst mir schon glauben.“ Er war so bewegt und gelöst vor Freude, dass sie ihre Hand erst nach Sekunden zurückziehen konnte, Schrecken im Gesicht und zugleich die Wahnsinnshoffnung einer Frau, die kurz nach dem Tode ihres Lebensgefährten glauben kann, der Geliebte werde, wie immer, jetzt zur Tür hereinkommen.
Sie versuchte auszuweichen. „Vielleicht haben Sie Hunger!“ Und dachte im nächsten Augenblick: „Ich schick’ ihn fort. Ich rufe den Nachbar zu Hilfe.“ Sie schnitt dabei Brot, legte Messer und Gabel zurecht und Wurst auf den Teller. Ob sie den Apfel schälen solle?
„Das weißt du doch noch.“
Gedankenschnell stieg ihr das Blut bis in die Stirn. Sie schälte den Apfel, vierteilte ihn, Kerne heraus, geschickt, so nebenher.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass eine Frau, die er liebte, für ihn etwas tat.
Als sie zufällig aufblickte und seine Gemütsbewegung sah, entstand und verzuckte ein kaum bemerkbar flüchtiges Lächeln in dem tiefen Ernst ihres Gesichtes. Sie rückte ihm den Teller noch ein klein wenig näher.
„Ist die alte Gabel nicht mehr da? Die dreizinkige, wo die eine Zinke etwas kürzer ist!“
Da ging sie wie im Traum zur Schublade und brachte ihm die Gabel.
„Das ist sie“, sagte er freudig und blickte empor zu Anna, die sich traumbefangen niederließ.
Sie saßen unter dem Licht, durch vier Wände abgeschlossen von der Außenwelt. Der Glühkörper summte. Rechts stand das Bett, gegenüber der Küchenschrank und an der Rückwand, in die Wohnküche hinein, die alte Ottomane. Das kleine Fenster war quadratisch. Es roch nach eingemachten Früchten und kühl nach Mehl. Die sechs Fruchtgläser standen schmückend auf dem Wandbrettchen.
Wenn zwei jahrelang ununterbrochen zusammen sind, nimmt jeder vom anderen kleine Eigentümlichkeiten an, Bewegungen, Worte. Betroffen blickte Anna auf den essenden Mann, weil auch er das Brot in Längsstreifen schnitt.
Karl und sein Verlangen, sein Ton, sein Gefühl waren wie das ersehnte Leben in ihre jahrelange Vereinsamung eingebrochen und hatten Gefühle entbunden, die in scharfem Widerstreit lagen mit ihrem Verstand. In den Sekunden, da sie nicht dachte, glaubte sie.
„Und am Montag such’ ich Arbeit … Gut?“
„Dann müsste ich nicht mehr in die Fabrik. Da könnte alles wieder sein wie früher und vielleicht noch schöner“, dachte sie. „… Warum sagen Sie, Sie seien mein Mann, warum sagen Sie das?“
„Aber Anna! Anna!“
„Ich hab’ ihn doch so gern gehabt. Er war gut zu mir. Immer gut! Das konnte ich nicht vergessen. Ich konnte ihn nicht vergessen.“
Die Eifersuchtswelle nahm ihm sein Selbstvertrauen. Und erst jetzt begann er bewusst zu lügen, aus Angst, die Frau, die er schon gewonnen zu haben glaubte, wieder zu verlieren.
Er schob den Teller zurück, sah umher. „Die Fenstervorhängchen sind neu? Wir hatten doch gelbe gekauft damals. Der Verkäufer sagte:“Das ist eine Gelegenheit.“ Erinnerst du dich?“
„Ich erinnere mich. Heiliger Himmel!“
„Wie steht’s mit den Abschlagzahlungen, Anna?“
„Ich habe alles abgezahlt in den vier Jahren.“
Er zupfte seine Augenbraue, wie andere den Schnurrbart zupfen, eine Geste, die er ebenfalls von Richard übernommen hatte und die Anna erschüttert beobachtete.
„Da könnten wir also ohne allzu große Sorgen neu anfangen … Jetzt wird’s gut, Anna. Sieh mich an … Bitte, sieh mich an, Anna.“
Ihr Kopf brach nieder auf die verschränkten Arme.
„Musst dich halt zuerst gewöhnen.“ Unter seiner Hand, die immerzu und zärtlich über ihr Haar strich, beruhigte sich allmählich der zuckende Körper.
Sie erhob sich. Ihre Züge waren weich und dabei gefestigt. Sie räumte den Tisch ab.
Karl stand still in der Ecke und hielt den Kopf gesenkt.
Ein falsches Wort, ein falscher Ton hätten in dieser Minute trennend wie ein Messerschnitt gewirkt.
Aus ihrem ganzen Gebaren – wie sie die kleine Tischordnung beseitigte, ihn manchmal ungesucht mit einem Blick streifte, das Fenster schloss und den Nachtvorhang zuzog – sah er, dass sie sich entschlossen hatte, zu dem Ereignis Stellung zu nehmen, zu sehen, was dabei herauskomme.
Sie beantwortete willig seine Fragen – dass sie in einer Kartonagefabrik arbeite, wieviel sie verdiene, zupfte dabei noch von den zwei Geranienstöcken die verwelkten Blüten ab.
Und dann war nichts mehr zu tun. Sie war fertig zum Schlafengehen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen das Fenstersims.
Es entstand eine Spannung wie zwischen einem Liebespaar, das noch nicht durch Vertrautheit verbunden und zufällig allein in ein Zimmer geraten ist.
„Ich besitze genau fünfunddreißig Pfennig“, sagte er mit plötzlich ausbrechender Fröhlichkeit.
Ihr Finger deutete. „Sie könnten dort auf der Ottomane schlafen.“ Die Hand stützte sich sofort wieder auf das Sims.
Als er den Blick von der Ottomane weg ihr wieder zuwandte, stand sie schon vor dem Wäschekasten. Sie wählte das schönste Leintuch, überzog ein Kissen aus ihrem Bett. „Am besten, wir rücken sie an die Wand.“
Anna beugte sich hinab, das Bettzeug aufzubreiten, genauso wie er sie gesehen hatte, liegend in der Steppe, Tausende Kilometer entfernt.
„Ich lösche aus“, sagte sie, als es schon finster geworden war.
Beim Entkleiden verhielt er sich einmal reglos und horchte auf das leise Geräusch. Auch sie verharrte sofort reglos, Bein übergeschlagen, beide Hände am schon herabgestreiften Strumpf.
Als er lag, Hände unterm Kopf, Augen horchend offen, und eine Weile gar nichts vernahm, fragte er:“Liegst du schon?“
Er fragte noch einmal.
An ihrem Ja fühlte er, dass auch sie überwach die Augen offenhielt.
Das verschleierte Tosen der Großstadt, unterbaut von dunklen Hupfentönen fern und nah, umstand die tiefe Stille des Zimmers.
Zurückscheuend vor der Intimität des Geräusches, rührte Anna sich nicht im Bett. Erst als sie seinen gleichmäßigen Atem vernahm, wechselte sie vorsichtig ihre schon unbequem gewesene Lage.
Der Heimgekehrte hatte seit Wochen nicht mehr zwischen reinen Leintüchern geschlafen. Seine Beinmuskeln zuckten von Überanstrengung. Stromufer, glitzernde, weite Wasserflächen, Felsabhänge, dunkler Wald, die endlose weiße Landstraße, Fernblicke und wuchtig nahe Einzelheiten zuckten durch ihn durch wie ein in tausend Stückchen zerschnittener und wahllos wieder zusammengesetzter Naturfilm.
Da tat sich, tief vertraut dem Träumenden, die heimatliche Landschaft auf. Er geht, zehnjährig, wieder wie damals mit dem Vater aus der Stadt hinaus, querfeldein dem Dorfe zu, das zwischen mild gewellten Hügeln in der Sonntagsmorgenfrische liegt.
Sie kehren ein im Dorfwirtshaus, sitzen unter einem alten Baume. Daneben ist der blumenbunte Garten. Draußen geht wieder der alte Bauer vorüber durch den Sonntagsfrieden der Dorfstraße. Er grüßt.
Der Vater scherzt mit der Wirtstochter, fasst sie, wie damals, am Arme.
„Du darfst sie nicht anfassen“, sagt Karl, „das ist ja Anna.“
Der Vater zieht sofort die Hand zurück.
Da legt die Wirtstochter den Arm um Karls Schulter und schiebt ihm mütterlich das hohe Milchglas zu.
Ruhevolles Glücksgefühl der Geborgenheit hob ihn aus dem Traume.
Anna schlief.
Ergriffen plötzlich von dem Gefühle teuerster Verantwortung, lauschte er dem Mysterium eines im Schlafe atmenden Menschen. Dankbarkeit überwältigte ihn.
Übersetzungstips:
An einer Liebschaft lag ihm nicht – Его влекла к ней не страсть; Ему не нужна была просто мимолетная связь
der Heimgekehrte – солдат, вернувшийся с войны
Karl wurde von Hautschauern überrieselt – Карла охватила дрожь
eingemachte Früchte – варенье; консервированные фрукты
das Brot in Längsstreifen schneiden – разрезать хлеб на длинные/продольные кусочки
Die Eifersuchtswelle nahm ihm sein Selbstvertrauen – Волна ревности лишила его самообладания и уверенности
Das ist eine Gelegenheit! – Это на редкость удачный случай! Вам повезло!
III
Richard sitzt auf dem Feldbett in der Wellblechhütte. „Also horch!“ Er spitzt den Mund zu und macht Karl vor, wie zu Hause der Gaskocher pfeift.
Der Eisenbahnzug saust schwarz in die Ebene hinein, schiebt sich am Horizont strichdünn durch das Grün: Karl lauscht auf das langgezogene, ferne, kaum vernehmbar ferne Pfeifen der Lokomotive, das aus Richards behutsam zugespitztem Mund tönt, und öffnet die Augen.
Morgensonne lag in der Wohnküche. Auf dem Gaskocher, dessen verstopfter Brenner monoton pfiff, stand ein Aluminiumtopf voll dampfenden Kaffeewassers. Annas Bett war leer, die Decke zurückgeschlagen.
„Vier? Sie haben doch immer nur zwei.“ Der Bäcker grub in dem Berg nach noch zwei braunen Semmeln, wie Anna sie liebte. „Und jetzt auf einmal vier?“