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Mein Leben und Streben
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Mein Leben und Streben

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Mein Leben und Streben
Karl May

Karl May

MEIN LEBEN UND STREBEN

Wenn dich die Welt aus ihren Toren st??t,

So gehe ruhig fort, und la? das Klagen.

Sie hat durch die Versto?ung dich erl?st

Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen.

    Karl May, »Im Reiche des silbernen L?wen«

I. Das M?rchen von Sitara

Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang ?ber die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara hei?t. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet eben »Stern«.

Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder weniger. Seine Oberfl?che besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber w?hrend man auf der Erde bekanntlich f?nf Erd- oder Weltteile z?hlt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise gegliedert. Es h?ngt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, s?mpfereiches Niederland und ein der Sonne k?hn entgegenstrebendes Hochland zerf?llt, welche beide durch einen schm?leren, steil aufw?rtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und rei?enden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden St?rmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard hei?t Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das r?cksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was nicht zum eigenen Selbst geh?rt oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbsts?chtigen Daseinsformen und, was sich auf seine h?heren Bewohner bezieht, das Land der Gewalt-und Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und sch?n im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Flei?es, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni hei?t Genius, wohlt?tiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach H?herem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufw?rtssteigen, das flei?ige Trachten nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Gl?cke des N?chsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe bed?rfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufw?rtsstrebenden Humanit?t und N?chstenliebe, das einst verhei?ene Land der Edelmenschen.

Tief unten herrscht ?ber Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, selbsts?chtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger K?rze lautet: »Du sollst der Teufel deines N?chstensein, damit du dir selbst zum Engel werdest!« Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit ?ber Dschinnistan eine Dynastie gro?herziger, echt k?niglich denkender F?rsten, deren oberstes Gesetz in begl?ckender K?rze lautet: »Du sollst der Engel deines N?chsten sein, damit du nicht dir selbst zum Teufel werdest!«

Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein jeder B?rger und eine jede B?rgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein. Also in Dschinnistan Gl?ck und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach Befreiung aus dem Elende dieser H?lle! Ist es da ein Wunder, da? da unten im Tieflande eine immer gr??er werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Da? die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu befreien und zu erl?sen suchen? Millionen und Abermillionen f?hlen sich in den S?mpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie w?rden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren k?nnen. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch die M?chtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharis?er, die S?nder brauchen, um gerecht erscheinen zu k?nnen, die Vielbesitzenden, denen arme Leute n?tig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter haben m?ssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was w?rde aus allen diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr g?be? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die sch?rfsten Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande der N?chstenliebe und der Humanit?t, nach Dschinnistan zu fl?chten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird ergriffen und nach der »Geisterschmiede« geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen f?hlt, Abbitte leistend in das verha?te Joch zur?ckzukehren.

Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt M?rdistan, jener steil aufw?rtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und beschwerliche Weg nach oben geht. M?rd ist ein persisches Wort; es bedeutet »Mann«. M?rdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur »M?nner« wagen d?rfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gef?hrlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der »Wald von Kulub«. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen Wortes »Herz«. Also in den Tiefen des Herzens lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in »Babel und Bibel,« Seite 78 hei?t:

»Zu M?rdistan, im Walde von Kulub,
Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.
Da schmieden Geister?«
»Nein, man schmiedet sie!
Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
Wenn Wetter leuchten, Tr?nenfluten st?rzen.
Der Ha? wirft sich in grimmiger Lust auf sie.
Der Neid schl?gt tief ins Fleisch die Krallen ein.
Die Reue schwitzt und jammert am Gebl?se.
Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im ru?igen Gesicht, die Hand am Hammer.
Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
Man st??t dich in den Brand; die B?lge knarren.
Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
Und Alles, was du hast und was du bist,
Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
Gedanken und Gef?hle, Alles, Alles
Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
Bis in die wei?e Glut – — —«
»Allah, Allah!«
»Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!
Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
Und mu? dann wieder eingeschmolzen werden.
Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,
Die in der Faust der Parakleten funkelt.
Sei also still!
Man rei?t dich aus dem Feuer – —
Man wirft dich auf den Ambo? – — h?lt dich fest.
Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.
Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
Er spuckt sich in die F?uste, greift dann zu.
Hebt beiderh?ndig hoch den Riesenhammer – — —
Die Schl?ge fallen. Jeder ist ein Mord,
Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
Die Fetzen fliegen hei? nach allen Seiten.
Dein Ich wird d?nner, kleiner, immer kleiner,
Und dennoch mu?t du wieder in das Feuer – —
Und wieder – — immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der H?llenqual
Und aus dem Dunst von Ru? und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenl?chelt.
Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
Die kreischt und knirscht und fri?t von dir hinweg
Was noch – — —«
»Halt ein! Es ist genug!«
»Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
Der schraubt sich tief – — —«
»Sei still! Um Gottes willen!«
u. s. w. u. s. w.

So also sieht es in M?rdistan aus, und so also geht es im Innern der »Geisterschmiede von Kulub« zu! Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage, da? die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Gl?ck hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die H?nde f?llt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes Elend geschleudert, je h?her die Aufgabe ist, die ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten einen m?glichst verkommenen, verlorenen Menschen zu machen. Alles Str?uben und Aufb?umen hilft nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es ihm gel?nge, aus Ardistan zu entkommen, so w?rde er doch in M?rdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede geschleppt, um so lange gefoltert und gequ?lt zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben.

Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so gro? und so unersch?pflich, da? sie selbst die st?rkste Pein der Geisterschmiede ertr?gt und dem Schmiede und seinen Gesellen »aus dem Dunst von Ru? und Hammerschlag ruhig dankbar froh entgegenl?chelt«. Einer solchen Himmelstochter kann selbst dieser gr??te Schmerz nichts anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer vernichtet, sondern gel?utert und gest?hlt. Und sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan geh?rt. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines N?chsten ist. – — —

II. Meine Kindheit

Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Gro?v?ter waren beide t?dlich verungl?ckt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot zu holen. Die Nacht ?berraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegest?ber vom Wege ab und st?rzte in die damals steile Schlucht des »Kr?henholzes«, aus der er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht f?r mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verh?ngnisvolle Zeit gewesen.

Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr ?rmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberst?dtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas gr??eren Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater, meine Mutter, die beiden Gro?m?tter, vier Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte f?r die Leute und spann Watte. Es kam vor, da? sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei Dreierbr?tchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie ?u?erst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns f?nf Kinder. Sie war eine gute, flei?ige, schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschw?che. Die eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man gegenw?rtig diskret als »Unterern?hrung« zu bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Gro?mutter, die Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine M?rtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich flei?ig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit f?r andere, vielleicht noch ?rmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund geh?rt. Sie war ein Segen f?r jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen f?r uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig r?hrend, beim kleinen, qualmenden Oell?mpchen sa? und sich unbeachtet w?hnte, da kam es vor, da? ihr eine Tr?ne in das Auge trat und, um schneller, als sie gekommen war, zu verschwinden, ihr ?ber die Wange lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort verwischt.

Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Ueberma? im Zorn, unf?hig, sich zu beherrschen. Er besa? hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der gro?en Armut wegen. Er hatte nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Flei?e flie?end lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besa? zu allem, was n?tig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, das machten seine H?nde nach. Obgleich nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so ?bel. Als ich eine Geige haben mu?te und er kein Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem fehlte es zwar ein wenig an sch?ner Schweifung und Eleganz, aber er gen?gte vollst?ndig, seine Bestimmung zu erf?llen. Vater war gern flei?ig, doch befand sich sein Flei? stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die ?brigen vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. W?hrend dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erz?rnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterlie?, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte »birkene Hans«, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Z?chtigung im gro?en »Ofentopfe« einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden vor?ber waren, so hatten wir nichts mehr zu bef?rchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele l?chelte uns an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das Gef?hl, da? wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den »Hans« so lange, bis Vater nicht mehr konnte. Unsere ?lteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes, heiteres, flei?iges M?dchen, wurde sogar noch als Braut mit Ohrfeigen gez?chtigt, weil sie von einem Spaziergange mit ihrem Br?utigam etwas sp?ter nach Hause kam, als ihr erlaubt worden war.

Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, da? durch die Art und Weise, in der man mich umst?rmt, jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich schreibe dieses Buch auch nicht f?r meine Freunde, denn die kennen, verstehen und begreifen mich, so da? ich nicht erst n?tig habe, ihnen Aufkl?rung ?ber mich zu geben. Ich schreibe es vielmehr nur um meiner selbst willen, um ?ber mich klar zu werden und mir ?ber das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht einf?llt, mir ihre S?nden einzugestehen, sondern ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird f?r mich ma?gebend sein. Es sind f?r mich also nicht gew?hnliche, sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur f?r dieses, sondern auch f?r jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir wahrlich, wahrlich gleichg?ltig sein, was man in diesem oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz andere, in die richtigen H?nde, n?mlich in die H?nde des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da l??t sich nichts verschweigen und nichts besch?nigen. Da mu? man Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch noch so piet?tlos und tue es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck »Karl May-Problem« erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen denen l?sen, welche meine B?cher nicht gelesen oder nicht begriffen haben und trotzdem ?ber sie urteilen. Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem gro?en, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualit?t transponiert. Und genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu l?sen ist, ist auch das Karl May-Problem zu l?sen, anders nicht! Wer sich unf?hig zeigt, das Karl May-R?tsel in befriedigender, humaner Weise zu l?sen, der mag um Gottes Willen die schwachen H?nde und die unzureichenden Gedanken davon lassen, ?ber sich selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der Schl?ssel zu all diesen R?tseln ist l?ngst vorhanden. Die christliche Kirche nennt ihn »Erbs?nde«. Die Vorv?ter und Vorm?tter kennen, hei?t, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der Humanit?t, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu k?nnen. Den Einflu? der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine Erl?sung f?r beide Teile, und so habe auch ich die meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag man dies f?r unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige zu tun. – —

Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock F?nfzigpfenniger, und im f?nften und letzten fanden sich zehn alte Schafh?uselsechser, zehn Achtgroschenst?cke, f?nf Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Verm?gen! Das erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, daf?r aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern H?usern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Gro?mutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haust?r gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten W?scherolle, die f?r zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. Es gab gl?ckliche Sonnabende, an denen diese Rolle zehn, zw?lf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das f?rderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von M?usen und einigen gr??eren Nagetieren, die eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. Einmal standen einige S?cke Kartoffeln darin, die geh?rten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen Keller hatte. Gro?mutter meinte, da? es viel besser w?re, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns geh?rten. Der Hof war grad so gro?, da? wir f?nf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu sto?en. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassert?mpel gab, den wir als »Teich« bezeichneten. Der Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erk?ltet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn das Eine sich erk?ltete, fingen auch alle Andern an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum bl?hte immer sehr sch?n und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wu?ten, da? die Aepfel gleich nach der Bl?te am besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Gro?mutter a? sie gar zu gern. Sie wurden t?glich gez?hlt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den »Teich« betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht mit Fischen, sondern mit Fr?schen. Die kannten wir alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen zehn und f?nfzehn. Wir f?tterten sie mit Regenw?rmern, Fliegen, K?fern und allerlei andern guten Dingen, die wir aus gastronomischen oder ?sthetischen Gr?nden nicht selbst genie?en konnten, und sie waren uns auch herzlich dankbar daf?r. Sie kannten uns. Sie kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen n?herten. Einige lie?en sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr ?ber ihre Zither freuen als wir ?ber unsere Fr?sche. Wir wu?ten ganz genau, welcher es war, der sich h?ren le? [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so sprangen wir aus den Federn und ?ffneten die Fenster, um mitzuquaken, bis Mutter oder Gro?mutter kam und uns dahin zur?ckbrachte, wohin wir jetzt geh?rten. Leider aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das St?dtchen, um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte ?berall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie gef?hllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern sch?nen T?mpel sah, die H?nde ?ber dem Kopf zusammen und erkl?rte, da? dieser Pest- und Cholerapfuhl sofort verschwinden m?sse. Am n?chsten Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn Stadtrichters Layritz des Inhaltes, da? binnen jetzt und drei Tagen der T?mpel auszuf?llen und die Froschkolonie zu t?ten sei, bei f?nfzehn »Guten Groschen« Strafe. Wir Kinder waren emp?rt. Unsere Fr?sche umbringen! Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen w?re, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen, wurde ausgef?hrt. Der T?mpel wurde so weit ausgesch?pft, da? wir die Fr?sche fassen konnten. Sie wurden in den gro?en Deckelkorb getan und dann hinaus hinter das Schie?haus nach dem gro?en Zechenteich getragen, Gro?mutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel Tr?nen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gef?llt worden sind, das ist jetzt, nach ?ber sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch wei? ich noch ganz bestimmt, da? Gro?mutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn Jahren ein dreimal gr??eres Haus mit einem f?nfmal gr??eren Garten erben, in dem es einen zehnmal gr??eren Teich mit zwanzigmal gr??eren Fr?schen gebe. Das brachte in unserer Stimmung eine ebenso pl?tzliche wie angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der Gro?mutter und dem leeren Deckelkorb vergn?gt nach Hause.

Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten k?rperlichen Fehler behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kr?ftige, gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine B?swilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten mu?. Da? ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein ?rtlichen Verh?ltnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald ich in die Hand eines t?chtigen Arztes kam, kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein h?chst kr?ftiger und widerstandsf?higer Junge, der stark genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich ?ber mich selbst berichte, habe ich noch f?r einige Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.

Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, da? wir eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem ma?los war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Flei?e, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein konnte, weiter zu sparen und das H?uschen von Schulden frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, pl?tzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensf?hrung ?bergehen zu d?rfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. W?hrend er, nicht schlafen k?nnend, im Bette lag und dar?ber nachdachte, was zu ergreifen sei, h?rte er die Ratten ?ber sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschlu?, die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte Taubenh?ndler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das geringste verstand. Er hatte geh?rt, da? da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, da? er auch ohne die n?tigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, jeden H?ndler zu ?berlisten. Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft.

Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu bewerkstelligen. Mutter mu?te einen ihrer Beutel opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an ihnen fanden. Am meisten Vergn?gen machte es uns, wenn wir beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider ver?nderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure »Blaustriche« gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige Tage sp?ter lagen die blauen Federn am Boden: sie waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren »Blaustriche« entpuppten sich als ganz wertlose Feldwei?linge. Vater erwarb einen sehr sch?nen, jungen, grauen Trommelt?uberich f?r einen Taler f?nfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, da? der T?uberich altersblind war. Er ging nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und ?hnliche F?lle mehrten sich. Die Folge davon war, da? Mutter noch einen dritten Beutel opfern mu?te, um den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab sich auch Vater gro?e M?he. Er feierte nicht. Er besuchte alle Markte, alle Gasth?fe und Schankwirtschaften, um zu kaufen oder K?ufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er »halb geschenkt« erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er brachte immerfort K?se, Eier und Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde sie nur mit M?he und Verlusten wieder los. Dieses unst?te [sic], unn?tzliche Leben f?rderte nicht, sondern fra? das Gl?ck des Hauses; es fra? sogar auch noch die ?brigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie h?rmte sich und hielt still, bis es S?nde gewesen w?re, weiter zu tragen. Da fa?te sie einen Entschlu? und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle viel, viel vern?nftiger als damals gegen unsere Fr?sche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, da? sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten m?sse. Sie verriet ihm, da? sie au?er den bisher erw?hnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr Stadtrichter solle doch die G?te haben, ihr zu sagen, wie sie dieses Geld anlegen k?nne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er ?ffnete ihn und z?hlte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob gro?es Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: »Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe f?r Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine j?ngere. Sie gehen nach Dresden und werden f?r dieses Ihr Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zur?ck, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so k?nnen wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich h?tte mit ihm zu reden!«

Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zur?ck, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. W?hrend ihrer Abwesenheit f?hrte Vater mit Gro?mutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit f?r uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir Kinder lagen alle krank. Gro?mutter tat fast ?ber Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen unf?rmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollst?ndig verschwunden. Der Arzt mu?te durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einfl??en zu k?nnen. Sie lebt heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.

Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz vor?ber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden gro?es Gl?ck. Sie hatte sich durch ihren Flei? und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erz?hlt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz ?berraschendem Erfolge. Ich lernte sehen und kehrte, auch im ?brigen gesundend, heim. Aber das Alles hatte gro?e, gro?e Opfer gefordert, freilich nur f?r unsere armen Verh?ltnisse gro?. Wir mu?ten um all der n?tigen Ausgaben willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das N?tigste zu decken. Wir zogen zur Miete. – —

Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und gr??ten Einflu? auf meine Entwicklung ausge?bt hat. W?hrend die Mutter unserer Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die »Hohensteiner Gro?mutter« genannt wurde, stammte die Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mu?te sich darum als »Ernsttaler Gro?mutter« bezeichnen lassen. Diese Letztere war ein ganz eigenartiges, tiefgr?ndiges, edles und, fast m?chte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von Jugend auf ein herzliebes, begl?ckendes R?tsel, aus dessen Tiefen ich sch?pfen durfte, ohne es jemals aussch?pfen zu k?nnen. Woher hatte sie das Alles? Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige Psychologie wei?, was das zu bedeuten hat. Sie war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erl?sung sehnenden Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter fr?h verloren und einen Vater zu ern?hren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Tr?nen r?hrender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle Gr?ber, und sie bedachte f?r sich und ihren Vater nur den einen Weg, aus ihrer d?rftigen Sterbekammer im Sarge nach dem Kirchhofe hin?ber. Sie hatte einen Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater geh?ren, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb ihr treu.

Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch ?lteren B?chern. Das waren in Leder gebundene Erbst?cke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch weltlich. Es ging die Sage, da? es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese B?cher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifr?ckchen angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die B?cher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken fanden, die besser, sch?ner und auch richtiger zu sein schienen als die fr?heren. Am meisten gelesen wurde ein ziemlich gro?er und schon sehr abgegriffener Band, dessen Titel lautete:

Der Hakawati

d.i.

der M?rchenerz?hler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,

Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,

explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung

und Fig?rlich seyn

von

Christianus Kretzschmann

der aus Germania war.

Gedruckt von Wilhelmus Candidus

A. D: M. D. C. V.

~ ~ ~

Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller orientalischer M?rchen, die sich bisher in keiner andern M?rchensammlung befanden. Gro?mutter kannte diese M?rchen alle. Sie erz?hlte sie gew?hnlich w?rtlich gleichlautend; aber in gewissen F?llen, in denen sie es f?r n?tig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen, aus denen zu ersehen war, da? sie den Geist dessen, was sie erz?hlte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken lie?. Ihr Lieblingsm?rchen war das M?rchen von Sitara; es wurde sp?ter auch das meinige, weil es die Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.

Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutst?rzen. Die Pflege war so anstrengend, da? auch die Tochter dem Tode nahe kam, doch ?berstand sie es. Nach verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und f?hrte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich gl?cklich! Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, welche sp?ter einen schweren Fall tat und an den Folgen desselben verkr?ppelte. Man sieht, da? es an Heimsuchungen, oder sagen wir Pr?fungen, bei uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, da? ich nichts verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das H??liche sch?n zu malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes trat jenes ungl?ckliche Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erz?hlte. Der brave junge Mann st?rzte des Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und erfror. Gro?mutter hatte mit ihren beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach langer Zeit der Qual, da? und in welch schrecklicher Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles verw?stet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger w?tete. Ein armer Handwerksbursche kam, um zu betteln. Gro?mutter konnte ihm nichts geben. Sie hatte f?r sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach ?ber einer Stunde wieder. Er sch?ttete vor ihr aus, was er bekommen hatte, St?cke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlr?be, einen kleinen, sehr ehrw?rdigen K?se, eine D?te [sic] Mehl, eine D?te [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; Einer aber kennt ihn gewi? und wird es ihm nicht vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberf?rster, den man als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er w?nschte Gro?mutter zur F?hrung seiner Wirtschaft zu haben. Sie h?tte in dieser Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erkl?rte aber, sich von ihren eigenen Kindern unm?glich trennen zu k?nnen, selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, h?tte. Der brave Mann besann sich nicht lange. Er erkl?rte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm ??en; sie w?rden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der h?chsten Not!

Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der besseren Ern?hrung. Der Oberf?rster sah, wie Gro?mutter sich abm?hte, ihm dankbar zu sein und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast ?ber ihre Kraft, f?hlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, da? er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gew?hrte, was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er a? mit seiner Schwiegermutter allein. Gro?mutter war nur Dienstbote, doch a? sie nicht in der Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber nach l?ngerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die gro?e Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends aus ihren B?chern vorzulesen, und gestattete ihr, dann auch in seine eigenen B?cher zu schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so n?tzliche B?cher!

Den Kindern wurde in vern?nftiger Weise Freiheit gew?hrt. Sie tollten im Walde herum und holten sich kr?ftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der j?ngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und er pa?te auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald wu?te er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und W?rmer, aller K?fer und Schmetterlinge, die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese Wi?begierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des Oberf?rsters, der sich sogar herbeilie?, den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich mu? das erw?hnen, um Sp?teres erkl?rlich zu machen. Der nachherige R?ckfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen Jugendzeit in die fr?here Not und Erb?rmlichkeit konnte auf den Knaben doch nicht gl?cklich wirken.

In dieser Zeit war es, da? Gro?mutter w?hrend des Mittagessens pl?tzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Gro?mutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. Sie sah und h?rte alles, das Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen wurde. Sie sah und h?rte den Tischler, welcher kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am Begr?bnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die Leichentr?ger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei N?chte lang hatte sie sich alle m?gliche M?he gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, da? sie noch lebe – — vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung m?glich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung mehr. Sie erz?hlte sp?ter, da? sie sich in ihrer f?rchterlichen Todesangst ganz unmenschliche M?he gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten Male zu ergreifen. So tat auch das j?ngste M?dchen des Oberf?rsters, welches besonders sehr an Gro?mutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: »Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!« Und richtig, man sah, da? die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd ?ffnete und schlo?. Von einem Begr?bnisse konnte nun selbstverst?ndlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden andere Aerzte geholt; Gro?mutter war gerettet. Aber von da an war ihre Lebensf?hrung noch ernster und erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen unverge?lichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. Es mu? schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten wirklichen Tod nur f?r Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erkl?ren und zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu verdanken, da? ich ?berhaupt nur an das Leben glaube, nicht aber an den Tod.

Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz ?berwunden, als Gro?mutter infolge der Versetzung und Wiederverheiratung des Oberf?rsters mit ihren beiden Kindern in ihre fr?heren Verh?ltnisse zur?ckgesto?en wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zur?ck und hatte nun wieder jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver Mann, der Vogel hie? und auch Weber war, hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie m?sse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe. Er starb und hinterlie? ihr alles, was er besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven, flei?igen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr M?dchen zu einer N?hterin und ihren Knaben zu einem Weber, der ihn von fr?h bis abends am Spulrad besch?ftigte. Denn da? der Junge nun weiter nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich w?hrend seines Aufenthaltes im Forsthause vollst?ndig vergangen; er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewi? erkl?rlich, da? er sp?ter, nachdem er in dieses ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als J?ngling seine Pflicht. Er war flei?ig und wurde ein t?chtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, da? jeder Unternehmer ihn gern f?r sich arbeiten lie?. In seinen Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberf?rster erworben hatte Darum machte es ihm gro?e Freude, da? sich unter der oben erw?hnten Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante B?cher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibesch?ftigungen von gro?em Nutzen war. Ich denke da besonders an einen gro?en, starken Folioband, der gegen tausend Seiten z?hlte und folgenden Titel hatte:

Kr?utterbuch

De? hochgelehrten vnnd weltber?hmten Herrn Dr. Petri Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen sch?nen newen Figuren / auch n?tzlichen Artzeneyen / vnnd andern guten St?cken / zum dritten Mal auss sondern Flei? gemehret vnnd verferdigt /

Durch

Joachimum Camerarium,

der l?blichen Reichsstatt N?rnberg Medicum, Doct.

Sampt dreien wohlgeordneten n?tzlichen Registern der Kr?utter lateinische und deutsche Namen / vund dann die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brenn?fen.

Mit besonderem R?m. Kais. Majest. Priviligio,

in keinerley Format nachzudrucken.

Gedruckt zu Franckfurt am Mayn

M. D. C.

~ ~ ~

Es verstand sich ganz von selbst, da? Vater dieses Buch sofort hernahm und flei?ig durchstudierte. Es enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der Pflanzen oft auch franz?sisch, englisch, russisch, b?hmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was sp?ter besonders mir ganz au?erordentlich vorw?rts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses k?stlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel mehr zu dem, was er bereits wu?te. Nicht nur die Kenntnis der Gew?chse an sich, sondern auch ihrer ern?hrenden und technischen Eigenschaften und ihrer Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen gepr?ft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche sagten, wie diese Pr?fungen ausgefallen waren. Dieses Buch wurde mir sp?ter eine Quelle der reinsten, n?tzlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, da? Vater mich dabei vortrefflich unterst?tzte.

Ein anderes dieser B?cher war eine Sammlung biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das Kr?uterbuch, noch heut. Es enth?lt sehr viele und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. Darum wei? ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk stammt. Es war Gro?mutters Hilfsbuch, wenn sie uns die biblischen Geschichten erz?hlte. Jede dieser Erz?hlungen war f?r uns ein Hochgenu?, und damit komme ich auf den gr??ten Vorzug, den Gro?mutter f?r uns Kinder hatte, n?mlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu erz?hlen.

Gro?mutter erz?hlte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuh?rten, so hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, da? sie das, was sie erz?hlte, ganz nur f?r ihn allein erz?hlte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen M?rchenwelt berichten, stets ergab sich am Schlu? der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, der Sieg des Guten ?ber das B?se und die Mahnung, da? Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im h?heren Leben liege. Ich bin ?berzeugt, da? sie das nicht bewu?t und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. Gro?mutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine M?rchenerz?hlerin, die aus der F?lle dessen, was sie erz?hlte, Gestalten schuf, die nicht nur im M?rchen, sondern auch in Wahrheit lebten.

In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das M?rchen von Sitara, sondern das M?rchen »von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele« auf. Sie tat mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. F?r mich enthielt diese Erz?hlung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen eingehend besch?ftigt hatte, erkannte ich, da? die Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und da? alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns diese Kenntnis zur?ckzubringen. Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm Gro?mutter mich auf ihren Scho?, k??te mich auf die Stirn und sagte: »Sei still, mein Junge! Gr?me dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!« »Wo?« fragte ich. »Hier, bei mir«, antwortete sie. »Du bist diese Seele, du!« »Aber ich bin doch nicht verloren,« warf ich ein. »Nat?rlich bist du verloren. Man hat dich herabgeworfen in das ?rmste, schmutzigste Ardistan. Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen.« – Ich begriff das damals nicht; ich verstand es erst sp?ter, viel, viel sp?ter. Eigentlich war in dieser meiner fr?hen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es gab f?r mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch Ortsver?nderungen. Ich konnte die Personen und Gegenst?nde wohl f?hlen, h?ren, auch riechen; aber das gen?gte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wu?te ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, h?rte ich nicht seinen K?rper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeu?eres, sondern sein Inneres trat mir n?her. Es gab f?r mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der Schl?ssel zu meinen B?chern. Das ist die Erkl?rung zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegr?ndete und so m?chtige Innenwelt besa?, da? sie selbst dann, als er sehend wurde, f?r lebenslang seine ganze Au?enwelt beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die F?higkeit, mich zu kritisieren, sonst keiner!

Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei Gro?mutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverst?ndlich ?hnlich. Was sie mir erz?hlte, das erz?hlte ich ihr wieder und f?gte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich erz?hlte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erz?hlte in Gro?mutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang altklug und ?berzeugte. Es verlieh mir den Nimbus eines ?ber sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuh?ren, und ich w?re vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben worden, wenn Gro?mutter nicht so sehr bescheiden, wahr und klug gewesen w?re, da, wo ich in Gefahr stand, einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu gr?beln als andere Kinder. Da kann es leicht kl?ger erscheinen, als es ist. Leider besa? Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der Gro?mutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit der Mutter. Er sprach sehr gern und ?bertrieb, wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, da? ich dem Schicksal, dem ich hier entging, sp?ter doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu werden.

Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen sp?teren Grundz?gen festgelegt, da? selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen ?ffnete, nicht die Macht besa?, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. Ich blieb ein Kind f?r alle Zeit, ein um so gr??eres Kind, je gr??er ich wurde, und zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besa? und noch heute besitzt, da? keine R?cksicht auf die Au?enwelt und auf das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich f?r seelisch richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung gemacht, da? es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus ?u?erlichen Gr?nden, sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. Die gr??ten und sch?nsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus geboren. Und w?re der Geist eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem gro?en, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. Und gr?nden wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-, Sch?ler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir B?cher w?hlen, deren Bed?rfnis nur in unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum wei? ich, da? man dem Volke und der Jugend keine Tugendmusterb?cher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit, will Natur. Er ha?t die sittlichen Haubenst?cke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralit?t angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so ?beraus k?stlich einwandfrei handeln, da? man sie unbedingt ?berdr?ssig wird, sondern seine gr??te Kunst besteht darin, da? er von seinen Figuren getrost die Fehler und Dummheiten machen l??t, vor denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er l??t seine Romanfiguren zugrunde gehen, als da? der ergrimmte Knabe hingeht, um das B?se, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach geschehen mu?te, nun seinerseits aus dem Buche in das Leben zu ?bertragen. Hier liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie sto?en ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.

Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich die ?lteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum Geschichtenerz?hlen. Das war eine h?chst exklusive Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so machte man keinen »Summs«; der wurde fortgepr?gelt und kehrte gewi? nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst f?nf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch niemals dagewesen! Das hatte ich der Gro?mutter und ihren Erz?hlungen zu verdanken! Zun?chst verhielt ich mich still und machte den Zuh?rer, bis ich alle Erz?hlungen kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht ?bel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann aber, als das vor?ber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes M?rchen, eine andere Geschichte, eine andere Erz?hlung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar mit Vergn?gen. Gro?mutter arbeitete mit. Was ich in der D?mmerstunde zu erz?hlen hatte, das arbeiteten wir am fr?hen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe a?en, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser sch?nes Buch »Der Hakawati« gab Stoff f?r lange Zeit. Hierzu kam, da? dieser Stoff sich mit der Zeit ganz au?erordentlich vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die sehr einfache und sehr nat?rliche Folge davon, da? ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der Farben, Formen, K?rper und Fl?chen zu ?bersetzen hatte. Dadurch entstanden unz?hlige Variationen und Vervielf?ltigungen, die ich nur dadurch, da? ich sie erz?hlte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte.

Inzwischen hatte Vater es erreicht, da? ich in die Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern erf?llte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater w?chentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und schreiben, denn Vater und Gro?mutter halfen dabei, und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich n?mlich an mir erf?llen, was sich an ihm nicht erf?llt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere Verh?ltnisse tun d?rfen. Und er mu?te immer daran denken, da? es unter unsern Vorfahren bedeutende M?nner gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen mu?ten, da? wir ihrer nicht w?rdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber von den Verh?ltnissen gewaltsam niedergehalten worden. Das kr?nkte und das ?rgerte ihn. F?r sich hatte er mit diesen Verh?ltnissen abgeschlossen. Er mu?te bleiben, was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er ?bertrug seine W?nsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles M?gliche zu tun und nichts zu vers?umen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt gewesen war. Das kann man gewi? nur l?blich von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was f?r mich gut und gl?cklich war. Das konnte er nur mit guten und gl?cklichen Mitteln erreichen. Leider aber mu? ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, da? meine »Kindheit« jetzt, mit dem f?nften Jahre, zu Ende war. Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen ?ffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende peinigt. – — —

III. Keine Jugend

Du liebe, sch?ne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft mich ?ber dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich ?berhaupt keinen Platz in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und W?rme. Aber Liebe mu? sein, selbst im aller?rmsten Leben, und wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der immer nur Empfangende!

Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich ?ber mich befindet, gleich von vornherein aufzukl?ren. Man h?lt mich n?mlich f?r sehr reich, sogar f?r einen Million?r; das bin ich aber nicht. Ich hatte bisher nur mein »gutes Auskommen,« weiter nichts. Selbst hiermit wird es h?chst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich m?ssen endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, da? ich genau so sterben werde, wie ich geboren bin, n?mlich als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein ?u?erlich. Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts ?ndern.

Die L?ge, da? ich Million?r sei, da? mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wu?te sehr wohl, was er tat, als er seine L?ge in die Zeitungen lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die fr?heren Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von Millionen w?hnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner Kritiker spielt diese Geldgeh?ssigkeit eine Rolle. Es ber?hrt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem ordin?ren Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital als eisernen Bestand f?r meine Reisen, weiter nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts ?brig. Das reicht grad aus f?r meinen bescheidenen Haushalt und f?r die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu bringen habe. Fr?her konnte ich meinem Herzen Gen?ge tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner B?cher, mildt?tig sein. Das hat nun aufgeh?rt. Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenl?ge jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich abweisen mu?, f?hlt sich entt?uscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, da? jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten zusammengenommen.

Nach dieser Abschweifung, die ich f?r n?tig hielt, nun wieder zur?ck zur »Jugend« dieses angeblichen »Million?rs«, der nach ganz anderen Sch?tzen strebt als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.

Es waren damals schlimme Zeiten, zumal f?r die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenw?rtigen Wohlstande ist es fast unm?glich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mi?wuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erkl?ren Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft geh?rt. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt »Zur Stadt Glauchau«, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der »roten M?hle« und lie?en uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittel?hnliches daraus zu machen. Wir pfl?ckten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Z?unen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu f?llen. Die Bl?tter der Melde f?hlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fett?uglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Gl?cklicherweise gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch einige wenige Strumpfwirker, deren Gesch?ft nicht ganz zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so au?erordentlich billige wei?e Handschuhe, die man den Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, solche Leichenhandschuhe zum N?hen zu bekommen. Da sa?en wir nun alle, der Vater ausgenommen, von fr?h bis abends sp?t und stichelten darauf los. Mutter n?hte die Daumen, denn das war schwer, Gro?mutter die L?ngen mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die Mittelfinger. Wenn wir recht sehr flei?ig waren, hatten wir alle zusammen am Schlu? der Woche elf oder sogar auch zw?lf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Daf?r gab es f?r f?nf Pfennig Runkelr?bensyrup, auf f?nf Dreierbr?tchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung f?r die verflossene und Anregung f?r die kommende Woche.

W?hrend wir in dieser Weise flei?ig daheim arbeiteten, hatte Vater ebenso flei?ig ausw?rts zu tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als n?hrend. Es galt n?mlich, den K?nig Friedrich August und die ganze s?chsische Regierung vor dem Untergange zu retten. Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der K?nig sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zur?ck, und zwar aus den vortrefflichsten Gr?nden; es war n?mlich zu gef?hrlich! Die lautesten Schreier hatten sich zusammengetan und einen B?ckerladen gest?rmt. Da kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie f?hlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und M?rtyrer gro? und m?chtig, aber ihre Frauen wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie str?ubten sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie baten. Ruhige, vern?nftige M?nner gesellten sich zu ihnen. Der alte, ehrw?rdige Pastor Schmidt hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen Folgen der Emp?rung; der Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am gro?en Kirchentor erz?hlten sich die Jungens in der Abendd?mmerung nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches derart beschrieben wurde, da? Jedermann, der es h?rte, sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, da? die Stimmung sich ganz gr?ndlich ?nderte. Von der Absetzung des K?nigs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu besch?tzen. Man hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten geschehe, und da all?berall vom Kampf und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, da? auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische Gew?nder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mu?te Handschuhe n?hen. Aber die anderen Buben und M?dels standen ?berall an den Ecken und Winkeln herum, erz?hlten einander, was sie daheim bei den Eltern geh?rt hatten, und hielten h?chst wichtige Beratungen ?ber die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. Besonders ?ber eine alte, b?se Frau war man emp?rt. Die war an Allem schuld. Sie hie? die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in die St?dte, um die H?user niederzurei?en und die Scheunen anzubrennen; so eine Bestie! Gl?cklicherweise waren unsere V?ter lauter Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand f?rchtete, auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschlo? die allgemeine Bewaffnung f?r K?nig und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Sch?tzen- und eine Gardekompagnie. Die erstere scho? nach einem h?lzernen Vogel, die letzere [sic] nach einer h?lzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere gegr?ndet werden, besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, da? es in unserem St?dtchen eine ganz ungew?hnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte keinen von ihnen missen. Man z?hlte sie. Es waren dreiunddrei?ig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich glatt aus, n?mlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den Sch?tzen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa elf, und alle dreiunddrei?ig Offiziere waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgef?hrt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverst?ndlich nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister L?ser, der beim Milit?r gestanden und darum alle dreiunddrei?ig Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute k?nnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es bei dem, was beschlossen worden war.

Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam einen S?bel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach h?herem. Darum beschlo? er, sobald er ausexerziert war, sich ganz heimlich, ohne da? irgend Jemand etwas davon bemerkte, im »h?heren Kommando« einzu?ben. Und da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen vom Handschuhn?hen dispensiert und wanderte mit ihm tagt?glich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von B?schen und B?umen umgebenen Wiese unsere geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die s?chsische Armee. Ich wurde erst als »Zug«, dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. Ich mu?te bald reiten, bald laufen, bald vor und bald zur?ck, bald nach rechts und bald nach links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem j?hen Temperamente meines Generals wohl denken, da? es mir nicht m?glich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollz?hligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der milit?rischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine s?chsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch lie? der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: »Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour werden!« Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese P?ffe, St??e, Hiebe und Katzenk?pfe nur zum Wohle und zur Rettung des K?nigs von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben! Wenn er das w??te!